Kitabı oku: «...ach, dieses ewige Sehnen», sayfa 2

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DIE ANDERE MARIA

Jeden Abend, wenn sie die Kinder zu Bett brachte, kam die Erinnerung daran, was einmal war. Hannes nahm immer Elias, seinen Stammhalter, auf die Schultern, Maria die beiden Mädchen an den Händen. Zusammen blieben sie solange an deren Bettchen stehen, beteten mit ihnen und strichen jedem behutsam über das Haar bis zu den Augen hinunter und drückten ganz sanft die müden Lider zu. Ein Ritual, dem Maria, seit Hannes an der Front war, nie wieder gefolgt ist. Solange jeder glaubte, dieser Krieg ginge sehr schnell vorbei, erschien es ihr als Verrat, wenn sie seine Rolle so einfach übernommen hätte. Später konnte sie nicht wieder damit beginnen, zu schwer war ihr die Zeit der Angst geworden, es könnte nie mehr so sein. Und nun ist es so. Es wird nie mehr so sein.

Dicht bei den Kindern roch Maria an diesem Abend die unschuldigen Körper und glaubte, sie würden nach Hannes riechen. Sie blickte vom selig einschlummernden Gesicht des kaum dreijährigen Elias weg in die Dunkelheit. Betäubt von der Vorstellung, den Rest des Lebens allein und einsam leben zu müssen, und in ständiger Sorge, die Kinder und sich selbst satt zu bekommen, stand sie bisweilen sehr lange reglos im kalten Zimmer, das mit Decken verdunkelt war, um dem Feind, der immer näher kam, kein winziges Zeichen für seine Vernichtungsabsicht zu geben. Warum will der Feind uns vernichten? Wir haben ihm nichts getan! Allerdings wusste sie auch nicht, was der als Feind benannte Russe ihnen getan hatte. Sie kümmerte sich nie um Politik. Nur eines drückte seit Monaten schwer auf ihr. Der Feind hat mir das Liebste genommen, das ich je hatte.

Wie kannst du nur so geliebt haben? fragte sie sich immer wieder. Ein Mensch kann nur einmal so lieben.

Das war es, was sie in ständiger Starre hielt. Diese Starre löschte alles in ihr aus, was einmal Maria Jahn, geborene Theiss, gewesen war, die von der Liebe nicht genug bekommen konnte und die ganz sicher noch mal seine Saat für weitere drei Kinder in ihrem Leib aufgenommen hätte, hätte ihr Liebster nicht den Verführungsparolen folgen müssen, die man übers Volk ausgeschüttet hat.

Immer wenn das Elend in ihr am größten geworden war und sie mit ihrer Sehnsucht nicht gewusst hatte wohin, kramte sie in der alten Truhe, wo die Kinder nichts zu suchen hatten. Aus einer abgegriffenen Mappe zog sie auch heute ein Blatt Papier, das sie einmal zerknüllt, aber dann wieder akribisch glattgebügelt hatte, um es ihrem kleinen Altar zuzuführen, den jeder Mensch braucht, um seiner Seele gerecht zu werden.

Zuerst liest sie im Stehen, dann versagen ihre Beine und sie sinkt auf das Bett, das den Zauber des Glücks längst verloren hatte.

Einheit 35 641 . Im Felde, Januar 1944

Sehr geehrte Frau Jahn!

Bei den schweren Abwehrkämpfen südlich Newel fiel am 13. Mai 1944 in der Feuerstellung der Batterie Ihr Mann Hannes Jahn im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung getreu seinem Fahneneid für Führer und Vaterland.

Er hat einen kurzen und schmerzlosen Tod erlitten.

Die Batterie verliert in Ihrem Mann einen sehr pflichtbewussten, tapferen und bewährten Richtkanonier und einen sehr geschätzten Kameraden. Zugleich im Namen seiner Kameraden spreche ich Ihnen meine wärmste Anteilnahme aus. Mit besonderem Bedauern denke ich an Ihre drei Kinder, die nun vaterlos sind. Die Batterie wird Ihrem Manne stets ein ehrendes Andenken bewahren.

Die Gewissheit, dass Ihr Mann für die Größe und Zukunft unseres ewigen Deutsche Volkes sein Leben hingab, möge Ihnen in dem schweren Leid, das Sie getroffen hat, Kraft geben und Trost sein.

In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie mit

H e i l – H i t l e r !

H. Seemann, Oblt.

Die Lüge vom östlichen Feind des deutschen Volkes hing fest in den Köpfen, die ließ sich nicht mehr korrigieren und wurde zum ewigen Marschgepäck einer Generation Verführter. Wie kann eine einfache Frau begreifen, wer Opfer und wer Täter ist. Aber wie so oft wurden die Opfer zu Tätern, als die Gunst des Sieges sie erreichte. Bald hatte der Russe vor den Toren der Heimat gestanden und die Menschen packten zusammen, was zum Überleben nötig war. Sie flüchteten vor dem Feind, dessen Rache sie fürchteten. Was wäre zu fürchten gewesen, gebe es keine Schuld?

Nach dem ausgebliebenen Endsieg zurück in ihrem Dorf, wurde Maria, wie auch alle anderen, die mit dem Tod ihrer Liebsten genug bestraft waren, von einigen Wendehälsen sogar in die Reihen der Kriegsverbrecher eingestuft. Das Sagen hatte zwar überall die sowjetische Administration, aber es gab auch Deutsche, die sich der neuen Macht anbiederten, um selbst ungeschoren zu bleiben.

Der Krieg war aus, aber das Leben wurde nicht leichter. Im Gegenteil. Jetzt gab es nicht einmal mehr die ohnehin geringe Chance, von einem Bauern ein paar Kartoffeln, ein Stück Speck oder Butter zu bekommen. Die jungen Burschen waren in den letzten Kämpfen verheizt worden, die Alten schafften die Bestellung ihrer Felder kaum. Über allem herrschte die Besatzungsmacht. Jeder Scheffel Weizen wurde zwangsvereinnahmt, jeder Liter Milch, jedes schlachtreife Stück Vieh. Der Weizen wuchs so leidlich wieder auf den Feldern, aber es gab keine Müller mehr, die ihn zu Mehl zermalmten. Die steckten noch in den Gefangenenlagern oder lagen in der fremden Erde fern der Heimat.

Wenn Maria dann am Abend zur Ruhe kam — und das geschah selten genug — wusste sie, wohin ihr Leben driften könnte, wenn sie sich nicht selbst befreite. Der Krieg hatte in ihrem Dorf kaum Schäden angerichtet, sah man von der Plünderei ab, die vermutlich nicht nur durch die Sieger geschah, und sah man ab von den kranken Seelen, die allerorts zu spüren waren. Sie musste also nicht damit rechnen, in das Heer der Trümmerfrauen berufen zu werden, wie es in den Städten der Fall war. Aber was konnte sie tun, ihre Not zu lindern? Was würde in ihrer Tagesbilanz stehen können? Windeln gewaschen, Kinder gefüttert, Wäsche geflickt und Suppe gekocht, Suppe aus Kartoffelschalen, weil es für mehr nicht reichte, nie reichen würde, weil es nichts mehr gab, was man im Handumdrehen beschaffen konnte. Auch fehlte ihr das Geld.

Irgendwann wird das Leben wieder ein besseres und man kann wieder etwas kaufen. Aber wovon?

Viele der Frauen aus dem Dorf gingen jetzt zur Fabrik, und sie waren sogar stolz darauf. Es musste auch für Maria einen Weg geben, eine andere Rolle zu spielen, als es gegenwärtig aussah. Sie hatte die Pflicht, ihren Kinders den Versorger zu ersetzen. Solange Hannes täglich zum Werk gegangen war, hatte sie für ihn Essen gekocht, pünktlich am Werkstor gestanden und ihn mit einem Essgeschirr und einem heimlichen Kuss wieder an die Werkbank verabschiedet. Jetzt sollte sie es sein, die den Weg ging, den zu gehen sie sich selbst nie hätte vorstellen können.

Die Not zwang Maria, eine Arbeit anzunehmen. Es war ihr klar – und das war auch der Grund für ihr Zögern – dass sie keine große Rolle spielen konnte im Heer der routinierten Arbeiterinnen. Einzig in der hiesigen Fabrik hatte sie jedoch die Chance, eine niedere Arbeit zu bekommen.

Auf ihrem Weg zur Fabrik betete sie jeden Tag vor sich her: »Ich brauche keine Ausbildung. Ich kann zupacken. Ich kann einfach arbeiten und am Ende meinen Lohn nachhause tragen.«

Inzwischen stand sie tagein, tagaus an der Werkbank und stanzte undefinierbare Werkstücke aus undefinierbarem Stoff für undefinierbare Zwecke.

Die Arbeit war nicht nur ungewohnt, sie raubte Maria die Lebenssäfte. Schon nach drei Stunden dampfte ihr Leib vor Anstrengung, als wäre sie über den Waschkessel gebeugt. Ihr weiches, lockiges Haar hing in Strähnen über der Stirn. Gerade lehnte sie schwer atmend an einer Säule und konnte den Stanzhebel nicht mehr herunterdrücken, als der Vorabeiter an der Tür stand und ihr Dilemma sah. So sehr sie sich bemühte, der schwere Hebel rutschte ihr einfach aus den Händen, so fest sie ihn auch zu packen versuchte.

Langsam kam der Mann auf sie zu, der Genosse Papst genannt werden wollte. Er umschlich den jungen Körper, der die letzte Kraft zu mobilisieren versuchte, um nicht wegen Arbeitsbummelei herausgeschmissen zu werden.

Die Augen des Mannes schielten schräg über ihren Körper, die Lippen folgten in gleicher Weise, ehe sie herausbrachten: »Komm mit ins Kistenlager, danach bekommst du einen leichteren Auftrag von mir. «

Der Mann war ein kräftiger Typ, dem der Krieg und der Hunger vermutlich nichts anhaben konnten. Sein Hosenbund spannte, obwohl die Hosen an den meisten, mageren Männerleibern kaum noch Halt fanden. Marias Blick wurde für nur eine Sekunde kess, bis sie sich besann, wer sie war und wo sie sich befand. So sehr sie sich nach Aufmerksamkeit sehnte, bei diesem Mann hatte sie das Gefühl, es ging ihm um eine biologische Notwendigkeit, nicht um die Seele oder gar die Liebe. Ihr half nichts, als die Zähne zusammenzubeißen und sich voll der mühevollen Arbeit zu ergeben. Sie antwortete nichts, aber in ihrem Kopf blieb der Zweifel: Ein leichterer Auftrag würde ihr schon gefallen. Immerhin hat sie nach zehn Stunden im Werk noch einmal eine zweite Schicht zuhause. Halb wütend, halb gleichgültig, trabte der Mann davon. Auf seinen Lippen ein Lied von Joannes Heesters: Tausend Mal möcht ich dich küssen.

Es war nur dieses Lied, das sie mit dem Mann versöhnt hatte. Wer diese Lieder sang, die auch ihr Hannes gerne gehört hatte, konnte nicht schlecht sein. Leider hatte sie nicht den Mut und erst recht nicht die Kraft, es ihm später einmal zu sagen. Für die Worte, die sie dafür gefunden hätte, wäre ein winziges Stück Papier ausreichend gewesen. Das lag nicht an ihrer pathologischen Befangenheit, eher an der heimlichen Freude über sein verkapptes Kompliment.

Es war nicht nur der Hunger und das entbehrungsreiche Leben, die Maria alle Kraft nahmen. Jetzt kam noch die ständige Angst dazu, was gerade zuhause mit den Kindern sein könnte, ob die Nachbarn einsprangen, wenn etwas passierte.

Sie könnte sich nirgendwo vergnügen, solange ihre Kinder zuhause auf sie warteten. Karla war gerade erst sieben geworden und Franka noch keine fünf. Ganz zu schweigen von Elias, der zwar zeitweilig von seiner Patentante in der Nachbarschaft betreut wurde, aber auch das war für Maria kein Grund für Sorglosigkeit. Und dann war da noch die Liebe, die sich für immer aus ihrem Herzen, aus ihrem Leib, von ihren Lippen und den Brüsten und den Schenkeln verabschiedet hatte — für immer? Wenn sie nur wollte, letzteres könnte sie ganz leicht ändern. Aber Liebe und Triebe sind zwei linke Schuhe.

Bisweilen wurde sie in ihrem täglichen Kampf um die schnöde Dinge des Lebens fast schon hysterisch und war bisweilen an der Grenze des Irrsinns. Wie schlecht es in ihr aussah, sollte niemand, wollte auch niemand hören. Jeder glaubte, er könnte seinem bisschen Leben das Beste abringen und für immer und ewig in seiner Hand behalten, aber das war Illusion. Zufälle sind es, die den Gang des Lebens bestimmen. Der schönste Zufall war, dass sie Hannes geradewegs vor seine Füße gefallen war. Zufall, dass er seine kleine Schwester nicht dabei hatte, die ihn hätte davon abhalten können, dass sie sich näher kommen konnten. Schöne Zufälle. Und dann die andere Sorte: Zufall, dass im tiefsten Russland diese Granate gesplittert ist und die Schläfe von Hannes erwischt hat.

Die jüngsten Zufälle für Maria waren ganz anderer Gestalt. Der todbringende Krieg hatte zwar den »Weißen Schwan« verschont, aber nicht diese Seite ihres Leben, die mit dem Haus verwurzelt war, bis Karla geboren wurde. Oben unter dem Dach hatte sie gewohnt, unten war sie als Kaltmamsell in einer gute Anstellung. Niemand brauchte jetzt eine Kaltmamsell, wenn schon keiner mehr wirklich satt wurde.

Ob es auch ein Zufall war, dass die Mutter zuhause in Schlesien lebte und deshalb nicht für ihre Enkel da sein konnte, darüber richtete sie nicht. Sie war es, die ihre schlesische Heimat verlassen hatte, gottlob, denn man hörte seit Jüngstem nichts Gutes von dort. Aber das änderte nichts daran, dass genau genommen ihr Leben eine Anhäufung von Zufällen war. Nur selten waren es die geplanten Dinge, die ihr Leben zu dem gemacht haben, was es ist. Wie könnte sie das wieder umkehren? Wie könnte sie ihre Richtung selbst bestimmen?

Marias stetig wachsender Wille, etwas zu ändern, hatte Folgen. Zunächst sah es aus, als habe es sich gelohnt. Für jeden Menschen spart das Schicksal eine Überraschung auf, aber leider haben auch Überraschungen immer zwei Seiten.

DER ANDERE TEIL DES LEBENS

Wurde das Leben im kleinen Dorf zu trist, kam Lotte die Stufen herauf und setzte sich zu Maria. Gemeinsam rauchten sie die Zigaretten, die eine von beiden erstehen konnte. Manchmal schloss sich Lilli den beiden an. Sie war die Enkelin einer streng-gläubigen Umsiedlerin aus Pommern. Lillis Mutter war auf der Flucht verschollen und Lilli litt an dem, was die Leute einst Schwindsucht nannten. Jetzt nannte man es Tuberkulose. Dennoch rauchte Lilli ohne Skrupel, was Maria gar nicht gefiel, was ihr aber zu kritisieren nicht zustand. Lilli war sehr jung, aber es zog sie dennoch zu den beiden Frauen, weil die Zeit alte Freundschaften auseinandergerissen hatte. Zusammenzuhalten war das Gebot der zurückgebliebenen Witwen ohne Zuversicht. Auch Lilli betraf dies zu einem bestimmten Teil. Sie würde nicht lange leben, was die Frauen ahnten und weshalb sie das junge Ding bei sich akzeptierten, auch wenn sie in deren Beisein verhaltener über ihre Probleme des Lebens sprachen. Vor Lotte allein musste sich Maria nie verstellen, auch sie hatte ihren Mann verloren, auch sie war noch zu jung, um gänzlich ohne Liebe leben zu können. Aber Lotte stand unter der unsichtbaren Fuchtel ihrer Mutter, die rigoros entschied, was für Lotte und deren Tochter Siglinde das Beste war. Wenn Lotte eine eigene Idee hatte, die der Mutter nicht gefiel, wenn sie mal raus musste aus den vier Wänden, dann brauchte sie immer ein Alibi, und dafür eignete sich am besten Maria.

Es war ein trüber Tag Anfang März. Die Wolken hingen schwer und reglos bis zu den Wipfeln der hohen Eichen. In dieser Tristesse konnte auch bei Maria keine Lust aufkommen, noch irgendeiner notwendigen Arbeit nachzugehen. Auch sie brauchte ein paar Minuten am Tag nur für sich. Im Radio sang Margot Friedländer: Bei mir bist du schön. Es war ein neues Lied, aber es erinnerte sie sofort daran, was Hannes sehr gerne zu ihr gesagt hat, wenn er sie lieben wollte. Und sie haben sich oft geliebt, so oft es ging.

Nur keine Melancholie, sagte sie sich und freute sich, dass Lotte mal wieder ein wenig Abwechslung in ihr Leben brachte. Eine Tasse Muckefuck musste ihnen für die Gemütlichkeit genügen. Zuerst redete Lotte über die junge Blondine, die auf der Dorfstraße wohnte und von allen die fesche Lola genannt wurde, obwohl sie Gerda hieß. Diese Gerda stand im Ruf, ihr gutes Leben ihrem Körper zu verdanken und dem, was ein Mann damit machen durfte. Bei einem, es war ein wohlhabender, aber von Schönheit verschont gebliebener alternder Gnom, saßen offenbar die Scheine sehr locker, wenn er vornüber gebeugt und humpelnd zu Gerda schlich und sie ihm bereitwillig die Tür öffnete.

Gerda war von geheimnisvoller Art. Nicht durch ihre Schönheit, es war die Unsicherheit in ihr, die sie äußerlich aufreizend, innerlich zurückhaltend erscheinen ließ. Vermutlich fürchtete sie sich vor Fragen von jedermann und sprach nur mit Menschen, von denen sie Aufdringlichkeit nicht erwartete. Sie musste niemandem Rede und Antwort stehen. Fast jeder im Dorf wusste, woher Gerda ihre schönen Kleider hatte, in denen sie bewundert wurde, und fast jeder beneidete sie darum, wenngleich man die Quelle ihres Vorteils allerorts verurteilte. Die Frauen schüttelten sich vor Abscheu bei diesem ganz bestimmten Gedanken an den Mann. Klein und krumm, mit einem Buckel auf den Schulterblättern und mit einer hervorstechenden Nase und grimmig blitzenden Augen im Gesicht, erinnerte die unappetitliche Gestalt an einen scharf-schnäbligen Geier. Und doch war er bei Gerda der häufigste Kunde, dem sie nie die Tür zuschlug. Das ging so lange, bis Gerda selbst einen Buckel vor sich her trug. Das Mädchen, das sie dann zur Welt brachte und für das der Bucklige viel zu zahlen bereit war, sah seinem Erzeuger wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich, was mit den Jahren noch schrecklich zunahm.

»Das arme Kind hat nun die Sünden der Mutter ein Leben lang am Hals«, sagte Lotte, und blies den beißenden Rauch ihrer selbstgedrehten Zigarette in die Luft, bis er sich unter dem Lampenschirm zu einem dichten Schwaden sammelte, der renitent auf seinen Platz beharrte. Maria stand auf und öffnete das Ofentürchen, so wie sie es gewöhnt war, um ihre Kinder zu schützen. Aber das kleine Manöver half gegen den Qualm von zwei Rauchenden nicht viel.

Während Lotte ihren Kopf streckte, als sei sie stolz auf sich und ihre Worte, den vollen Busen herausstreckte und sich wohlig räkelte, zuckte Maria mit den Schultern, schaute auf ihre Füße, vermied es aber strikt, Lotte in die Augen zu schauen. Sie war keine, die über andere Leute richtete. Maria Jahn hatte mit sich zu tun und mit dem ständigen Gefühl, sie sei von innen ausgehöhlt worden und nur die leere Hülle ihres Herzens wäre noch da. Seit über zwei Jahren lebte sie ohne Hoffnung. Seit über zwei Jahren war kaum eine Stunde vergangen, wo sie nicht die Liebe und die Hingabe ihres Hannes vermisste, der es immer gut mit ihr meinte. War es möglich, dasselbe Glück noch einmal zu erleben?

Die brennende Sehnsucht, von liebenden Händen gestreichelt zu werden, kam aus den Windungen ihres Hirns gekrochen und machte sie traurig. Sie glaubte, im Herzen immer gleich geblieben zu sein, aber sie zweifelte mit den Monaten, ob gleich stolz oder gleich feige. Wenn sie das so genau wüsste, könnte sie vielleicht ihrem Leben noch eine Wendung geben.

»Die Lola«, sagte sie, ohne Lotte anzusehen, »ich meine, die Gerda hat doch auch ihren Mann verloren. Oder? Wenn man einsam ist, wird die Qual der Stille zu laut. «

Maria schaute gedankenschwer in eine Weite, von der Lotte keine Vorstellung hatte.

»Deine Sprüche«, entgegnete Lotte. »Du und ich, wir bleiben doch auch vernünftig.«

»Ist die Vernunft das beste Mittel gegen das Nichts? «

»Bei dir ist doch niemals Nichts. Du hast doch immer Trubel um dich herum. «

Trubel ja, dachte Maria, aber musste sie Lotte erklären, was der Unterschied zwischen Leben und Liebe ist? Nicht einmal ihre Liebe kann sie noch leichten Herzens weitergeben, höchstens an die Kinder, nicht an einen anderen Menschen, weil es keinen gibt, nie mehr geben wird, der ihre Liebe verdient. Gegen das entsetzliche Gefühl ihrer Einsamkeit half nur noch die Härte gegen sich selbst. Sie glaubte sogar, des Sehnens längst müde zu sein, weil sie kein Ziel mehr fand und keinen inneren Frieden hatte.

»Ich vermisse ihn so«, sagte sie vorsichtig aber innerlich zufrieden, weil Lilli nicht dabei war. »Nachts spüre ich ihn… du weißt schon wie. Und dann, dann ist mein Laken feucht…« Mit schrägem Blick aus tränenden Augen knispelte Maria an ihren Fingernägeln, die an der Werkbank gelitten hatten, für deren Pflege sie aber nicht mehr die Zeit aufbrachte. Das war der Moment für Lotte, die den ganzen Abend schon wie ein Schakal um jedes Wort herumschlich. Jetzt war der beste Moment gekommen, um zuzuschlagen. Nicht sehr vorwurfsvoll, eher euphorisch schleuderte sie ihre Gedanken vor Maria über den blanken Küchentisch: »Dann tu endlich etwas dagegen! Es wird höchste Zeit, uns von unserer verflixten Witwen-Moral zu erlösen. Wir sind noch jung, wir sollten leben, wir sollten lieben, jetzt, und nicht später, wenn wir alt und verbraucht sind. «

Maria war zu deprimiert, um zu antworten, aber es war auch das erste Mal, dass sie ihre qualvolle Einsamkeit, ihr nutzloses Sehnen, so deutlich benannt hatte. Erst einmal blieb sie starr wie ein hypnotisiertes Huhn und versuchte, an etwas anderes zu denken. Nicht an Gerda mit ihren Freiern, nicht an sich selbst und ihren Zwang, eines liebesbedürftigen Gedankens gar nicht mehr fähig sein zu dürfen. Nicht einmal an Hannes dachte sie. Das verkniff sie sich immer öfter, seit der Kerl im Werk so deutliche Forderungen gestellt hatte. Seit diesem Tag wusste sie es wieder: Sie war noch immer ansehnlich und jung genug für einen Mann. Es gab sogar schon Momente, da war sie Lottes Meinung gewesen, die sie damals noch gar nicht kannte. Aber dafür hatte sie sich sofort geschämt.

»Am Samstag ist im Oberland der erste Tanzball. Was hältst du davon…«, fuhr Lotte in Marias stille Gedanken. Die verstand nicht. Das heißt, sie hörte die Frage nicht einmal, nickte scheinbar ohne Grund. Das letzte Mal war sie noch vor dem Krieg mit Hannes im Oberland, das unweit hinter der Stadt begann, die ihrerseits zu entfernt lag, um oft genug besucht zu werden. Ins Oberland waren sie gefahren, als Karla noch nicht geboren war.

»Heißt das, du kommst mit?« Die Lautstärke der Worte, die eine Freude ausdrückten, holte Maria in die triste Stube zurück, die stickig von Rauch der einzige Raum war, in dem sie lebte, weil sie in diesem Raum eine Aufgabe hatte. Die Schlafräume waren für die Freude am Leben nutzlos geworden.

»Ich…? Wohin soll ich …?«

»Ins Oberland zum Tanz. Es wird endlich Zeit für ein bisschen Zerstreuung.«

Als Maria begriff, dass etwas auf sie zukam, was gerade noch in ewiger Ferne gelegen hatte, um nicht zu sagen, was nie wieder zu ihrem Leben gehören sollte, fühlte sie sich innerlich so zerrissen, dass sie ein Frohlocken unter dem Anschein der Empörung vergrub.

»Du bist wohl nicht bei Troste. Wie soll man denn bis dahin kommen?«

»Mit den Fahrrädern. Es sind etwas mehr als zwanzig Kilometer, und wenn wir zeitig genug losfahren... «

In Lottes Gesicht ging etwas vor, was Maria nicht erkannte. War es ein Jubeln, ein Jauchzen oder gar der Triumph, gesiegt zu haben? War sie deshalb so unverhofft gekommen und hatte sie, Maria, jetzt das Stichwort geliefert, auf das die Lotte den ganzen Abend spekuliert hatte?

»Ich warte nicht, bis sich der Max mit seiner Kneipe endlich aufrafft. Und wenn, hier gibt es keine Männer, die wir nicht kennen.«

Das stimmte, aber absurd blieb es dennoch für Maria.

»Ich habe kein Fahrrad. Und überhaupt, was zieht man da an? Nein, das ist nichts mehr für mich.«

»Komm schon. Das Fahrrad besorge ich und ein Kleid finden wir auch noch. Lass mich nur machen…«

Komm schon, das waren früher immer die Worte ihrer Mutter, wenn eines der heranwachsenden Kinder überzeugt werden musste. Mutter Irma sprach es nur anders aus, schlesisch. Kummocke, wie man an viele Worte zuhause das ocke anhing. Früher, als sie noch Kind war, hatte die Mutter immer gesiegt, genau wie Lotte heute.

Erst später, als Maria in ihrem Bett lag, das Röcheln der Kinder belauschte und unter der Decke mit ihren Händen über die nackte Haut ihres Körpers strich, als wollte sie prüfen, ob sie noch frisch genug ist für diese Art Zerstreuung, ging es ihr auf. Die Tanzbälle in dieser bewussten Lokalität waren schon vor dem Krieg berüchtigt als sündige Hölle. Von weither kamen die Mädchen und ebenso die Freier. Es gab dort einen Teil des Tanzbodens, der mit bunten Spiegeln ausgelegt war, was die Männer besonders mochten und was gewisse Frauen bei jedem Schritt kalkulierten. Von organisierter Unzucht sprach man damals — aber das war zu einer anderen Zeit. Die alte Zeit war auf Zucht und Ordnung geprägt, musste man der noch gehorchen? Hatte sie nicht genug Leid über die Menschen gebracht?

Noch ehe Maria in den Schlaf fiel, tröstete sie sich damit: Eine Absage an Lotte wäre fatal gewesen. Wenn die sich etwas in den Kopf setzte, war sie versessen darauf. Und in dieser Eigenschaft ähnelte sie zumindest ihrer Mutter Cecilia Merschank.

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