Kitabı oku: «Kämpf um deine Daten»

Yazı tipi:


Max Schrems: Kämpf um deine Daten

Für meine Eltern

INHALT

Einführung

Das haben wir gerade noch gebraucht

Zum Spannungsverhältnis Europa – USA

Zur Großartigkeit der IT-Industrie

Warum Privatsphäre?

Nazis oder Kommunisten?

Information ist Macht

Man könnte paranoid werden

Analysieren, Verknüpfen und »Big Data«

Computer says »No«

Risikoverschiebung

Die Menschenwürde

Bullshit-Bingo!

… aber die Leute stellen ja alles ins Netz!

Ihr habt doch zugestimmt!

Vertrauen im Netz? Naiv!

Du hast doch nichts zu verstecken, oder?

Wir haben alles anonymisiert!

Wir bezahlen doch mit unseren Daten!

Das Diktat der Technologie

Datenschutz schadet Wirtschaft und Innovation!

Wenn nichts mehr hilft, dann kommt der Terror

Bist du nicht für uns, bist du gegen uns!

Andere Taktiken und Phänomene

Vom Zwang zur Einfalt

Salamitaktik

Heimlich, still und leise

Macht es noch komplizierter!

Privatisierung der Überwachung

Massenhafter Rechtsbruch

Verklag mich doch!

Ohnmacht der Behörden

Moderne Schnittstellenproblematik

Zukunftsszenarien

Kapitulation?

Praxistest USA

Was tun?

Neue Instrumente

Privacy by Design

Wettrüsten 2.0

Datenschutz-Guerilla

Bewusstseinsbildung

Schaffung von Alternativen

Aktiver Grundrechtsschutz

Schlusswort

Einführung

1. Das haben wir gerade noch gebraucht

Nicht lange nachdem unser kleiner Kampf gegen Facebook die Titelseiten einiger großer Zeitungen zierte, erhielt ich die erste Anfrage, ein Buch zu schreiben. Eine Reihe von Verlagen und Agenten machte die einfache Rechnung: Fresse von diesem Anti-Facebook-Typen, plus Ghostwriter, plus aktuelles Thema ist gleich: Umsatz.

Mein Enthusiasmus war naturgemäß überschaubar. Ein weiteres Buch zu Facebook oder der Wichtigkeit des Datenschutzes hat die Welt gerade noch gebraucht, dachte ich. Bald war aber klar, dass es zwischen Verherrlichung von Innovationen, diversen fachspezifischen Wachrüttelversuchen und Darstellungen von Weltuntergangsszenarien wenig gut Lesbares für Normalnutzer gibt. Genau hier ist eine große Informationslücke, die es zu füllen gilt.

Nachdem ich 2011 durch ein Auskunftsersuchen bei Facebook einen Datensatz in Form von 1.222 PDF-Seiten bekommen hatte, in dem unter anderem zuvor gelöschte Daten wieder seitenweise auftauchten, gründete ich mit ein paar Freunden in meinem Wohnzimmer »europe-v-facebook.org«. Ich brachte eine Reihe von Anzeigen gegen Facebook in Irland ein, da wir unsere Grundrechte einfach einem Praxistest unterwerfen wollten. Was passiert, wenn sich ein Nutzer mal wirklich auf seine Rechte beruft? Durch das daraus folgende Verfahren wurde ich zu einer Art »Held des Datenschutzes« hochstilisiert, obwohl ich zu Beginn noch verzweifelt versuchte, das Ganze möglichst anonym durchzuziehen. Von einem Tag auf den anderen musste ich dann aber kameratauglich in 2,5 Minuten oder zeitungstauglich in drei Zitaten erklären, was hier eigentlich jeden Tag hinter unserem Rücken los ist und warum wir etwas tun sollten. Die Medien hatten den idealen Protagonisten für ein trockenes, abstraktes, aber doch irgendwie dringendes Thema gefunden.

Dass sich ein normaler Bürger qualifiziert beschwert, etwas tut und nicht nur bei einem Bier oder in einem Online-Forum meckert, war anscheinend zusätzlich außergewöhnlich. Gewürzt mit ein bisschen »David gegen Goliath« stimmte dann auch der Chefredakteur bei der verstaubtesten Zeitung zu, dass der Technik-Journalist drüber schreiben darf. Einladungen zu unzähligen Konferenzen, zur EU nach Brüssel und zu Gesprächen mit vielen Experten folgten. Nach fast drei Jahren voller Interviews, Anhörungen in Ausschüssen und Diskussionen lag ein derart reicher Schatz an Informationen, Geschichten und Lösungsvorschlägen vor mir, dass es Sinn machte, diese zusammenzufassen.

Global gesehen stehen wir noch immer erst am Anfang einer total vernetzten Informationsgesellschaft, die vollkommen neue Werte, Machtgefüge und Probleme mit sich bringt. Genau hier ergeben sich viele der spannenden Fragen, welche unseren Umgang mit den rasanten Veränderungen durch die extrem schnell voranschreitende Digitalisierung bestimmen werden. Dieser Schritt zur Informationsgesellschaft ist in vielen Punkten derart tiefgreifend, dass er ähnlich elementar wie seinerzeit die Industrialisierung, die Globalisierung und ähnliche Entwicklungsschritte ist. Wir nennen es regelmäßig das Informationszeitalter und gewöhnen uns schnell an die fast beiläufigen Veränderungen, die jeden Tag einen kleinen Schritt weiter gehen. Unsere Eltern oder Großeltern sagen immer wieder mal melancholisch, dass das früher alles unvorstellbar gewesen wäre und man damals noch Telegramme bekam. Wir fühlen uns etwas alt, wenn wir uns erinnern, dass unser erster Internetanschluss krächzende Geräusche machte und man pro Minute zahlte. Erinnern Sie sich noch an das »Auto Disconnect«, das man dringend aktivieren sollte, damit das Internet nicht weiterlief und die Telefonrechnung explodierte? Wenn Sie kein ISDN hatten, dann hatten Sie aber ohnehin gute Chancen, dass Ihre Familienmitglieder Sie erinnerten: »Dreh endlich dieses blöde Internet ab – ich will telefonieren!«

Das ist gut 10 bis 15 Jahre her. Wir treten jedoch selten einen Schritt zurück und denken über diese Veränderungen nach, überlegen uns kritisch, was neben all den extrem positiven Veränderungen auch ein Rückschritt oder ein Verlust ist. Wir, die einzelnen Nutzer, sind oft nur Beobachter, werden von einer Welle der Veränderung mitgerissen und lassen uns treiben. Ab und zu wird uns etwas mulmig dabei, aber irgendwie treiben ja alle in diesem Strudel, und was genau passiert, ist sowieso nicht so wirklich nachvollziehbar.

Eine der elementarsten Fragen im Strudel der Digitalisierung wird die Macht über Informationen sein, vor allem die Macht über Ihre privaten Informationen, und damit die Macht über Sie. In diesem Punkt zahlt es sich daher absolut aus, einen Schritt zurückzutreten und sich zu überlegen, wo uns der Strudel hinführt und ob wir dort auch hinwollen.

2. Zum Spannungsverhältnis Europa – USA

Sie werden feststellen, dass ich in diesem Buch regelmäßig einen Blick auf die Situation in den USA werfe oder Vergleiche mit dem »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« ziehe. Das zeichnet übrigens fast alle Bücher im Bereich Informationstechnologie (IT) oder Datenschutz aus. Primär liegt das daran, dass die USA in diesem Bereich einfach weltweit dominierend sind. Genauer gesagt sind es nicht mal die USA als Ganzes, eigentlich ist es ein kleines Stückchen von Kalifornien: Das »Silicon Valley« genannte Konglomerat von kleinen Orten zwischen San Francisco und San Jose. Dort wird am Ufer der Bucht von San Francisco zu einem großen Teil die Zukunft gemacht, die in unseren Geschäften und Wohnungen landet. Fast jeder, der im Bereich IT begabt ist, will dorthin oder spielt zumindest mit dem Gedanken. Ohne dieses Stückchen Land hätten wir vermutlich viele Dinge nicht, die wir heute täglich nutzen und lieben. Es führte daher kein Weg daran vorbei, sich mit den USA und dem Silicon Valley als dominantem Player auseinanderzusetzen.

Ein weiteres interessantes Phänomen: Die USA sind das einzige westliche Industrieland, das keinen umfassenden Schutz der Privatsphäre und persönlicher Daten kennt. Mit ein paar spezifischen Ausnahmen ist dort alles erlaubt, was technisch möglich ist. Auch kulturell und wirtschaftlich ist der »Wilde Westen« hier noch durchaus präsent. Wer stärker ist, gewinnt. Das ist nach wirtschaftsliberaler Lesart der gerechte Lohn. Wer selbst auch mal gewinnen will, muss eben stärker werden. Auch Limitierungen und staatliche Regulierungen der freien Wirtschaft im Interesse des schwächeren Parts haben traditionell einen schweren Stand im »Land of the Free«. Daher finden sich auch viele der Extrembeispiele im Bereich Datenschutz und Privatsphäre in den USA. Das gibt uns jedoch auch die Möglichkeit, statt über abstrakte Horrorszenarien über ein großes Freiluftexperiment mit 317 Millionen Testobjekten zu reden und zu sehen was passiert, wenn wir in dieser Revolution der Technik nicht um unsere Privatsphäre kämpfen.

Ich hatte das Glück, zwei Mal, während meiner Schulzeit und während meines Studiums, in den USA zu leben. Dabei lernte ich zwei Welten kennen: den tief gläubigen und sehr konservativen Süden und das krasse Gegenteil im Silicon Valley. Natürlich prägte das auch meine Gedanken. Die dort gesammelten Erfahrungen dienen für mich auch oft als Referenz, wenn wir über Europa sprechen. Erst wenn man die eigene Welt in Perspektive setzt, kommt man vielen Dingen näher. Man lernt ebenso viel über sich selbst und seine eigene Kultur, wie über die fremde Kultur. Aber natürlich beginnt man, auch die USA von innen zu verstehen. Erst wenn man hier hinter die Kulissen einer anderen Kultur sehen konnte, lassen sich viele Dinge genauer einordnen und benennen.

Auf die Unterschiede zwischen diesen beiden Systemen einzugehen, ist essenziell. Unter der Oberfläche brodeln viele Missverständnisse, andere Konzepte, andere Ansichten und daraus entstehende Spannungsverhältnisse. In Europa nutzen wir das regelmäßig, um uns erhaben zurückzulehnen, die vermeintliche moralische Überlegenheit des alten Kontinents genüsslich zu zelebrieren und in antiamerikanistische Schablonen zu verfallen. Es zeigt sich so viel leichter mit dem Finger auf andere als sich selbst kritisch zu betrachten und etwas zu tun. Der NSA Skandal war bezeichnend: Die Aufregung über die USA wurde zelebriert, aber ähnliche Systeme in der EU verkamen eher zur Randnotiz. Man spielte bewusst oder unbewusst das alte Spiel vom äußeren Feind, anstatt auch vor der eigenen Türe zu kehren.

Weder die kritiklose Verherrlichung von allem, was über den großen Teich kommt, noch die generelle Ablehnung sind aber sinnvoll. Schnödes Pro-/Anti-USA, also reines Schwarz-Weiß, macht zwar gute Schlagzeilen, ändert aber nichts. Wir müssen uns gegenseitig verstehen, kooperieren, andere Ansichten akzeptieren und einen Modus finden, der für beide Seiten gangbar ist, um in einem weltumspannenden Netz, bei weltweit verbreiteter Technologie und bei weltweiten Produkten einen gemeinsamen Nenner zu finden.

3. Zur Großartigkeit der IT-Industrie

Wenn Sie lesen wollten, welche tollen Möglichkeiten uns das Internet und alle möglichen technischen Errungenschaften bieten, hätten Sie vermutlich nicht dieses Buch gekauft, sondern zu den Ergüssen von diversen IT-Koryphäen gegriffen. Oder sie hätten vielleicht die Verkaufszahlen einer der Biographien der Silicon Valley-Prominenz gesteigert, also von jenen Menschenfreunden, die uns gnadenhalber erlauben, ihre Produkte zu kaufen, um dann wie Halbgötter gefeiert zu werden. Trotzdem muss ich zuallererst klarstellen, dass die digitale Revolution ohne Frage unser Leben unglaublich erleichtert und befreit.

Es ist leider ratsam, diese positive Seite als Datenschützer immer erst mal festzuhalten. Personen, die sich mit Datenschutz beschäftigen, dürfen ja nach der Vorstellung vieler nur aus der Schublade jener Spielverderber rauskriechen, die unsere Freude an Innovationen und funkelnden Produkten verderben. Dass Menschen gleichzeitig Spaß an neuen Technologien haben können und trotzdem ihre Bedenken äußern, bringt leider immer noch das Weltbild von vielen durcheinander. Man kann ja, nach dem Glauben mancher, nur für oder gegen etwas sein. Blanke Ablehnung wäre natürlich relativ sinnlos. Es geht daher nie darum, »böse« Technologie zu bekämpfen, sondern tolle Entwicklungen gemeinsam in eine für die Allgemeinheit sinnvolle Richtung zu lenken.

Für mich hat sich also nie die Frage gestellt, ob diese Dinge an sich gut oder böse sind, sondern wie wir sie gestalten. Daher war für mich auch klar, dass ich Facebook, Twitter oder Google weiter nutze, auch wenn das regelmäßig für massive Verwirrung bei Journalisten gesorgt hat. Aber die Situation ist eben etwas zu vielschichtig für eine einfache Schwarz-Weiß-Geschichte.

Natürlich ist es überhaupt keine neue Erkenntnis, dass wir Neuerungen nicht verhindern, sondern lenken sollten. Bei jeder größeren Veränderung mussten wir als Gesellschaft neu festlegen, unter welchen Bedingungen wir Innovationen haben wollten. Nach der Industrialisierung haben wir festgestellt, dass beispielsweise Arbeitnehmerschutz unumgänglich ist, damit die Gesellschaft auch mit einer damals neuen Arbeiterklasse weiter funktioniert. Immer massivere Eingriffe in die Natur machten irgendwann klar, dass wir Umweltschutz brauchen, um zumindest die extremsten Auswüchse einzudämmen. Kaum gab es Autos, mussten wir uns überlegen, wie wir den Verkehr regeln, damit nicht nur jeder ein Auto hat, sondern damit auch möglichst sicher und schnell ans Ziel kommt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sobald ersichtlich wurde, dass neue Entwicklungen einen echten Mehrwert bringen, ging es also nie um das ob, sondern immer um das wie.

Wenn nun die Digitalisierung jeden Teil unseres Lebens durchdringt und diese Technologie eindeutig viel mehr kann als sie vielleicht soll, so wird klar, dass auch hier Regelungsbedarf besteht. Nicht weil man diese Entwicklung verhindern müsste, sondern weil wir sie zum Nutzen aller gestalten sollten. Es geht um Vertrauen, um Fairness und die Balance von Interessen. Wie weit lassen wir uns von Technologien, Konzernen und Innovationen verändern, und wie weit ordnen wir uns diesen unter? Wer bekommt wie viel vom neu entstehenden Kuchen? Stupides Ablehnen oder Verherrlichen von Innovationen ist zwar viel einfacher als eine echte differenzierte Auseinandersetzung damit, so leicht können wir es uns aber nicht machen. Wir müssen vielmehr die Konflikte erkennen und sie nach Möglichkeit im Interesse aller lösen.

Da Sie aber kein Buch über die Großartigkeit diverser Innovationen gekauft haben, darf ich im Weiteren auf die Selbstinszenierungen der Konzerne verweisen. Die können das auch viel besser. Ich empfehle überhaupt, nach jedem Kapitel dieses Buches ein Werbevideo für das neueste Handy oder einen neuen Online-Dienst anzusehen, um nicht ganz die positiven Seiten auszublenden. Ich kann Ihnen jedoch nicht garantieren, dass Sie nicht einen gewissen Zynismus verspüren, wenn Sie diesen Rat befolgen sollten. Die neueste Selbstinszenierung eines IT-Konzerns mag nach einem Kapitel über die Vorgänge hinter den Kulissen wie ein mit Antibiotika verseuchtes Käfighuhn nach einem Tierschutzfilm schmecken. Trotzdem Mahlzeit!

Nachdem ich mich also (hoffentlich erfolgreich) von jedem Verdacht der Verweigerungshaltung reingewaschen habe, würde ich nun gerne die Frage »Neue Technologie: Ja oder Nein« verlassen und in das »Ja, aber wie?« eintauchen, denn genau diese Diskussion ist wirklich spannend.

Warum Privatsphäre?

Ich gehe mal davon aus, dass ich Sie als Leser dieses Buches nicht überzeugen muss, dass Privatsphäre doch etwas wert ist. Wenn sie Ihnen nichts wert wäre, würden Sie jetzt vermutlich eher einen Krimi oder eine Liebesgeschichte lesen. Ich hoffe, wir können uns daher lange Ausschweifungen über den prinzipiellen Wert der Privatheit sparen. Gemeinsam offene Türen einzurennen ist ja für uns beide vermutlich eher minder spannend. Trotzdem gibt es einige Elemente, Hintergründe und Gedanken, die auch für bereits Überzeugte interessant sein könnten.

4. Nazis oder Kommunisten?

»Hallo? Ist da Europa gegen Facebook?«

»Ja, hallo!«

»Großartig. Ich bin von der New York Times und würde gerne über euch schreiben. Haben Sie ein paar Minuten?«

»Sicher, gerne. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Also, zu Beginn wollte ich fragen, warum in Europa Privatsphäre so wichtig ist. Ähm, … ist das wegen der Nazis oder wegen der Kommunisten?«

So ähnlich fing zirka jedes zweite Interview zu unserem Facebook-Verfahren mit Journalisten aus den USA an. Warum sind diese Europäer so paranoid? Gut, dass die Überwachung durch den Staat eingedämmt werden muss, das kann man als Amerikaner ja noch verstehen: Der Staat ist böse. Aber private Unternehmen sind ja schlussendlich dafür da, möglichst aus allem Profit zu schlagen. Was haben diese Europäer also mit ihrem komischen Datenschutz?

Nun kann man Journalisten bei derartigen Fragen Ignoranz, Blödheit oder amerikanischen Imperialismus vorwerfen. Ich sehe das neutraler. Man muss zugeben, dass Privatsphäre ein höchst unerklärliches, teilweise absurdes und stark kulturelles Konstrukt ist. Es gibt meistens keinen logischen Grund, warum wir gewisse Dinge im Geheimen machen wollen und andere in der Öffentlichkeit.

Als ich in China in einem Busbahnhof aufs Klo musste, trennte mich von meinem Nachbarn nur eine hüfthohe Wand. Stuhlgang wie bei den Römern, als gemeinschaftliches Erlebnis. Ich musste zum Glück nur klein. In Japan saßen wir wenige Wochen später auf Toiletten, die auf Knopfdruck Geräusche und Melodien spielten, damit draußen nur ja keine unschönen Körperlaute zu hören waren. Zwei Stunden Flugzeit trennen diese hüfthohen Abtrennungen von einer Kultur, die ganz natürliche Geräusche nicht ertragen kann und diese lieber mit Soundmodulen übertönt.

Wer in den USA durch eine Vorstadt fährt, findet keinen Zaun, keine Hecke und meistens auch keine Vorhänge. Jeder kann direkt von der Straße ins Wohnzimmer sehen. Wenn ein Bäumchen an der Grundgrenze gepflanzt wird, dann nur um klarzustellen, wie weit man seinen Rasen mähen muss. Der Front Yard ist die Visitenkarte des Hauses, im Hinterhof liegen nicht selten der Dreck, eine Hundehütte und ein altes Trampolin. In Zentraleuropa sind wir hingegen Meister der Mauern, Hecken, Zäune und Vorhänge. Meine Mutter arbeitet seit Jahren daran, eine möglichst hohe und dichte Hecke zur Straße hin zu haben. Strategisches Schneiden soll dabei höchste Bedeutung haben, sagt sie. Als wir einen alten österreichischen Freund der Familie besuchten, der nun in den USA lebt, war sofort klar wo er wohnte, als wir in seine Straße einbogen: in dem einzigen Haus mit einer dichten Hecke. Ein kleines Stück österreichische Privatheit in einem Vorort von New York.

Im Jahr 1928 hatte der US-Supreme-Court zu entscheiden, ob die US-Verfassung die Telefonüberwachung irgendwie einschränkt. Das Gericht entschied, dass es keine Privatsphäre bei Telefongesprächen gibt, denn die »Telefonleitungen sind ebensowenig Teil des Hauses oder des Büros wie die Highways, entlang derer sie gespannt sind.« Ein Telefonat ist also nicht privat. Punkt. Erst 1967 änderte das Höchstgericht seine Ansicht, und die Telefonleitungen wurden dann über Nacht doch Teil des Hauses oder Büros oder zumindest so etwas ähnliches Privates.

In den USA ist juristisch gesehen überhaupt nur das privat, bei dem Bürger eine »vernünftige Erwartung« haben können, dass es privat ist (»reasonable expectation of privacy«). Wenn es um vernünftige Erwartungen geht, trennen Europäer und Amerikaner oft Meilen oder Kilometer, je nachdem, wie man es misst.

In den USA fanden Gerichte, es sei nicht vernünftig, davon auszugehen, dass der eigene Hinterhof irgendwie privat ist, denn ein Polizeihelikopter könne ihn ja einsehen. Daher: kein rechtlicher Schutz gegen Überwachung. Auch wenn Sie jemandem anderen etwas anvertraut haben, können Sie nicht vernünftig erwarten, dass es privat bleibt. Das geht so weit, dass Sie nicht vernünftig davon ausgehen dürfen, dass Ihr E-Mail-Provider (dem Sie zwangsläufig Ihre E-Mails weitergeben müssen) diese nicht dem Staat weitergibt. Als allerdings die Polizei mit Wärmebildkameras nach Drogenplantagen suchte, entschied ein Gericht, dass man vernünftigerweise nicht davon ausgehen musste, dass ein privates Haus mit Wärmebildkameras durchleuchtet wird. Nachsatz: Es sei denn, Wärmebildkameras werden irgendwann eine weit verbreitete Technologie, dann ist es wieder nicht mehr vernünftig davon auszugehen, dass Sie mit Ihrer Pot-Plantage (oder auch nur Ihrem Ficus Benjamin) privat bleiben. Kurz gesagt: Alles, was technisch möglich und nicht unglaublich trickreich ist, ist erlaubt.

In Europa hat hingegen der Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass man auf der Straße vor einer Überwachungskamera einen Suizid hinlegen kann und trotzdem davon ausgehen darf, dass diese Bilder nicht ans Fernsehen weitergegeben werden. Aber auch in Europa ist nicht alles ein großer privater Einheitsbrei. Im hohen Norden etwa sind die Steuerdaten der Bürger öffentlich. Dort können Sie also einfach nachsehen, was Ihr Nachbar so verdient oder zumindest, wie viel er bei der Steuerbehörde angibt. Finnen konnten diese Daten sogar über einen SMS-Service abrufen. Sie sehen also, auch was innerhalb Europas als vernünftigerweise privat betrachtet wird, ist relativ.

Sexualität ist wiederum so privat, dass wir kaum jemanden Dritten daran teilhaben lassen. Jedoch gibt es eigentlich, abgesehen von den vielleicht etwas unpraktischen Gegebenheiten, keinen logischen Grund, warum wir uns nicht im Bus, der U-Bahn oder auf dem Gehsteig der Liebe hingeben sollten. Warum tun wir das also nicht? Es ist am Ende wohl Kultur. Logisch begründbar ist es, nüchtern betrachtet, nicht.

Sexualität ist übrigens ein Beispiel, bei dem wir in den USA mehr Drang zur Privatheit als in Europa sehen. Für körperliche Freuden im Auto oder im Freien haben Sie in den USA interessanterweise eine viel höhere Chance auf eine Strafe als in Europa. Denn bei Sexualität haben wir tendenziell einen weniger verschämten Umgang als unsere Freunde auf der anderen Seite des Atlantiks.

Ähnliche Unterschiede sieht man auch bei diversen Umfragen. In Deutschland waren beispielsweise laut NTV im April 2014 ganze 79% gegen die Vorratsdatenspeicherung. In den USA waren ein halbes Jahr früher laut einer Umfrage der Washington Post nur 41% gegen ein ähnliches geheimes System der NSA zur Telefonüberwachung. In den USA fand die Mehrheit von 56% die Massenüberwachung akzeptabel und 45% sagten sogar, dass die Regierung auch noch alle E-Mails überwachen sollte.

Hingegen halten viele meiner Freunde in den USA die Idee eines zentralen Melderegisters für einen Fall von massiver staatlicher Überwachung. Für uns ist das wiederum vollkommen normal. Es gibt also nicht nur einen größeren und kleineren Drang nach Privatsphäre, der Drang ist noch dazu in verschiedenen Bereichen verschieden ausgebildet.

Aber abgesehen von verschiedenen Kulturen zeigt sich selbst innerhalb eines Kulturkreises eine riesige Bandbreite an Einstellungen. Die einen haben Spaß dabei, befreit am FKK-Strand in die Fluten zu springen, die anderen meiden das Schwimmbad überhaupt, weil sie nicht unter Fremden liegen wollen. Die einen stellen freudig verwackelte Selbstportraits aus ihrem Badezimmer öffentlich ins Netz, die anderen wollen überhaupt nicht fotografiert werden und wollen schon gar nicht, dass Fotos von ihnen irgendwo online zu finden sind.

Wenn wir also von Privatsphäre sprechen, reden wir eigentlich alle von etwas anderem. Wenn Sie hundert Menschen aus ihrem Umkreis fragen, was für sie privat ist und was nicht, bekommen Sie vermutlich hundert verschiedene Antworten. Besonders unterschiedlich wird es, wenn wir über verschiedene Kulturen hinweg über solche höchst abstrakten und komplizierten Werte wie Privatsphäre sprechen. Je tiefer wir dabei in die Details gehen, umso mehr sehen wir, was uns trennt. Man spricht zwar vom selben Wert, im Detail und im Konflikt mit anderen Werten haben wir aber ganz verschiedene Prioritäten.

Das sieht man natürlich auch bei anderen Themen. So sind wir uns weltweit einig, dass menschliches Leben geschützt gehört. In vielen Ländern gilt das aber nicht, wenn es um die Bestrafung eines Mörders geht. Hier ist die Strafe oder auch nur die Rache wichtiger als das Leben. Entsprechend gibt es die Todesstrafe oder eben abgehackte Hände bei Dieben. Auf die Frage, ob das richtig oder falsch ist, gibt es am Ende leider keine wissenschaftlich eindeutig richtige Antwort. Ich persönlich bin froh, in einem Land ohne staatliche Giftspritzen und Hackebeile zu leben, aber das liegt vermutlich zum größten Teil daran, dass ich es so gewohnt bin und das meinen Moralvorstellungen entspricht. Genauso können Sie über den Sozialstaat, Schranken für die Wirtschaft, die Rolle der Familie, den Sinn und Unsinn von Religionen oder tausende andere Themen jahrelang diskutieren, ohne die ultimative Wahrheit zu finden.

Natürlich gehört in der Praxis viel Größe dazu, generell zu akzeptieren, dass verschiedene Menschen, Kulturen und Länder hier, vollkommen berechtigt, verschiedene Ansichten haben. Daher möchte ich auch gleich klarstellen, dass ich nicht glaube, dass meine oder die europäische Sichtweise objektiv korrekt ist, es ist nur eine Sichtweise von vielen. Diese Sichtweise ist aber genauso legitim und ist genauso zu respektieren wie jede andere. In einer demokratischen Struktur bedeutet das vor allem auch, dass es nicht mal unbedingt eine wissenschaftliche Wahrheit für diese Position braucht. Sie legitimiert sich allein über ihre allgemeine Akzeptanz oder die Mehrheitsfähigkeit. Das Ganze gilt natürlich auch für abweichende Meinungen.

Das Spannende im Internet ist nun aber, dass Gruppen, für die Privatsphäre wichtig ist, im gleichen Raum auf Gruppen treffen, die das überhaupt nicht so sehen und auch nicht unbedingt verstehen können. So gelten im Silicon Valley die Europäer mit ihrem Datenschutz für viele als vollkommen absurde Truppe. Sowas wie ein Grundrecht auf Datenschutz, wie es in der EU vorgesehen ist, kennt man dort schlichtweg nicht. Nur bei wenigen Menschen, die beim Thema Datenschutz besonders kritisch sind, gilt die EU als schillerndes Vorbild. Zu einem großen Teil wird die Idee von Privatsphäre im Netzzeitalter dort aber wie gesagt als verträumt, falsch, überkommen und jedenfalls für die Unternehmen als lästig gesehen.

Aus irgendwelchen hehren Gründen auf möglichen Profit zu verzichten ist innerhalb des liberalen Wirtschaftsverständnisses nur schwer erklärbar. Das wäre ja wie staatliche Gesundheitsversorgung für alle. Sowas kann ja auch nur den Kommunisten einfallen, würden viele ätzen.

Neben der Frage der Anerkennung von Privatsphäre an sich, kommt man hier auch zu einem zweiten Phänomen: In Europa gibt es einen viel stärkeren Drang, die armen, kleinen Konsumenten, Arbeitnehmer oder Mieter zu schützen. In den USA gibt es hingegen eine Tendenz, die Übermacht des Stärkeren als gerechten Lohn für dessen Arbeit und Kraft zu sehen. Wer sich nicht durchsetzt, hat eben verloren. Der Wilde Westen lässt grüßen, aber an sich ist diese Grundhaltung ebenso legitim wie das europäische Beschützertum.

Die Einführung von Datenschutz ist so gesehen auch nur ein logischer Schritt nach dem Arbeitnehmer- oder Konsumentenschutz. Datenschutz ist nichts anderes als der Schutz der Bürger vor den übermächtigen Unternehmen und Staaten, nur eben im digitalen Informationszeitalter. Das Ziel, das damit verfolgt wird, ist, dass der Konsument nicht informationell ausgebeutet werden soll, ebenso wie Kreditnehmer, Mieter oder Arbeitnehmer nicht finanziell oder persönlich ausgebeutet werden sollen.

Der Schönheitsfehler im europäischen Konzept ist jedoch, dass die USA den weltweiten Markt für IT-Produkte massiv dominieren. Mit wenigen Ausnahmen haben US-Unternehmen die Software unserer Geräte nach ihren Vorstellungen gemacht. Unter dem Schlagwort »Code is Law« (die Software ist das Gesetz) gilt damit auch auf unseren Geräten faktisch die amerikanische Idee von Privatsphäre und Grundrechtsschutz. Die IT-Industrie arbeitet extrem schnell und will, wenn möglich, ein Produkt mit wenig Aufwand in kürzester Zeit auf der ganzen Welt verkaufen. Anpassungen an das Recht von etwas mehr als 190 Staaten der Erde sind da nicht vorgesehen und schon gar nicht erwünscht.

Die IT-Unternehmen gehen eher mit dem »Friss Vogel oder stirb« Prinzip durch die Welt, und das funktioniert recht gut. Was für andere Branchen unmöglich wäre, ist in der IT-Sparte total normal. Oder könnten Sie sich vorstellen, dass ein europäisches Auto in den USA eine Zulassung bekommen würde, ohne unzähligen US-Standards zu entsprechen? Oder, dass jemand in den USA einfach so Kaffee verkaufen könnte, ohne diesen mit unzähligen Warnhinweisen von »Achtung, heiß!« bis zu »Kaffee kann krebserregend sein!« zu verschönern? Das wäre unmöglich.

Wenn es sich aber um die Produkte handelt, in denen unsere gesamte Kommunikation, alle unsere Unterlagen, alle unsere Interessen und unser halbes Leben verarbeitet oder oft auch überwacht werden, gelten lokale Gesetze plötzlich nicht. Wenn es nach den Herstellern geht, sollten hier, unter Ausblendung des Rests der Welt, nur die Gesetze und die Kultur eines Teils der Welt gelten. Das Traurige dabei: Wir sehen diesem Geschehen zu und tun nicht mehr, als uns verbal zu empören, um dann erleichtert ein Bier trinken zu gehen.

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