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2. Zur Restrukturierung theologischer Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses
Neben der sich maßgeblich verändernden Sozialisation von Studierenden durch eine Verschiebung des Religiösen in das Private und durch die Multimedialisierung von Vermittlungsprozessen stehen die bibelwissenschaftliche Fächer Lehrenden vor Problemstellungen, die durch die Restrukturierung der theologischen Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses hervorgerufen wurden.
Die Restrukturierung der Studiengänge führte zu einer Verschärfung der didaktischen Bedingungen für die Dozierenden. Während die Lehramtsstudiengänge in Deutschland in ein BA- und ein MA-Studium getrennt wurden, in denen im BA-Studium die fachwissenschaftlichen und im MA-Studium die berufsspezifischen Inhalte vermittelt werden, sehen die Pfarramtsstudienordnungen der deutschen evangelischen Landeskirchen ein zwölfsemestriges MA-Studium mit einer Zwischenprüfung vor, das an der alten Examensordnung orientiert ist. In der deutschsprachigen Schweiz und in Österreich stellten die Fakultäten auf ein Bachelor- und Masterstudium um, das nach dem sechsten bzw. zehnten Semester abgeschlossen werden kann. In Österreich lief das Diplomstudium mit Abschluss Magister bzw. Magistra zum SoSe 2015 aus. Nunmehr bildet der Masterabschluss die Voraussetzung für die Zulassung zum Vikariat. In der Schweiz wird von den reformierten Kirchen zusätzlich ein ekklesiologisch-praktisches Semester (EPS) verlangt, welches in der Regel zwischen dem Bachelor- und Masterabschluss absolviert werden soll. Es zielt darauf, »Einblick in die vielfältigen Formen und Vernetzungen von Kirche zu bekommen, sich selber in diesem Kontext auszuprobieren und die eigenen Kompetenzen im Blick auf den Pfarrberuf einzuschätzen und zu erweitern.«1 De jure kommt es so zu einer Studienverlängerung, da im alten Studiensystem das Studium in acht sprachfreien Semestern absolviert werden konnte. Die stärkere Verschulung des Studiums scheint in der Praxis dem jedoch entgegenzusteuern, so dass die Studienzeit in etwa gleich geblieben ist.
Für das Pfarramtsstudium bedeutet dies, dass die fachwissenschaftliche Vermittlung über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgt und daher die Chance, einen in Breite und Tiefe zum einen der Komplexität des Fachgegenstandes entsprechenden und zum anderen den späteren Berufsanforderungen gerecht werdenden nachhaltigen Lernprozess auszulösen, wesentlich höher ist. Hier stehen Lehrende in den Bibelwissenschaften vor einer großen Herausforderung: Der historisch-kritische Umgang mit biblischen Texten setzt ein vertieftes Wissen über die antiken Kulturen des östlichen Mittelmeers sowie des Vorderen Orients und Ägyptens voraus. Diesen Standard können und dürfen Dozierende an deutschsprachigen Hochschulen nicht aufgeben, um die Vermittlung biblischer Gehalte durch die nächste Generation nicht zu einer aus den antiken Abfassungsgegebenheiten losgelösten, naiven Lektüre biblischer Texte werden zu lassen.2
Die in Deutschland durch die Differenzierung theologischer Studiengänge in ein BA-/MA-Studium für die Lehramts- und ein reines MA-Studium für die Pfarramtskandidatinnen und -kandidaten hervorgerufene Spaltung wird durch die in den Studiengängen differenten örtlichen Voraussetzungen zunehmend größer. Durch die derzeit feststellbare Erhöhung der Anzahl von Studierenden in Lehramtsstudiengängen und den gleichzeitigen Rückgang von Pfarramtsstudierenden ergeben sich unterschiedlich große Lerngruppen. Der Rückgang an Theologiestudierenden im Pfarramtsstudium in den vergangenen beiden Jahrzehnten führte dazu, dass die Lerngruppen an den meisten Standorten kleiner wurden, so dass in den einzelnen Veranstaltungen das individuelle Lernverhalten der Studierenden von den Dozierenden wahrgenommen und der akademische Unterricht auf die Lernvoraussetzungen der einzelnen Studierenden ausgerichtet werden kann. Die an vielen deutschen Fakultäten übliche Integration der Lehramtsstudenten für das höhere Lehramt (Sek. II) in die auf die Pfarramtsstudierenden ausgerichteten Veranstaltungen verändert dieses Bild nur unwesentlich. Anders sieht es hingegen an den Standorten aus, an denen Ev. Theologie mit dem Studienziel Lehramt angeboten wird. In den Instituten ist die Studierendenzahl nicht zuletzt aufgrund der doppelten Abiturjahrgänge stark angewachsen, so dass Veranstaltungen derzeit regelmäßig mit mehr als 50 Teilnehmenden stattfinden müssen. Meist sind die theologischen Fächer an den Instituten nur mit jeweils einem Lehrstuhl pro Fachdisziplin oder mit noch geringeren Personalmitteln ausgestattet. Ein breiteres Angebot an Lehrveranstaltungen in den bibelwissenschaftlichen Fächern ist daher nicht möglich.3 Die an diesen Orten Dozierenden müssen sich entsprechend auf große Lerngruppen einstellen, in denen sie in den klassischen Lehrformaten weder die Chance besitzen, Lernprozesse an individuelles Lernverhalten anzupassen, noch den Lernfortschritt aller Teilnehmenden durchgehend im Blick zu behalten. Sie stehen vor der besonderen Herausforderung, die Vermittlung von Kompetenzen und Inhalten an Lernformate anzupassen, die in Großgruppen praktizierbar sind, die individuell unterschiedliches Lernverhalten aufnehmen und einbinden, die den Dozierenden in regelmäßigen Abständen einen Einblick in den Lernfortschritt der Teilnehmenden ermöglichen und die den veränderten Prüfungsbedingungen in den seit der Studienreform eingeführten BA- und MA-Studiengängen gerecht werden.4
In Deutschland führte die Trennung des Theologiestudiums für das Lehramt in ein BA- und ein MA-Studium de facto zu einer Studienzeitverkürzung,5 da die fachwissenschaftlichen Gehalte Teil der ersten Studienphase (BA-Studium) sind. Doch schon diese Phase ist auf die zu erwerbenden Kompetenzen ausgerichtet. Mit den Schlagwörtern employability and civilisation wurden im Bologna-Prozess zwei Dimensionen des Lernens benannt, die bis zur Reform ebenfalls Gegenstand akademischer Lehr-/Lernprozesse waren,6 die nun aber in das Zentrum dieser Prozesse gerückt sind.7 Der mit diesen beiden Dimensionen häufig gleichgesetzte Praxisbezug von Studieninhalten führt oftmals dazu, dass Studierende von Dozierenden erwarten, Anwendungswissen8 zu vermitteln. Diese Forderung, der Studierende häufig in Evaluationen von Lehrveranstaltungen oder bei hochschulinternen Umfragen Ausdruck verleihen, stimmt nicht mit den von der EKD postulierten, für das theologische Lehramt nötigen Kompetenzen überein. Die Prozesse von der Textwahrnehmung bis hin zu einem reflektierten Umgang mit biblischen Texten in einer beruflichen Praxis lassen sich nicht in Lehrveranstaltungen derart abbilden, dass Studierenden die Ergebnisse solcher Prozesse dargestellt und sie auf diese Weise in die Lage versetzt werden, sie in eine tägliche Praxis zu übertragen. Vielmehr ist es nötig, Studierende zu befähigen, diesen Prozess eigenständig durchzuführen, um die Botschaft der biblischen Schriften Lerngruppen spezifisch vermitteln zu können.9 Mit dieser Zielsetzung stoßen Dozierende vielerorts auf Unverständnis bei den Studierenden. Sicherlich gilt es, nach einem Ausgleich zwischen den Positionen zu suchen, zum einen um einen Konsens über den Lehr-/Lernprozess zu erzielen, zum anderen, um den Studierenden die Chance auf einen Bewusstseinswandel zu gewähren. Bibelwissenschaftliche Lehr-/Lernprozesse sollen stets die Zielsetzung besitzen, Studierenden den Zugang zu eigenständigen, wissenschaftlich verantworteten theologischen Positionen auf Basis des Textstudiums zu ermöglichen. Diese Aufgabenstellung änderte sich auch mit dem Bologna-Prozess nicht, wurde aber aufgrund der Studienzeitverkürzung umso anspruchsvoller.
3. Zum Entstehen und zur Zielsetzung dieser Zeitschrift
Die aus den gegenwärtigen Bedingungen von Lehr-/Lernprozessen in den Bibelwissenschaften resultierenden Problemstellungen sind für die Lehrenden kaum mehr zu bewältigen. Den Bedarf, auf die sich für Dozierende und Studierende verändernden Bedingungen des akademischen Studiums adäquat zu reagieren, erkannte der Katholische Fakultätentag bereits in den 1990er Jahren. Dieser gewann die Deutsche Bischofskonferenz als Finanzier einer curricularen hochschuldidaktischen Aus- und Fortbildung für Dozentinnen und Dozenten der katholischen Theologie. Aus dem Kreis der Absolventen bildete sich das Netzwerk Theologie und Hochschuldidaktik, das grundsätzlich überkonfessionell ausgelegt ist, das aber aufgrund der Beschränkung der Teilnahme an der hochschuldidaktischen Aus- und Fortbildung auf katholische Theologinnen und Theologen bis heute größtenteils katholische Mitglieder besitzt.
Im Bereich der Evangelischen Theologie wurde das Thema bezogen auf die Bibelwissenschaften durch eine von Melanie Köhlmoos 2014 an der Universität Frankfurt unter dem Titel Verstehen von Anfang an initiierten Tagung erstmals intensiver behandelt. Der Verlauf der Tagung zeigte, dass an verschiedenen deutschen Universitäten profilierte hochschuldidaktische Konzepte entwickelt wurden, die bis zur Tagung kaum über die jeweilige Universität hinaus bekannt waren. Bisher gab es keinen Ort für einen Erfahrungsaustausch, Reflexion und Fortentwicklung dieser Ansätze. Als Reaktion auf das Bedürfnis der teilnehmenden Dozentinnen und Dozenten, im weiteren Austausch zu bleiben, wurde zum Abschluss der Tagung unter dem Titel der Tagung ein Forum für bibelwissenschaftliche Didaktik gegründet. Dieses führte seine erste Jahrestagung 2015 im Theologischen Zentrum Wuppertal durch. Gegenstand der Tagung war die hochschuldidaktische Methodik des exegetischen Proseminars. Ergebnisse dieser Tagung werden in der zweiten Ausgabe dieser Zeitschrift vorgestellt.
Die während der Tagung sichtbar gewordenen Problemlagen, in denen sich Hochschuldozentinnen und Hochschuldozenten der theologischen Studiengänge derzeit befinden, rufen unterschiedliche Bedürfnisse hervor, die Grundlage des Konzepts von Verstehen von Anfang an sind. Mit der Zeitschrift bieten wir ein Forum für alle, die sich dieser Aufgabe stellen. Gegenstand der Zeitschrift wird es in den kommenden Jahren sein, Dozierende in Problemstellungen der fachspezifischen Hochschullehre einzuführen, mit Lehr-/Lernbeispielen akademischer Lehre Möglichkeiten zu präsentieren, die Lehrpraxis zu erweitern, und Lehrende zur Reflektion ihrer eigenen Praxis einzuladen. Dies möchten wir innerhalb der Zeitschrift auf unterschiedliche Weise befördern. Nach der Aufnahme von Perspektiven bibelwissenschaftlicher Hochschuldidaktik in dieser Ausgabe wird die Zeitschrift Themenhefte umfassen, die grundlegende Beiträge zum jeweiligen Thema des Hefts, Lehr-/Lernbeispiele aus der Hochschulpraxis, Rezensionen zu Publikationen, die im akademischen Unterricht eingesetzt werden oder sich mit diesem auseinandersetzen, sowie ein Interview mit einer Exegetin bzw. einem Exegeten, in dem sie/er Motivation, Schwerpunktsetzung und Konzept der eigenen Lehrpraxis darlegt, beinhalten. Ergänzt werden die Lehr-/Lernbeispiele durch Materialien für den Einsatz der vorgestellten Praxis, die online abgerufen werden können.
Die Perspektiven bibelwissenschaftlicher Hochschuldidaktik, die in Heft 1 präsentiert werden, sind mannigfaltig. Im Eingangsartikel regt Sandra Huebenthal zu einer Verbesserung exegetischer Lehre an deutschsprachigen Hochschulen an, in dem sie ihren eigenen Bildungsweg sowie ihre Lehrpraxis reflektierend aus hochschuldidaktischer Perspektive Lehr-/Lernprozesse für den exegetischen Unterricht und die für ein Gelingen dieser Prozesse entscheidenden Kriterien nennt. Norbert Brieden geht in seinem Beitrag aus der Perspektive konstruktivistischer Religionspädagogik auf den Prozess des Verstehens ein. Für ihn stellt der Anspruch, von Anfang an zu verstehen, eine Paradoxie dar, die sich durch die Reflexion des Verstehensprozesses auflöst. Er weist den hohen Wert der Irritation für das Lernen aller am Lehr-/Lernprozess Teilnehmenden auf, die einen ständigen Perspektivwechsel zulässt, der ein forschendes Lernen erst möglich werden lässt. Einen texttheoretischen Zugang zur Hochschuldidaktik in den Bibelwissenschaften bietet Melanie Köhlmoos in ihrem Beitrag. In ihm zeigt sie auf, welche Kompetenzen heutige Studierende bezogen auf die Entwicklung von Texttheorien besitzen. An den Beispielen der Genese der Harry-Potter-Romane, der Star-Wars-Saga und der Herr-der-Ringe-Trilogie, mit denen die heutigen Studierenden aufwuchsen, legt sie das große Potential der Studierenden offen, sich mit Texttheorie und ihren Hypothesen zur Textentstehung akademisch beschäftigen zu können. Im letzten Hauptbeitrag geht Jan Heilmann auf die Möglichkeiten der Begleitung von Lehrveranstaltungen durch eLearning-Elemente ein. Er hebt hervor, dass der Einsatz von eLearning kollaboratives Forschen und individuelles Lernen ermöglicht, durch das vor allem in Großgruppen individualisierte Lernprozesse besser als im reinen Präsenzunterricht möglich sind. Abgeschlossen wird Heft 1 schließlich mit zwei Rezensionen einem Interview. Andreas Lindemann gewährt einen Einblick in seine hochschuldidaktischen Schwerpunktsetzungen im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit als Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel, an der Universität Bielefeld und an weiteren deutschen Hochschulen und Universitäten.
Die neue Zeitschrift ist Teil des Forums Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an. Neben der Zeitschrift sind die Jahrestagungen fester Bestandteil des Forums. Die zweite Jahrestagung wird vom 26.–29. September 2016 an der Technischen Universität Dresden durchgeführt. Sie wird sich dem Thema Bildmedien im bibelwissenschaftlichen Unterricht widmen. Auf der Tagung werden Varianten des Einsatzes von Bildmedien zwischen Ikonographie und Rezeption sowie die damit verbundenen didaktischen Konzepte thematisiert.
Literatur
Blasberg-Kuhnke, Martina: Bilden für den Religionsunterricht – Theologie studieren zwischen Bologna-Prozess und Religionsunterricht in der Schule, in: Betzikofer, Norbert/Lätzel, Martin (Hg.): »Ihr sollt meine Zeugen sein« (Apg 1,8). Glauben leben und weitergeben (FS Schulte), Münster 2009, 12–22.
Evangelische Kirche in Deutschland, Die Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie für Kirche, Hochschule und Gesellschaft (EKD Texte 90), Hannover 2007.
Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Theologisch-Religionspädagogische Kompetenz. Professionelle Kompetenzen und Standards für die Religionslehrerausbildung (EKD Texte 96), Hannover 2008.
Evangelische Kirche in Deutschland: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014.
Huebenthal, Sandra: Was ist exegetische Kompetenz?, in: Bruckmann, Florian/Reis, Oliver/Scheidler, Monika (Hg.): Kompetenzorientierte Lehre in der Theologie. Konkretion – Reflexion – Perspektiven (Theologie und Hochschuldidaktik 3), Berlin 2011, 65–84.
Kohler, Jürgen: Schlüsselkompetenzen und »employability« im Bologna-Prozess, in: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., Schlüsselkompetenzen und Beschäftigungsfähigkeit. Konzepte für die Vermittlung überfachlicher Qualifikationen an Hochschulen (Positionen), Essen 2004, 5–15.
Koch, Lambert T.: Die vereinnahmte Universität. Ein Appell für Offenheit mit Augenmaß, F&L 22 (2015), 1002–1004.
Koller, Sabine/Klatt, Matthias: Lehre in der Krise? Warum sich die Verhältnisse ändern müssen und nicht die Ideale, F&L 19 (2012), 448f.
Preißler, Rüdiger: Kompetenzorientierte Hochschuldidaktik, in: Bruckmann, Florian/Reis, Oliver/Scheidler, Monika (Hg.): Kompetenzorientierte Lehre in der Theologie. Konkretion – Reflexion – Perspektiven (Theologie und Hochschuldidaktik 3), Berlin 2011, 17–36.
Pletl, Renate/Schindler, Götz: Umsetzung des Bologna-Prozesses. Modularisierung, Kompetenzentwicklung, Employability, HSW 55 (2007), 34–38.
Schaeper, Hilde/Wolter, Andrä: Hochschule und Arbeitsmarkt im Bologna-Prozess. Der Stellenwert von »Employability« und Schlüsselkompetenz, ZfE 11 (2008), 607–625.
Spoun, Sascha: Ein Studium für’s Leben. Reflexion und Zukunft der Bologna-Reform deutscher Hochschulen: eine Alternative, HSW 55 (2007), 46–53.
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Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)
Jahrgang 1–2016, Heft 1
Vom Zauber der Schriftauslegung
Ein hochschuldidaktischer Blick auf Exegese
Sandra Huebenthal
Abstract | This contribution deals with the relation of exegesis and teaching strategies. It works from the observation that recipients initially come with an enthusiasm for biblical texts and are eager to learn more, but their enthusiasm fades when they are confronted with the standard exegetical methods that render exegesis to be some kind of secret science which is, on top, far from their actual life and faith. Standard secondary sources seem to be of little help either, for they often discuss all kinds of methodological and research questions instead of dealing with the text itself. This kind of frustration re-appears when these students become teachers: they tend to pass on their frustration to their learning groups.
University teachers should, however, dedicate their time and energy to the search for strategies to overcome this frustration and re-kindle the joy of discovery in their students. Little changes like the reading of a whole biblical book instead of a pericope can lead to surprising discoveries and deeper understanding. Competence-oriented exegesis in the times of Bologna further needs more reflection on learning outcomes on part of the teachers. They need to overcome unrealistic aims and excessive expectations as well as realize that they might still be learners when it comes to passing on their knowledge. The contribution mentions strategies for modelling courses and closes with an outlook on the development of exegetical and didactical competence.
Exegeten sind Zauberkünstler. Zumindest habe ich es während meines Studiums so wahrgenommen und war fasziniert davon, wie meine Dozenten mit der Bibel umgegangen sind. Ein Echo dieser Faszination fand ich unlängst bei der Durchsicht alter Unterlagen. Die Dankesrede, die ich 2001 anlässlich der Verleihung des Förderpreises für meine Diplomarbeit gehalten habe, begann mit den Worten: »Wenn Bibelwissenschaftler das Wort ergreifen, erwartet man entweder einen fesselnden Vortrag, bei dem sich mit detektivischer Sicherheit ein Detail zum anderen fügt und man zum Ende hin eine völlig neue Perspektive auf ein altbekanntes Phänomen bekommt – oder man befürchtet, mit unverständlichen Wortketten und fachspezifischen Begriffen erschlagen zu werden, die nur ein erlauchter Kreis von Fachleuten versteht und die beim gewöhnlichen Auditorium bereits nach wenigen Minuten extreme Ermüdungserscheinungen hervorrufen.«
Beim Wiederlesen war ich überrascht, wie punktgenau diese Gedanken widerspiegeln, welche Art von Reaktionen Exegese in vielen Fällen hervorruft. Da ist zum einen die Begeisterung für den Text, die ansteckt und neugierig macht, mehr zu erfahren und mehr zu lernen, und zum anderen die Ablehnung einer Art Geheimwissenschaft oder Beschäftigung im Elfenbeinturm, die der theologisch Interessierte normalerweise nicht versteht und die mit dem eigentlichen Leben und Glauben nicht viel zu tun zu haben scheint.
Aufgrund meiner Erfahrungen als Lehrende und Lernende in der Bibelwissenschaft vermute ich, dass die Ersterfahrung mit »Exegese« für die Einzelnen prägend ist und diese Prägung über den individuellen Lernenden hinausgeht. Im Verlauf des Studiums und als Hochschullehrerin habe ich häufig die Erfahrung gemacht, dass sich an der Exegese die Geister scheiden: Studierende sind entweder begeistert oder ablehnend, und das nicht allein deshalb, weil für die Exegese Altsprachenkenntnisse in Latein, Griechisch oder gar Hebräisch zu erwerben waren. Während ich als Religionslehrerin in einer berufsbildenden Schule arbeitete, bot sich mir ein ähnliches Bild, das Kolleginnen und Kollegen aus anderen Schulformen bestätigen: Wenn man den Klassenraum mit einem Satz Bibeln betritt, stöhnt die Lerngruppe zumeist gequält auf.
Dass die Reaktionen von Studierenden und Schülern zusammenhängen, liegt auf der Hand, doch erschloss sich mir lange nicht, wie sie verbunden sind. Dass sie mit dem Lerngegenstand, also der Bibel selbst, zu tun haben, halte ich für ausgeschlossen. Der Grund muss an einem anderen Ort zu finden sein. Als ich begann, meine eigenen exegetischen Ansätze in Lehrerfortbildungen einzubringen und die Erfahrungen aus den unterschiedlichen Lernfeldern im Rahmen hochschuldidaktischer Weiterbildung zu sammeln und zu reflektieren, wurde das Bild klarer. Auch die Lehrerfortbildungen zeigten das bekannte Muster: Es gab diejenigen, die begeistert waren, und diejenigen, die nur deswegen kamen, weil die Veranstaltung akkreditiert war, günstig lag, und sie noch Weiterbildungspunkte brauchten. Der Aha-Effekt bei den Lehrern, die häufig in den 70er und 80er Jahren studiert hatten, bestand in vielen Fortbildungen in der Feststellung, dass man Exegese auch ganz anders machen kann, als sie es im Studium kennengelernt hatten, und dass Bibelauslegung durchaus eine lustvolle Beschäftigung sein kann.
Sandra Huebenthal *1975, Dr. theol., ist Professorin für Exegese und Biblische Theologie an der Universität Passau. Sie studierte Kath. Theologie in Frankfurt/Sankt Georgen und Dublin. Seit 2011 ist sie in der Leitung der hochschuldidaktischen Weiterbildung Theologie Lehren Lernen in Trägerschaft des Katholisch-Theologischen Fakultätentags und der Deutschen Bischofskonferenz. Sie ist seit 2015 bei der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik (dghd) akkreditiert.
Unter Hochschullehrenden wird gerne geflachst, dass wir in den exegetischen Lehrveranstaltungen gegen die Lehrer und Pfarrer unserer Studierenden ankämpfen, und tatsächlich ist weit mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in dieser lapidaren Feststellung enthalten. In der Tat sind es zumeist die früheren Erfahrungen mit hermeneutischen und methodischen Zugängen und ihrer Vermittlung, die den Lernenden die Freude an der Bibel nehmen. Die Eindrücke sind so nachhaltig, dass die Studierenden ihre Vorbehalte in die späteren Arbeitsfelder Pastoral und Schule mitnehmen und dort unbewusst weitergeben. Wer sich durch exegetische Vorlesungen, Pro- und Hauptseminare quälte, wird in der eigenen beruflichen Tätigkeit selten überzeugt Freude an der Bibel und ihrer Auslegung verkörpern, und wer im Studium lernte, dass Exegese immer hochwissenschaftlich sein muss, um wirklich Exegese zu sein, wird sich schwer tun, kreative und originelle Auslegungsangebote zu machen.
Wie vertrackt die Situation ist, lässt sich an zwei Beispielen aus meinem exegetischen Alltag verdeutlichen. Eine meiner Standardfragen in exegetischen Grundkursen lautet: »Wenn Sie das Gleichnis XY auslegen wollen, was lesen Sie als erstes?« Auf die eigentlich nahe liegende Antwort: »den biblischen Text«, kommen die wenigsten. Gewöhnlich überlegen die Studierenden, welcher Kommentar am besten geeignet sein könnte. Man mag einwenden, zunächst den Text zu lesen, verstehe sich doch von selbst, doch die Realität sieht oft anders aus. Ich habe zu viele Studierende erlebt, die unterschiedliche Auslegungen vorstellen konnten, aber nicht so recht wussten, was genau im Text steht, um an diesen Automatismus zu glauben. Hinzu kommt, dass die Kommentarliteratur mitunter wenig hilfreich für die Auslegung eines Textes ist. Als ich in der Abschlussphase meiner Promotion eingeladen war, einen Einkehrtag zu Jesaja 58 zu gestalten, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass keiner der Kommentare, die in unserer gut sortierten Bibliothek standen, bei der Frage der Auslegung von Jesaja 58 weiterhelfen konnte. Über den Wachstumsprozess und literarische Schichten des Buches war sehr viel zu erfahren, weniger schon über das literarische, religionsgeschichtliche und soziale Umfeld, und Impulse für die Auslegung blieben die Kommentare gänzlich schuldig. Ich fragte mich damals, wie sich auf dieser Grundlage Predigten entwickeln lassen, und einer meiner Lehrer der Exegese des Alten Testaments gestand ein, dass er auf diese Frage auch keine Antwort habe.
Es bleibt der Eindruck, dass Bibelauslegung eine Sache für Fachleute ist, bei der man sich erst nach Jahren des Trainings fremder Sprachen und komplizierter Methoden aus der Deckung trauen darf und selbst dann in den Augen der gestrengen Fachleute selten Gnade findet. Oder anders herum formuliert: dass man bei der Exegese eine Menge falsch machen kann und wenig Spaß verspürte, wenn man nicht zu den »happy few« gehört, die sich dieser Sache mit Haut und Haaren verschreiben.
Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Die Fähigkeit, gute Exegesen zu schreiben, ist etwas, das jahrelange Erfahrung und Training braucht. Gute Exegeten mögen wie Zauberer sein, doch sie lassen sich nicht einfach herbeizaubern. Nach Jahrzehnten einer hermeneutischen Monokultur an den Universitäten ist es nicht verwunderlich, wenn die ehemaligen Studierenden und heutigen Multiplikatoren in Pastoral und Schule glauben, dass Exegese wenig mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hat und dass sie – da sie nur selten in der Praxis anwenden können, was sie im Hörsaal lernten – den Eindruck haben, mit ihren vermeintlich unwissenschaftlichen Zugängen Theologen zweiter Klasse zu bleiben, die im Grunde nichts Wesentliches über die Bibel sagen oder zur Weitergabe ihrer Auslegung beitragen können.
Wenn Exegese die Lernenden nicht zu eigenen Auslegungen befähigt und ihnen den Spaß und die Entdeckerfreude lässt, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich das »exegetische Trauma« in den Gemeinden und Schulen fortsetzt und die Bibel ein Schattendasein führt. Es erklärt, warum Prediger biblische Texte mitunter steinbruchartig als Impuls- und Stichwortgeber verwenden, um die eigene Meinung zu untermauern, und warum biblische Geschichten im Unterricht Gefahr laufen, pädagogisch oder katechetisch verzweckt zu werden. Dann kann es schon mal passieren, dass Zachäus am Text vorbei zu einer »tollen Geschichte gegen Mobbing« wird und das Gleichnis vom Senfkorn an der Realität nahöstlicher Botanik vorbei dafür herhalten muss, im Selbstversuch mit dem Blumentopf zu lernen, dass das Kleine beschützt und gepflegt werden muss, damit es groß werden und seinerseits Schutz bieten kann.