Kitabı oku: «Rauhnacht», sayfa 6
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„Sie weihen die Palisade ein“, bemerkte Gregor, während er in einem der Bücher aus dem Antiquariat blätterte. Es trug den Titel Madame Abonde. Er legte das aufgeschlagene Buch auf den Tisch, sodass Titus und Theresa ebenfalls einen Blick auf dessen Inhalt werfen konnten.
Die aufgeschlagene Seite zeigte einen Kupferstich aus dem frühen 17. Jahrhundert. Darauf hatte der unbekannte Künstler eine ähnliche Palisade dargestellt wie diejenige, welche die Bewohner Tiefenfalls errichtet hatten. Ein Pfarrer stand davor und hielt ein Kreuz in die Höhe, während die übrigen Gläubigen sich andächtig davor niederknieten.
Der Wind hatte inzwischen an Stärke zugenommen. Sein Heulen untermalte ihr Gespräch, das sie im Esszimmer führten, während das Feuer im Kamin vor sich hinflackerte. Nach dem unangenehmen Zwischenfall mit den Bewohnern des Ortes war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als in Lisas Haus zurückzukehren. Noch immer zitterten Titus’ Knie. Lisa hatte dieses Mal Schweinemedaillons in Pfifferlingsauce gekocht. Dazu gab es einen Salat und Kartoffeln. So hervorragend die Speisen auch waren, Titus hatte kaum Appetit. Völlig anders verhielten sich Gregor und Theresa. Beide hatten die Mahlzeit gierig hinuntergeschlungen. Nun tranken sie Kaffee und untersuchten ihre literarische Ausbeute.
„Walter Dorn segnet das Bauwerk“, wiederholte Gregor und zog das Buch wieder zu sich. „Erst durch die Weihe erhält die Palisade ihre angebliche Schutzwirkung.“
„Aus welchem Grund dürfen eigentlich keine Frauen anwesend sein?“ Titus kam sich mit seinem Buch über das Wesen der Untoten irgendwie albern vor. Es machte den Eindruck, als wollte er Gregor und Theresa in ihrem wissenschaftlichen Eifer nachäffen.
„In traditionellen Kulturen werden Frauen und Fremde von den religiösen Ritualen ferngehalten. Frauen gelten in einfachen Kulturen schlichtweg als unrein. Ähnliches gilt für Fremde. Halten sie sich nicht an die Regeln, so droht ihnen im schlimmsten Fall der Tod. Wenn sie Glück haben, werden sie lediglich aus ihrem Stamm ausgestoßen.“
„Die Bewohner repräsentieren also einen primitiven Stamm?“
„Du verstehst es nicht“, antwortete Gregor. „Es geht hier um das Wörtchen traditionell. Die Tradition in Tiefenfall ist noch immer sehr stark verwurzelt. Mehr als ich vermutet habe. Es muss sich um einen Kult handeln, der fast unverändert aus tiefster Vergangenheit bis in unsere Zeit überlebt hat.“
„Wieso nur hier?“ Titus betrachtete Gregor mit einiger Skepsis. Eine starke Windböe brachte die Fenster zum Knacken.
Theresa legte eines der Bücher zur Seite. Bevor sie nach dem nächsten Griff, erläuterte sie: „Weil es sich hier um eine beinahe völlig von der Außenwelt abgekapselte Gemeinschaft handelt. Sie haben es ja selbst mehrmals gehört. Fremde besuchen diesen Ort so gut wie gar nicht. Es gibt demnach auch keinen kulturellen Austausch zwischen Tiefenfall und den benachbarten Dörfern. In einer solchen Gemeinschaft können alte Traditionen am besten überleben.“
„Und was ist mit Fernsehen? Radio? Zeitung? Was ist mit Internet? Üben diese etwa keinen Einfluss auf das Leben dieser Leute aus?“
Gregor nickte. „Natürlich tun sie das. Aber nur oberflächlich. Die eigentliche Tradition bleibt erhalten. Schon mal etwas von Glokalisierung gehört?“
„Nicht mal in meinen Träumen.“
„Man kann darunter zwei Dinge verstehen. Zum einen, dass fremde Produkte wie Kleidung, Autos oder von mir aus Cola durch bestimmte Werbestrategien auf die jeweilige Kultur, in der das Produkt vertrieben werden soll, zugeschnitten werden. Es wird den Leuten gesagt, wenn ihr das kauft, dann seid ihr nicht anders, sondern einfach nur cooler. Es scheint zu klappen. Immerhin trinken Leute in den hintersten Winkeln unserer Welt deutsches Bier und Coca Cola.“
„Und was versteht man unter der anderen Sache?“
Theresa blickte kurz auf. „Dass aufgrund zunehmender Globalisierung Traditionen stärkere Bedeutung erhalten. Es kommt zu einer Rückkopplung. Alte Bräuche werden wieder entdeckt und wieder belebt. Der Grund dafür ist ganz einfach. Die Traditionen sollen Identität stiften, die durch die Globalisierung verloren geht.“
Gregor übernahm wieder das Wort. „Aber völlig egal, aus welcher Perspektive du das Ganze betrachtest, es kommt stets auf dasselbe hinaus. Die Tradition bleibt erhalten. Aus dem Grund haben wir hier in Tiefenfall noch immer ein Brauchtum, das genauso faszinierend wie seltsam ist. Von einfachen Dörfern kannte ich bisher nur das Verhalten der Leute in der Kirche. Männer und Frauen sitzen getrennt. Aber dass Frauen an Bräuchen nicht teilnehmen dürfen, ist mir bei meinen Beobachtungen bisher noch nicht untergekommen.“
„Und egal, welche Perspektive man einnimmt“, fügte Titus hinzu, „wenn etwas schief geht, werden wir dafür verantwortlich gemacht.“
„Das erschwert unsere Position etwas“, gab Gregor zu.
„Etwas?“, rief Titus erstaunt. „Ich würde sogar sagen, ziemlich. Sehr. Vollkommen!“
Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon.
„Sie sollten sich nicht so sehr über das Verhalten der Bewohner aufregen“, bemerkte Theresa.
„Ach! Soll ich nicht? Die beiden Blondschöpfe hätten mich beinahe gelyncht!“
Theresa und Gregor schwiegen. Betreten betrachteten sie die Tischdecke und die darauf gestapelten Bücher.
Ein Lachen ertönte. Mit wem telefonierte Lisa? Titus spürte ein klein wenig Eifersucht in sich aufkommen. Idiotisch. Sie konnte reden mit wem sie wollte. Ihre Stimme wurde lauter. Die Tür zur Diele ging auf und Lisa trat ein. In ihrer rechten Hand hielt sie ein schnurloses Telefon. Sie ging damit direkt auf Titus zu und reichte es ihm. „Für Sie.“
Titus hob wie in Trance seinen Arm. „Für mich? Niemand weiß, dass ich hier bin.“
„Pfarrer Dorn“, antwortete sie.
Er nahm den Anruf entgegen. „Hallo?“
„Herr Hardt?“
„Niemand anderer.“
Gregor deutete mit einer Geste an, dass Titus die Lautsprechertaste drücken solle. Lisa blieb noch einen Moment unschlüssig vor Titus stehen. Dann wandte sie sich um und verschwand in der Küche.
Titus schaltete um auf Freisprechen.
„Es tut mir Leid, was vorhin geschehen ist, Herr Hardt.“ Dorns Stimme hallte blechern durch den Raum.
„Wollen Sie, dass ich Ihre Entschuldigung annehme?“
„Ich wollte Ihnen lediglich sagen, dass es mir Leid tut. Ich kann durchaus verstehen …“
„Ach, können Sie das? Uli und Hermann …“
„Uli und Hannes.“
„Die waren drauf und dran, uns umzubringen!“
„Uli und Hannes sind Zwillinge. Sie arbeiten beide auf dem Hof ihres Vaters. Normalerweise sind sie ganz net t…“
„Es ist egal, ob diese Idioten normalerweise nett sind oder völlig bescheuert.“
„Die Lage hat sich, nachdem sie gegangen sind, wieder beruhigt. Niemand trägt Ihnen etwas nach. Sie sollten sich allerdings davor hüten, sich noch einmal in die Angelegenheiten der Bewohner einzumischen.“
„Das ist ja eine ganz tolle Nachricht. Wir töten Sie nicht, aber vielleicht tun wir’s doch.“
Gregor machte ein Zeichen, dass er sprechen wollte. „Pfarrer Dorn? Ich denke, es war alles meine Schuld. Sie wissen, als Forscher überschreitet man manchmal gewisse Grenzen.“
Dorn ließ ein erfreutes Lachen hören. „Herr Kranz. Ja, die Sache war wirklich unschön. Ich hoffe dennoch, dass Sie gesund nachhause gekommen sind.“
„Sind wir, Herr Pfarrer. Was ist übrigens mit einem neuen Termin?“
„Ein neuer Termin? – Ach, du meine Güte! Es tut mir Leid, Herr Kranz. Unser Treffen habe ich völlig vergessen. Die Leute standen heute früh auf einmal vor meiner Tür und wollten, dass ich die Palisade sofort segne. Um es auf den Punkt zu bringen: die Bewohner haben schreckliche Angst. Daher ihre Überreaktion.“
„Keine Sorge, Titus hält so was aus.“
Dieser kippte beinahe von seinem Stuhl. „Na toll. Wirklich ganz toll.“
„Wegen eines neuen Termins“, überlegte Dorn. „Wie wäre es gleich morgen? So gegen elf? Ich hätte genug Zeit, ein paar der Dokumente zu ordnen, die für Sie von Interesse sein könnten.“
„Aber sicher. Morgen elf Uhr passt. – Glauben Sie, es wird etwas geschehen?“
„Etwas geschehen? Letztes Jahr geschah nichts. Bis auf die Kinder, die spurlos verschwanden. Möglicherweise ein Scherz, wie Sie bereits wissen. Kinder sind in dieser Hinsicht äußerst einfallsreich. Grüßen Sie Theresa von mir.“
„Grüsse zurück“, rief Gregors Assistentin.
Dorn gab ein weiteres Lachen von sich. „Na dann, bis morgen früh.“
Die Leitung klickte. Titus drückte auf die Aus-Taste. „Vielleicht hätte ich nicht ganz so grob zu ihm sein sollen.“
„Titus zeigt Reue? So etwas kenne ich an dir noch gar nicht.“
„Liegt wahrscheinlich an Weihnachten. Ich werde mich trotzdem davor hüten, noch einmal irgendetwas mit diesen Dorftrotteln zu tun zu haben. Einmal reicht mir.“
„Sehen Sie es doch einmal aus einer anderen Perspektive“, meinte Theresa. „Vielleicht verhilft Ihnen das ja zu einer neuen Idee.“
Genau diese Aussage hatte Titus gerade am wenigsten gebraucht. Die Worte taten ihm spürbar weh. Genauso gut hätte sie ihm in einer offenen Wunde bohren können. „Ich verzieh mich besser nach oben, bevor hier noch ein Unglück geschieht.“
Er nahm sein Buch und ließ Gregor und Theresa alleine.
13
Titus setzte gerade seinen rechten Fuß auf die unterste Stufe der Treppe, als Lisa aus einem der anderen Räume trat. Sie hatte sich eine weiße Winterjacke angezogen. Ihre Füße steckten in kniehohen Lederstiefeln.
Als sie Titus erblickte, blieb sie ruckartig stehen.
„Habe ich Sie erschreckt?“
Lisa richtete den Kragen ihrer Jacke. „Ein wenig. Ich dachte, Sie befänden sich alle noch im Esszimmer.“
„Eine kleine Meinungsverschiedenheit“, erläuterte Titus. „Wohin gehen Sie?“
„Auf den Friedhof. Ich möchte mich um das Grab meiner Eltern kümmern.“
„Was dagegen, wenn ich Sie begleite?“ Eine unverkennbare Nervosität breitete sich in ihm aus. Hatte er etwa Angst vor einer Abfuhr?
Lisa trat an die Tür. „Wenn Sie wollen.“ Die Gleichgültigkeit, mit der sie seine Frage beantwortete, unterstrich die Distanz, die zwischen ihnen lag. Er kam sich auf einmal ziemlich blöd vor.
Sie blieb vor der geöffneten Tür stehen. „Was ist? Wollen Sie nun mitkommen?“
Statt eine Antwort darauf zu geben, legte Titus sein Buch auf die Kommode neben der Tür, nahm seinen Mantel aus der Garderobe und folgte ihr.
Bevor er nach Tiefenfall gekommen war, hatte es Titus nie für möglich gehalten, dass man Stille hören konnte. Man konnte es. Ein unbeschreibliches Nichts umgab sie, dessen Vorhandensein sich durch das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen noch verstärkte. Nicht einmal das entfernte Rauschen einer vorbeiführenden Straße war zu hören. Selbst der Wind, der seine Haut wie mit Rasierklingen bearbeitete, verkam hier draußen zu einem verlorenen Wispern. Über den Himmel zogen einzelne, graue Wolken. Er schaute hinüber zu dem düsteren Wald. Hin und wieder huschten Schneewehen über die einsame Landschaft. Wäre Tiefenfall nicht ein solch unangenehmer Ort gewesen, hätte er die Umgebung durchaus als schön empfunden. Etwas düster, aber schön.
Lisa öffnete das Tor.
Die windschiefe Kapelle lauerte am gegenüberliegenden Ende wie eine bösartige Spinne. Titus bekam eine Gänsehaut. „Da drinnen ist es passiert.“
Lisa schaute ihn an, als wäre sie in Gedanken ganz woanders gewesen.
„Der Mann.“
Ihre Gesichtszüge verfinsterten sich. „Ich will nicht mehr darüber sprechen.“
„Ich möchte wenigstens sehen, ob sich irgendetwas darin verändert hat.“
Lisa wirkte ungeduldig, schritt aber weiter neben ihm her.
„Kennen Sie Uli und Hannes?“, fragte er unvermittelt.
„Die Zwillinge. Sie sind bekannt dafür, dass sie bei jedem noch so kleinen Dorffest eine Schlägerei anzetteln. Die beiden vertragen keinen Alkohol, trinken ihn aber in rauen Mengen.“
„Und Pfarrer Dorn meinte, sie seien eigentlich nette Menschen.“
Lisa zeigte ein flüchtiges Grinsen. „Walter Dorn versucht, die negativen Aspekte seiner Gemeindemitglieder unter den Teppich zu kehren.“
„Wie gut kennen Sie den Pfarrer eigentlich?“
Lisa betrachtete ihn mit angehobenen Augenbrauen. „Hat er etwas über mich erzählt?“
„Dass Sie den Kuchen für die Feiern backen.“
Sie lächelte. „Anscheinend schmeckt es ihm wirklich. Sonst hätte er es wohl kaum erwähnt. Er kommt manchmal auf Besuch.“
Titus hatte sich schon so etwas gedacht. „Wo wohnen Sie eigentlich, wenn Sie nicht in dem Haus wohnen?“
Sie erreichten die letzte Grabreihe vor der Kapelle. „An einem anderen Ort“, lautete ihre rätselhafte Antwort. „Allerdings werde ich die nächsten Tage wieder in dem Haus leben.“
„Tatsächlich? Und wieso?“
Lisa betrachtete die Kapelle. „Während der Rauhnächte wohne ich immer in dem Haus.“
„Aus Angst vor der Wilden Jagd?“
Lisa schaute direkt in seine Augen, als suchte sie darin nach einem Grund für seine unüberhörbare Ironie. „Halten Sie das immer noch für Unfug?“
Titus hatte Lisa keineswegs reizen wollen, aber das Thema schien eindeutig nicht dafür geschaffen zu sein, um rein objektiv darüber zu sprechen. „Bisher weiß ich nur, dass die Bewohner einen recht ungewöhnlichen Brauch praktizieren. Und dass Frauen und Fremde nicht bei ihren Riten anwesend sein dürfen. Ich weiß außerdem …“ Die Tür der Kapelle knarrte. „Wenn das wieder dieser Mann ist, dann …“ Er näherte sich dem Eingang. Die Tür, die nur angelehnt war, schlug mit einem lauten Knall vor seiner Nase zu.
„Da erlaubt sich wohl wieder jemand einen Spaß“, meinte Titus. Er griff nach der Klinke. Er verspürte einen leichten Widerstand, als er die Tür aufdrückte. Doch das Innere der Kapelle war leer. Er trat ein, stets darauf bedacht, erneut von jemandem angefallen zu werden. Nichts dergleichen geschah. „Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, auf welcher der Holzbänke ich wieder zu mir gekommen bin.“
Lisa schaute sich in der Kapelle um. In ihren Augen spiegelte sich ein klein wenig Furcht. „In den Rauhnächten ist es verboten, nachts Kirchen aufzusuchen. Haben Sie noch nie etwas von Geistermessen gehört?“
„Das gestern war keine Geistermesse. Der Schlag auf meinen Kopf hat sich durchaus diesseitig angefühlt. Außerdem war gestern keine Rauhnacht.“
„Manchmal gibt es gewisse Vorzeichen. Geistererscheinungen, seltsame Phänomene.“
„Der Mann gestern war blind. Hätte er nicht Ihren Namen genannt, hätte ich ihn wahrscheinlich für einen armseligen Landstreicher gehalten, der sich hierher verirrt hat. Oder für einen Alzheimer-Kandidaten aus Ihrem Dorf. Aber so bleibt es mir ein Rätsel.“ Lisa reagierte nicht auf seine Andeutungen. „Was den Schläger anbelangt, dieser dürfte inzwischen überführt sein. Gregors wissenschaftlicher Gegner, ein gewisser Edgar Mohn. Er …“ Titus hielt augenblicklich inne. Er betrachtete Lisa, die ihren Blick weiterhin durch den steinernen Raum gleiten ließ. „Da fällt mir etwas ein. Was haben Sie heute früh mit mir gemacht? Sie haben meinen Kopf berührt. Seitdem sind meine Schmerzen wie vom Winde verweht.“
„Nichts Besonderes. Die Hauptsache ist, dass es Ihnen besser geht. Und wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mich jetzt um das Grab meiner Eltern kümmern.“ Sie machte kehrt und verließ die Kapelle.
Titus schloss die Tür hinter sich. Er wollte nicht noch einmal von einem plötzlichen Knarren aus dem Konzept gebracht werden.
Lisa wischte mit ihren Händen den Schnee von einem der Grabsteine ab. „Nach ihrem Tod lebte ich bei einer Freundin meiner Mutter. Sie hatte keine Kinder und zog mich auf als sei ich ihre eigene Tochter. Sie starb kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag.“
Titus erwiderte nichts darauf. Er stand vor dem Grab und beobachtete sie bei ihrer Tätigkeit. Ihre Bewegungen hatten etwas Besonderes an sich. Sie vereinten eine ominöse Vorsicht mit einer unnachgiebigen Zielstrebigkeit. Ein eigenartiges Paradoxon, das Titus in seinen Bann zog.
Lisa rieb sich den Schnee von den Händen. „Ich sage das nur, weil ich annehme, dass Sie mehr über mich wissen wollen. Deswegen sind Sie doch mitgekommen.“
Ihre plötzliche Direktheit brachte Titus in Verlegenheit. Um diese vor Lisa zu verbergen, kniete er sich hin. Er wollte ihr helfen, indem er den Schnee auf der Grabplatte weg schob.
„Halt! Das mache ich.“ Mit einer entschiedenen Geste forderte sie ihn auf, Platz zu machen. „Ich möchte nicht, dass das jemand anderer erledigt.“
Titus blieb nichts anderes übrig als aufzustehen und einen Schritt zurückzuweichen. Von einem Baum fiel eine Ladung Schnee herab. „Was genau sind eigentlich Lamien?“
Lisa zog erschrocken die Luft ein. „Wie kommen Sie darauf?“
„Es geht das Gerücht um, dass Sie einen Angriff von Lamien überlebt hätten.“
Lisa stand auf. In ihren Augen spiegelten sich Tränen. „Was wollen Sie von mir eigentlich wissen?“
„Ich wollte nicht …“
„Was Lamien sind? Sie haben meine Eltern und meinen Bruder getötet. Es sind Hexen, die sich vom Fleisch kleiner Kinder ernähren.“ Mit zitterndem Finger zeigte sie auf den Grabstein. „Weihnachten 1981. Damals drangen diese Kreaturen in unser Kinderzimmer ein. Bereits als ich ihre unheimlichen Schatten vor dem Fenster gesehen habe, bin ich unter das Bett gekrochen. Ich habe nicht an meinen Bruder gedacht. Ich hatte solche Angst, dass ich mich nur um mich selbst kümmerte. Kurz darauf sprangen die Lamien durch die Scheibe. Thomas wachte schreiend auf. Aber es war für ihn bereits zu spät. Sie rissen ihm den Hals auf. Sie schlugen meine Mutter. Mein Vater feuerte Silberkugeln auf diese widerlichen Kreaturen. Ein paar gingen dabei drauf. Aber es kamen immer welche nach. Als mein Vater keine Munition mehr hatte, warfen sie sich auch auf ihn. Bis zum Schluss schrie er meinen Namen.“ Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich überlebte als einzige. Die Lamien ließen mich in Ruhe. Ich habe keine Ahnung, aus welchem Grund. Auf jeden Fall schürte das die Gerüchte über mich. Die Leute im Dorf hassen mich deswegen. Sie verachten mich. Am liebsten würden sie mich wie eine Hexe verbrennen. Der einzige, der auf meiner Seite steht, ist Walter Dorn. Er kann mit meiner Geschichte nichts anfangen. Er glaubt nicht ans Übernatürliche. Er ist erst seit etwas mehr als einem Jahr in Tiefenfall. Einen Angriff hat er daher noch nicht miterlebt.“
„Aber er hält sich an die Regeln“, wandte Titus ein.
„Er muss es tun. Jeder, der hier lebt, muss sich an die Regeln halten.“ Sie stieß ihm unerwartet gegen die Schulter, sodass er einen Fuß zurückverlagern musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen Tiefenfall schnell wieder verlassen. Wieso sind Sie noch hier?“
„Es gibt diese Kreaturen also wirklich?“ Titus starrte in ihr mit Trauer und Wut verzerrtes Gesicht. „All das ist wirklich wahr?“
„Sie müssen auf jeden Fall nachts im Haus bleiben“, erwiderte Lisa etwas ruhiger. „Es schützt Sie nicht vollkommen. Aber es ist sicherer.“
„Die sieben silbernen Schlösser an der Tür?“
„Es gibt noch mehr Maßnahmen.“
„Es könnte also zu einer Heimsuchung kommen?“
„Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie diesen Mann wirklich gesehen haben, dann dürfte uns diesmal etwas überaus Schlimmes bevorstehen.“
14
Er hatte das Portal abgeschlossen, so wie es in den Regeln stand. Eigentlich fand Walter Dorn das nicht einmal ungewöhnlich. In vielen Gemeinden wurden Kirchen nicht nur nachts geschlossen. Manche öffneten sogar nur zu den Gottesdienstzeiten. Ein zunehmender Vandalismus hatte zu diesen Maßnahmen geführt.
In Tiefenfall gab es jedoch einen völlig anderen Grund. Dorn sollte damit die Bewohner davor schützen, ungewollt einer Geistermesse beizuwohnen. Dass ein solcher Aspekt in einem uralten Regelbuch stand, hatte Dorn bereits letzte Weihnachten nicht verwundert. Dass die Bewohner von Tiefenfall aber noch immer daran glaubten, hatte ihn beinahe schockiert. Walter Dorn war zu sehr Rationalist, um an übersinnlichen Hokuspokus zu glauben. Die Dämonen in der Bibel waren nichts anderes als frühe Beschreinungen von Hysterie und Schizophrenie. Er hatte sogar einmal einen Artikel über diese Thematik verfasst, den er an das Vatican Magazin gesandt hatte. Ein Monat später war sein Artikel darin sogar erschienen. Er hatte damals heftige Reaktionen befürchtet, da er die im Neuen Testament beschriebenen Heimsuchungen psychologisch erklärte. Aber nicht einmal ein einziger Leserbrief hatte ihn erreicht.
Walter Dorn ging durch das Kirchenschiff in den Chorraum und betrachtete den Weihnachtsbaum. Er stand etwas schief. Aber das würde er am nächsten Morgen zusammen mit Herbert noch in Ordnung bringen. Für einen Moment lauschte er in die Stille der Kirche. Der Wind heulte um das Gebäude und drückte in Böen gegen das Portal.
Auch wenn Reaktionen zu seinem Artikel ausgeblieben waren, so hatte dieser dennoch dazu geführt, dass Walter Dorn das Amt als Pfarrer in Tiefenfall übernommen hatte. Im Sommer des vorangegangenen Jahres hatte er plötzlich einen Brief mit dem Siegel des Bistums München in seinem Briefkasten gefunden. Der Inhalt hatte ihn nicht weniger verwundert. Ein gewisser Pater Domenicus bat ihn darin, bei der Klärung „gewisser ominöser Zwischenfälle“ zu helfen. Domenicus sprach Dorns Artikel an, den er seinerzeit mit großem Interesse gelesen habe.
Er fuhr fort: „Nun, mit etwas Ähnlichem haben wir in einem kleinen Ort mitten in den Alpen zu tun. Von dort erreichen uns seit einiger Zeit seltsame Berichte unseres Mitbruders Clemens Strobel. Es soll dort Heimsuchungen geben. Um es auf den Punkt zu bringen: Strobel ist außer sich. Er übernahm das Amt im Jahr 1982, kurz nachdem sein Vorgänger Hans Lindner spurlos verschwunden war. Bis heute wissen wir nicht, was aus Lindner geworden ist. Mysteriöser wird die ganze Angelegenheit dadurch, da Strobel nun ebenfalls vermisst wird. Er berichtete uns von eigenartigen Bräuchen, unheimlichen Gestalten und vielen anderen sonderbaren Dingen. Seine Berichte wurden von Jahr zu Jahr verworrener.
Es könnte sein, dass Strobl seinen Verstand verloren hat. Da mich Ihr Artikel sehr faszinierte und ich Sie aufgrund Ihres Textes für einen rational denkenden Menschen halte, der zu objektiven Schlussfolgerungen fähig ist, würden wir Sie gerne darum bitten, das Amt des Pfarrers in Tiefenfall zu übernehmen, bis diese Sache geklärt ist. Unabhängig davon, welche Resultate Ihre Nachforschungen ergeben werden, würden wir Ihre Hilfe dementsprechend dadurch honorieren, dass wir Sie auf eine höhere Position versetzen werden.“
Walter Dorn schaltete das Licht in der Kirche aus, trat in die Sakristei und schloss die Tür hinter sich ab. Er durchquerte den rechteckigen Raum, um am gegenüberliegenden Ende in seine daran angrenzende Wohnung zu treten.
Dorn hatte natürlich zugesagt. Was hätte er sonst tun sollen? Nicht nur die angesprochene Belohnung hatte ihn dazu verleitet. Er hatte gehofft, seiner wissenschaftlichen Neigung durch die Untersuchung der Bräuche und unheimlichen Ereignisse nachgehen zu können. Er war kein Mensch, der abgelegene Orte liebte. Aber das würde er auf sich nehmen.
Und nun wohnte er seit beinahe fünfzehn Monaten in diesem Ort. Genauere Studien hatte er bisher noch nicht angestellt. Er hatte als Pfarrer einer solch kleinen Gemeinde zwar nicht sonderlich viel zu tun, aber er hatte schnell gemerkt, dass es schlecht war, sich in die Angelegenheiten der Bewohner einzumischen, die im Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner beiden Vorgänger sowie den genannten mysteriösen Heimsuchungen standen. Seine ersten Befragungen hatten dazu geführt, dass eines Abends Uli und Hannes vor seiner Tür standen.
Sie hatten ihm nicht gerade gedroht, hatten ihm aber deutlich gemacht, dass er sein „Herumgeschnüffel“, wie beide es nannten, lieber bleiben lassen sollte. Uli und Hannes, die beiden Dorfdeppen. Hannes überaus aggressiv und zu allem fähig, Uli geistig zurückgeblieben. Zu allem Übel waren sie die Söhne des Ortsvorstehers. Wenn es etwas zu regeln gab, so schickte er stets seine beiden debilen Zwillinge vor. In Dorns Augen waren sie nichts anderes als hirnlose Schlägertypen, die gerne andere einschüchterten. Es ärgerte ihn, dass er beide vor Titus Hardt als nette Leute bezeichnet hatte. Aber was hätte er sonst tun sollen? Beide hätten wohl oder übel ihre Drohung in die Tat umgesetzt und mit dem Schriftsteller wer weiß was angestellt.
Dorn begab sich in die Küche, um Tee zu kochen. Mit einer vollen Tasse und einem Stück von Lisas erstklassigem Christstollen machte er es sich im Wohnzimmer bequem. Er hatte bereits ein paar Bücher für Kranz’ Recherchen auf den Couchtisch gelegt. Später hatte er vor, nach weiteren Dokumenten zu suchen. Zunächst aber wollte er Lisas Backkunst frönen. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz höher schlug, wenn er an sie dachte. Für ihn zählte Lisa zur einzigen Person in diesem Ort, mit der er sich ungezwungen unterhalten konnte.
Sie hatte ihm viel über Tiefenfall und seine Bräuche erzählt. Aber ihre Unterhaltungen blieben nicht bei diesen oberflächlichen Themen stehen. Wahrscheinlich wusste Lisa inzwischen mehr über ihn als er jemals einem anderen Menschen anvertraut hatte. Er wusste, dass eine Liebe zwischen ihnen keine Chance hatte. Nicht einmal dann, wenn er sein Amt niederlegen würde. Dennoch verspürte er eine gewisse Sehnsucht nach ihr, wenn er sie zwei oder drei Tage nicht gesehen hatte.
Ein heftiger Windstoß drückte gegen das Fenster. Er trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse zurück auf den gläsernen Couchtisch. Gerade als er sich dem Stollen widmen wollte, unterbrach eine unmelodiöse Tonfolge der Kirchenorgel sein Vorhaben.
Dorn stockte, die Gabel auf dem halben Wege zum Mund. Er wirkte plötzlich wie jemand, der unerwartet von einem Hexenschuss geplagt wurde und sich nicht mehr bewegen konnte.
Die Orgel? Hatte er wirklich die Orgel vernommen?
Dorn legte die Gabel mit dem aufgespießten Stollenstück zurück auf den Teller.
Wie konnte das sein? Er hatte den Kircheneingang abgeschlossen. Niemand außer ihm besaß die Schlüssel – ein weiterer Aspekt der Regeln. In der Kapelle hatte sich niemand mehr aufgehalten. Er war alleine in der Kirche gewesen.
Ein weiterer Windstoß.
Diesem folgte eine zweite Folge missratener Töne.
Er hatte sich demnach doch nicht verhört. Spielte ihm jemand einen Streich?
Walter Dorn gehörte nicht zu den Leuten, die leicht Angst bekamen. Er war aber auch nicht gerade das, was man als mutig bezeichnen konnte. Seine dementsprechenden Eigenschaften lagen irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen.
Er nahm die Schlüssel von der Kommode und betrat die Sakristei. Für einen Moment blieb er vor der Tür, die in den Chorraum führte, stehen und lauschte. Keine Stimmen, kein Gekicher.
Er schloss die Tür auf und beugte sich aus dem Türrahmen. Die Lampe über der Orgeltastatur leuchtete. Eigenartig. Er hatte genau darauf geachtet, dass auch wirklich keine einzige Lampe mehr brannte, bevor er seine Wohnung aufgesucht hatte. Die Orgel stand am Rand des Chorraums, der Sakristei genau gegenüber. Hätte das Licht zuvor schon gebrannt, so wäre es ihm aufgefallen.
„Hallo? Ist da jemand?“ Seine Stimme verhallte einsam zwischen den in der Finsternis verborgenen Wänden. Um den Aberglauben nicht zu schüren, beschloss er, das Licht in der Kirche ausgeschaltet zu lassen. Irgendjemand merkte so etwas immer, und danach sprudelten die Gerüchte wie Wasser aus einem überfließenden Kanal.
„Hallo?“, versuchte er es ein zweites Mal. Als sich auch dieses Mal niemand meldete, schritt er am Altar vorbei zur Orgel. Dort suchte er kurz nach dem entsprechenden Schalter und löschte das Licht.
Tiefe Dunkelheit umhüllte ihn.
Er drehte sich um. Der Zugang zur Sakristei stand nur noch einen winzigen Spalt offen. Dieser verdammte Wind. Er tastete sich vor zum Altar, in der Hoffnung, nicht gegen den Weihnachtsbaum zu stoßen.
Hinter sich vernahm er ein Klicken. Das Licht an der Orgel erhellte den Chorraum. Dorn, im Glauben, den Scherzbold zu erwischen, drehte sich sofort um.
Der Sitz war leer.
Also ein Wackelkontakt. Bevor er das Licht ein zweites Mal ausschaltete, ging er zur Sakristei, um die Tür wieder zu öffnen. Er suchte nach etwas, das das selbständige Schließen der Tür verhinderte. Er fand einen alten Kerzenleuchter, von dem der Silberbelag abblätterte, und stellte ihn direkt davor auf den Boden.
Als er ein weiteres Mal zur Tat schreiten wollte, blieb er verdutzt stehen. Das Licht brannte nicht mehr. Er kam sich auf einmal vor wie in einer Slapstickkomödie, in welcher der Held sich vergeblich abmühte, seine Aufgaben zu erledigen. Dorn hatte jedoch keine Lust, sich von diesem Zwischenfall irre machen zu lassen. Wenn das Licht wieder anging, würde er es einfach brennen lassen und morgen den Elektriker holen.
Das Licht blieb aus.
Aus der Tiefe des Kirchenschiffs machte sich ein Schaben bemerkbar. Wie wenn eine der Bänke über den grauen Steinboden gezogen würde. Bereits nach wenigen Sekunden verstummte dieses Geräusch wieder.
Dorn schüttelte den Kopf. Entweder machte sich jemand in der Tat über ihn lustig oder die Geräusche wurden einzig und allein von dem heftiger werdenden Wind ausgelöst. Er warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Kurz nach Mitternacht. Geisterstunde, dachte er nicht ohne Ironie. Sein Tee war bestimmt schon kalt.
Also setzte er zum Rückzug an.
Während er sich der Sakristei näherte, bemerkte er, wie die Tür trotz des davor platzierten Kerzenleuchters zu schwang. Eine langsame Bewegung, ähnlich wie in Zeitlupe. Der Leuchter rutsche über den Boden, bevor er umkippte und zur Seite rollte.
Dorn beeilte sich. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, drückte er sie wieder auf und trat in den dahinter liegenden Raum. Zunächst nahm er den kalten Luftzug kaum wahr. Doch nachdem er den Zugang zur Kirche geschlossen hatte, verspürte er einen eisigen Hauch, der durch die Sakristei wehte.
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