Kitabı oku: «Fünf Jahreszeiten»
Sie hat ihren Master in Filmwissenschaften abgebrochen und arbeitet im Kunstmuseum als Aufseherin. Während ihr Arbeitskollege Nikola unter der Treppe schläft, beobachtet sie den Staub im Sonnenlicht, lauscht den Stimmen der Kunstvermittlerinnen, wartet, dass die Zeit vergeht. In der Stille werden ihre Gedanken laut, die weißen Wände füllen sich mit Erinnerungen, an Adam, ihren Geliebten, den sie aufgegeben hat für Manuel, ihren Freund. Unentschlossen streift sie durch die Stadt, trifft den alten Paul, lässt sich treiben zwischen Resignation und Hoffnung, trauert um den verlassenen Geliebten, den verstorbenen Vater, vermisst die Mutter, die nicht anwesend ist.
«Fünf Jahreszeiten» erzählt eine Episode aus dem Leben einer jungen Frau, in der nichts und alles möglich scheint und sich doch Entscheidungen aufdrängen – musikalisch, poetisch, mit leisen Tönen und von großer Dringlichkeit.
«Fünf Jahreszeiten» wurde im Manuskript ausgezeichnet mit dem Literaturpreis «Das zweite Buch» der Marianne und Curt Dienemann Stiftung.

Foto Matthias Günter
Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren im ehemaligen Jugoslawien, kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt in Bern. Sie studierte Literatur und Germanistik, gründete das Lyrikatelier und arbeitet als freie Autorin. Ihr erster Roman «Elefanten im Garten» war nominiert für den Schweizer Buchpreis, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2020 wurde sie zu den Tagen der Deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt eingeladen (Bachmannpreis).
Meral Kureyshi
Fünf
Jahreszeiten
Roman
Limmat Verlag
Zürich
Ich warte auf Adam, am Bahnhof, in der hohen Eingangshalle, vor dem See der vier Kantone. Die reflektierende Sonne blendet, draußen spielt ein Musiker auf seinem Akkordeon ein Lied, das mich an meine Kindheit erinnert.
Adam wurde für den Master an der Kunsthochschule angenommen, weit weg am nordatlantischen Ozean, wo die Clyde durchfließt.
Als er plötzlich auftaucht, laufe ich auf ihn zu und umarme ihn lange, sein Wachsjackett riecht tatsächlich nach Wachs, der warme Hals versteckt mein Gesicht.
Ich steige in den Bus, der zum Flughafen fährt. Er raucht draußen zu Ende, schaut auf sein Telefon und steigt auch ein.
Während der ganzen Busfahrt hält mich Adam in seinem Arm. Erst als wir ankommen, lässt er mich los.
Am Flughafen blendet die Sonne und wärmt unsere Haare.
Wir warten nicht, die Zeit vergeht einfach, während wir in der Schlange stehen, um das Gepäck aufzugeben. Alle schweigen, als wäre das Sprechen verboten.
Adam öffnet die große Ledertasche, er verstaut seine Jacke und sein Telefon darin.
Schöne Erinnerungen, sagt er, als ich das Fotoalbum heraushole und darin blättere. Tagelang habe ich unsere Fotos sortiert, eingeklebt, zu jedem Foto etwas geschrieben.
Ich fahre über die Tätowierung an der Innenseite seines linken Ringfingers, die etwas verblasst ist.
Der erste Buchstabe meines Namens.
Ich muss sie nachstechen lassen, spricht er leise, ohne dass ich etwas sage, und streicht mit dem Daumen über den Buchstaben, der aussieht wie ein fliegender Vogel.
Ich fange an zu weinen.
Was ist los?, fragt Adam.
Ich kann nicht mitkommen, sage ich und bin selbst erstaunt über die Wörter, die aus meinem Mund kommen.
Adam schaut mich erschrocken an.
Ich schweige. Wahrscheinlich wollte ich genau diese Trauer in seinem Gesicht sehen.
Was sagst du da?, fragt Adam mit zitternder Stimme.
Ich kann nicht, es fühlt sich nicht richtig an.
Dann stößt er mich von sich.
Wie kannst du mir das antun? Ich habe dir geglaubt, sagt Adam.
Ich fühle die Blicke der anderen, die mit uns in der Schlange stehen, die nur langsam vorrückt.
Ich liebe dich, sagt Adam verzweifelt, bitte, komm mit, tu mir das nicht noch einmal an.
Ich streiche die Tränen aus seinem Gesicht, drehe mich um und renne davon. Draußen warte ich eine Stunde auf das Abheben seines Flugzeugs.
Meine Tasche ist nicht schwer, doch nach einer Weile schmerzt meine Schulter.
Winter
Manuel schläft tief und fest neben mir. Wenn ich mich zur Seite drehe, dreht auch er sich und hält mich in seinen Armen so fest, dass ich nicht atmen kann. Sein Körper ist wärmer als meiner, auch zieht er die Decke nicht über sein Gesicht, wenn er schläft, wie Adam es immer getan hat.
Als es ganz still wird, so still, dass die Gedanken zu laut werden, der Mund trocken, die Zunge schwer, verlasse ich die Wohnung.
Es ist noch zu früh, die Arbeit im Museum fängt erst in ein paar Stunden an. Der Mond sieht aus, wie ich ihn als Kind gezeichnet habe. Von der gepflasterten Straße sehe ich hoch in den dritten Stock, bemerke das Licht in der Wohnung hinter den Fenstern mit den vertrockneten Tomatensträuchern.
Es hat aufgehört zu regnen, und ich warte auf den Schnee. Der Brunnen ist zu hören, auf dem ein Löwe steht mit einem Speer. Das Wasser lässt sich fallen, es hat keine Wahl. Kerzen leuchten hinter anderen Fenstern, auch sie warten auf Weihnachten. Die meisten Fenster haben keine Vorhänge.
Hallo?, rufe ich leise durch die Laube, meine Stimme erklingt wie von weit her, sie zittert durch die Gassen.
Es antwortet niemand.
Die Gasse führt hinunter, sie macht einen kleinen Bogen nach links und mündet in eine größere Straße. Die Brücke ist mit Steinen gepflastert, unten fließt im Dunkeln der Fluss zäh wie Pech, die Laternen leuchten gelb.
Hinter dem Hochsicherheitszaun schlafen die Bären noch, Kameras bewachen sie. Erst kürzlich war ein geistig verwirrter Mann in das Gehege gesprungen und wurde dabei schwer verletzt. Ein Stacheldraht schützt zusätzlich das Gelände. Wenn die Bären nicht schlafen können, gehen sie im Kreis, als würden sie ihren eigenen Spuren folgen. Jetzt sind nur dunkelgraue Büsche zu sehen, die Nacht hat ihre Farben versteckt.
Über die dicke Mauer der Brücke hingen Adam und ich kopfüber, und ich ließ meinen Kaugummi ins Wasser fallen.
Jetzt erstickt ein Fisch daran, sagte Adam.
Eine Treppe führt hoch zum Obstbergquartier, wo es keine Restaurants oder Cafés gibt, wo Familien wohnen hinter den prachtvollen Fassaden. Wo kleine Roboter, die den ganzen Tag unermüdlich ihre Runden drehen, um den Rasen zu mähen, im Keller Winterschlaf halten.
Ich gehe an den Bären vorbei rechts die Straße hoch, von der zweiten Bank am Hang schweift mein Blick über die Stadt, zu den zwei Brücken, über die Dächer bis hin zum Münster.
Die Lichter der Stadt leuchten wie Glut in der Asche.
Wenn ich Schnaps getrunken hatte, fühlte sich der Wind auf dem Fahrrad weicher an, auch die Weite wirkte weiter, und die kleine Stadt wurde riesengroß. Ich konnte untertauchen zwischen unbekannten Menschen, deren Gesichter verschwammen. Sonst hatte ich Adleraugen, wie Manuel sagte, der kurzsichtig ist. Nicht einmal mit der Brille konnte er die Minuten auf der Anzeigetafel lesen. Wer zuerst erkannte, wann der nächste Bus fuhr, hatte gewonnen. Er brauchte meist sieben Schritte mehr. Manuel wollte sich die Brille nicht korrigieren lassen, fürchtete, danach noch schlechter zu sehen, die Augen könnten sich an die Korrektur gewöhnen und würden sich nicht mehr anstrengen. Manchmal ging er ohne Brille aus dem Haus, und ich zog ihn an der Hand hinter mir her. Beim belebten Eckcafé grüßte er, aus Angst unfreundlich zu wirken, in die verschwommene Menschenmenge. Irgendwer winke immer zurück.
Das violette Fahrrad stellte ich nach Mitternacht vor dem Museum ab, ging über den großen Parkplatz vor der ehemaligen Reitschule in das kleine Theater, wo ich Nikola in der tanzenden Menge suchte, Manuel blieb zu Hause, er kam vom Weihnachtsessen bei seinen Eltern.
Ich wärme dir das Bett vor, sagte er, bevor ich ging.
Die tanzenden Menschen auf der Bühne schob ich mit den Unterarmen zur Seite, zugleich trocknete ich ihren Schweiß an meiner Hose ab. Ein paar Betrunkene dösten auf den roten Stühlen, Rauch stieg zur Decke empor. Als ich meinen Blick von der Menge abwendete, stand er vor mir.
Hallo, sagte er.
Hallo, sagte ich.
So fing es an.
Ein Fremder kann über Nacht zur wichtigsten Person werden, dann verwandelt sich der gleiche Mensch ganz langsam über Jahre wieder in einen Fremden zurück.
Adam trägt ein Haus auf seinem linken Handrücken, ein einfaches Haus mit sechs Strichen, gerne würde ich mich darin verstecken. Das Haus hat keine Fenster, auch keine Tür.
Draußen fiel der Schnee, das erste Mal in diesem Jahr, auf mein Gesicht, ich machte die Augen zu, sein Atem wurde lauter neben mir.
Frohe Weihnachten, sagte ich.
Ich kannte sein Lachen nicht, alles war neu an ihm, anders als bei Manuel. Leiser und zurückhaltender, er sprach nicht viel, als müsste ich seine Gedanken lesen.
Du kommst mir bekannt vor, sagte ich, du siehst aus wie Edward mit den Scherenhänden.
Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ist, sagte er, und ich zog die Schultern hoch.
Wir seien uns schon oft begegnet, erzählte er. Das erste Mal habe er mich in der Unibibliothek gesehen, er wusste noch genau, was ich gesagt hatte, auch dass ich den blauen Schal meiner Mutter nie auszog und oft aufstand, um mir etwas zu trinken zu holen.
Einmal sei ich in die Straßenbahn Nummer neun gestiegen – bevor er nach meinem Namen habe fragen können, sei ich schon wieder draußen gestanden, in einem beigen Mantel und dunkler Hose.
Deine Lippe war verletzt, sagte Adam, und deine Haare bewegten sich vor deinem Gesicht, als ich dir nachsah.
Ich hörte ihm zu, als könnte ich mich nicht erinnern.
Auf dem grauen Parkplatz, wo im Herbst der Jahrmarkt leuchtet, die Karussells sich drehen, fiel der Schnee auf unsere Haare.
Sein langer Hals streckte sich, die helle Haut leuchtete im Mondlicht, das Schlüsselbein war gut sichtbar. Er war groß und schlank, mit dem Daumennagel kratzte er am Zeigefingernagel.
Einmal kreuzten sich unsere Wege, ich erinnere mich noch genau, wie Adam mich mitten auf der Straße an der Hand festhielt, Manuel zog mich weiter.
Wer war das?, wollte Manuel wissen.
Ich weiß nicht, sagte ich und schaute doch zurück.
Neben uns auf der Brücke hinterließ der Zug eine weiße Wolke, die sich zwischen den blattlosen Ästen auflöste. Die Ampel wechselte auf der Straße seine Farbe für niemand. Adam nahm einen Zug von der Zigarette und wirbelte mit dem Rauch die leichten Schneeflocken in der Luft. Es roch nach Urin, die große Bahnhofsuhr lief rückwärts oder blieb stehen. Auf der Steinbrücke setzten wir uns auf die Mauer.
Hast du Angst?, fragte ich.
Nein, sagte Adam.
Manuel wäre niemals auf die Mauer geklettert, auch betrunken nicht. Er konnte nicht einmal die Treppe des Münsters hochsteigen, ohne nach ein paar Metern wieder kehrtzumachen.
Adam ist Löwe, ich mochte Löwen nicht.
Er erzählte etwas von Herkules und dass in der jüdischen Mythologie der Löwe ein Symbol für den Messias sei, ich hörte seiner leisen Stimme zu. Schaute, wie sich sein Mund bewegte. Zeigte in den Himmel und sagte:
Neun Sterne, der hellste ist Refulus, das Löwenherz.
Ich zählte, wie oft er seine Augen zu und wieder aufmachte, dann lachte er, als sich meine Nasenspitze dabei bewegte. Von weitem hörte ich die Musik, neben dem Pfeifen im Ohr.
Manuel rief an, und ich schaltete das Telefon auf stumm. Gleich darauf leuchtete es in meiner Jackentasche.
Bevor ich ging, küsste ich Adams Wange, und sein Duft blieb an meinen Lippen kleben, auf denen ich den ganzen Nachhauseweg über kaute, bis es blutete. Es war sechs Uhr in der Früh, der Schnee setzte sich auf meine Wimpern, legte sich auf die leere Straße, auf die harten Kanten und machte sie rund. Meine Fußabdrücke hinterließen die ersten Spuren im Schnee.
Ich lebe im Stillstand, mit Adam im Kopf. Adam geht nicht weg.
Es ist nicht wirklich, sage ich immer wieder, es ist nicht wirklich.
Was ist nicht wirklich?, fragt Manuel, der meine Unterhose langsam über meine Oberschenkel streift.
Irgendwann schläft er ein, und ich gehe durch den langen Korridor in das große Wohnzimmer, um den Gedanken zu entkommen. Es funktioniert nicht.
An den Holztisch gelehnt sind zwei Stühle, auf dem alten Parkett vertrocknen Blumen in einer Vase, das Wasser beginnt nach Kanalisation zu riechen.
Im Büchergestell liegen Manuels Romane durcheinander. Schwere Bände über Filmgeschichte, die Fotobücher stapeln sich neben dem Regal.
Ich lasse mich auf das schwarze Ledersofa fallen, versuche zu lesen, um meiner Geschichte zu entkommen. Das Sofa lag auf der Straße, mit Manuel habe ich es durch die halbe Stadt getragen, er hat mich verflucht deswegen.
Die Wohnung ist klein, wenn die Fenster offen stehen, kann man den Brunnen hören mit dem Löwen darauf. Hinter den Fenstern sind die übrig gebliebenen Tomaten, manchmal kommt eine Krähe, um an ihnen zu picken.
Die Münsterglocke schlägt draußen laut die Stunden, drinnen bleibt die Zeit stehen.
Unter der Decke friere ich, die alten Fenster sind schlecht isoliert, es dringt kalte Luft ins Zimmer. Die Wohnung ist baufällig. Die Wände noch immer weiß. Ich drehe mich zu Manuel, um mich aufzuwärmen, der mich sofort in seine Arme nimmt.
Du bist ja eiskalt, sagt er, dabei dreht er seinen Kopf in die andere Richtung, um mir seinen Mundgeruch zu ersparen. Erst wenn er die Zähne geputzt hat, darf ich ihn küssen.
Nach kurzer Zeit ist das warme Wasser unter der Dusche aufgebraucht, ich spüle das Shampoo aus meinem Haar. Manuel schaut, während er die Zähne putzt, wie ich dusche, er duscht lieber allein.
Er ist größer als ich, sein Bauch kann sich aufblähen wie ein Ball, wenn er viel trinkt, seine braunen Haare sind immer verstrubbelt, er trägt eine fast unsichtbare Brille auf der Nase. Wenn er lacht, kann man all seine Zähne sehen, die Wimpern, dunkle Kränze, verkleben sich zu Dreiecken, wenn er weint. Ich habe ihn in den sechs Jahren nur zweimal weinen sehen. Einmal sagte ich zu ihm, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein wolle, er ignorierte es, und so blieb es dabei, dass er bei mir wohnte. Er zog ein, als wir uns kennengelernt hatten.
Manuel bewegt seine langen Finger, auch die Zehen, als gehörten sie nicht zu ihm.
Schade, dass du heute nicht mitkommst, sagt er, es ist immer so langweilig bei meiner Familie ohne dich.
Seine Großeltern, Onkel und Tanten treffen sich zum Mittagessen bei seinen Eltern.
Ich muss arbeiten, sage ich, du schaffst das schon.
Niemand will nach Weihnachten im Museum arbeiten. Ich arbeite immer, wenn ich kann. Und das ist auch meine Ausrede, nicht zur Familie von Manuel mitgehen zu müssen.
Sein Bruder und ich verstehen uns nicht. Wenn er betrunken ist, macht er mir anzügliche Komplimente. Sein Vater war gelernter Hochbauzeichner, nannte sich Architekt, weil er sein eigenes Haus in einem abgelegenen Dorf mit Seesicht mitentworfen hat, worauf er stolz ist. Die Designermöbel stehen auf einem kalten Plattenboden, der immer glänzt, die offene Küche bietet viel Platz und freie Sicht zum Pool im Garten, der im Winter zugedeckt ist. Als Kind hat sich Manuel die Nase aufgeschlagen, als er hineinspringen wollte und ausgerutscht ist, er schlug mit dem Gesicht auf die Kante des Pools und musste mit vier Stichen genäht werden. Die Narbe ist noch sichtbar, und er erzählt die Geschichte jedes Mal, wenn wir dort sind.
Seine Mutter bedient die drei Männer, als wären sie Kleinkinder. In der Innenstadt führt sie ein kleines Lokal mit Delikatessen.
Als Kind dachte er wie ich, dass ihn die Eltern adoptiert hätten oder auf der Straße gefunden. Noch nie haben ihm seine Eltern gesagt, dass sie ihn lieben.
Das sei hier halt so, meinte Manuel immer, als müsste er sich dafür entschuldigen, überall gebe es andere Codes, andere Sitten, auch habe das nichts damit zu tun, dass ihn seine Eltern nicht lieben würden, sie würden es halt nicht aussprechen.
Manchmal lachen wir darüber, wenn mein Onkel mich anruft und sagt, wie sehr er mich liebe, vermisse, mir Komplimente macht. Dasselbe wäre bei seinem Vater und der Cousine übergriffig.
Auf dem Tisch im Aufenthaltsraum liegt ein Riegel mit Apfelgeschmack. Ich weiß nicht, wem er gehört, und esse ihn heimlich auf der Toilette. Die Verpackung lässt sich nicht hinunterspülen, so greife ich mit der Hand ins Wasser, wickle die Verpackung in Toilettenpapier, um sie zu entsorgen, ohne dass sie jemand sehen kann.
An der Wand hängt ein weißer Strand mit Palmen.
Ich trage meinen Namen in die Anwesenheitsliste ein, nehme das Namensschild mit Foto aus der Schublade, das ich über den Kopf ziehe. Der blaue Bändel passt nicht zu schwarz.
Nikola schläft unter der Treppe. Als ich ihn wecke, erschrickt er, Alice kommt und gewonnen, sage ich. Wer den anderen zuerst findet, gewinnt, nichts Konkretes, nur gewinnen, das ist mehr als genug.
Seine dunklen Haare streift er zur Seite, sie fallen auf seine Schultern. Wenn er lacht, zeigt sich die Zahnlücke. Seine große Nase steht etwas schräg im Gesicht, die Augen weit auseinander, seine langen Wimpern umrahmen einen sanften Blick. Sein Bart wächst fleckenhaft, deshalb lässt er seinen Schnurrbart wachsen. Auf der hohen Stirn ist eine Narbe sichtbar, als Kind habe ihn sein Bruder mit einem Messer bedroht, aber Nikola wollte die Puppe nicht hergeben, ihre Haare hatte sein Bruder bereits so kurz geschnitten, dass kaum mehr was geblieben war. Nikola wollte nicht, dass sein Bruder sie auszog, wie er das immer tat, ihr den Kopf, die Arme, sogar die Beine ausriss, um sie einzeln in der ganzen Wohnung zu verteilen. Nikola versteckte die kleine Puppe unter seinem Pullover, da habe sein Bruder zugestochen.
Ich habe ihm die Geschichte nie geglaubt.
Er stellt sich neben mich, vor das Gemälde des surrealistischen Malers, dessen Bilder manchmal so klein sind wie meine Hand.
Warum steht ihr beieinander?, fragt Alice, die Oberaufseherin.
Ich geh ja schon, sagt Nikola, reißt Grimassen hinter Alice. Als sie weg ist, schleicht er sich wieder zu mir, dahin, wo keine Kameras sind.
Nikola sagt: Wenn man das Gegenständliche malen kann, dachte sich der Künstler, kann man auch das Surrealistische darstellen.
Wir schauen uns die flüssigen Uhren auf seinem Telefondisplay an, versuchen die Zeit darin zu erkennen.
Mein Leben langweilt mich, sage ich.
Ein Leben kann nicht langweilen, sagt Nikola, du bist langweilig.
Eine blinde Frau steht mit ihrem Freund in der Eingangshalle, der ihr leise erzählt, was er sieht. Ich folge ihnen und höre ihm zu, manchmal schließe ich die Augen.
Im alten Teil des Museums hängt die Sammlung. Der Terrazzoboden mit seinen farbigen Ornamenten und eingearbeiteten Jahreszahlen zieht sich die Wendeltreppe hoch in den ersten Stock zu der nackten Frau im hellen Marmor. Ihr Blick wendet sich nie von der Sandsteinwand ab, die meisten Bilder hängen weit weg von ihr – sie kann ihren Kopf nicht drehen, um sie anzusehen. Kein Besucher kommt ihretwegen ins Museum. Die dicken Sandsteinmauern halten das Gebäude im Sommer kühl, im Winter warm.
Ich ziehe mir nach der Arbeit die Jacke an, so langsam, bis alle anderen gegangen sind, und schaue lange das Poster mit dem Palmenstrand an. Nichts bewegt sich, nur meine Augen.
Auf der Straße, die zum Bahnhof führt, drehe ich mich noch einmal um, lese den Satz, der in Neonschrift an der Fassade des Museums leuchtet.
VEDO DOVE DEVO.
Ich sehe, wo ich muss, übersetzt Google.
Das unsichtbare Sehen, sagt Manuel, der mich abgeholt hat, er hasst die Kälte, bleibt auf keinen Fall stehen, wenn er nicht muss. Er will sich keine Winterjacke kaufen, seine grüne Lederjacke trägt er das ganze Jahr über und zittert darunter.
Hör auf, mich zu belehren, sage ich, das nervt.
Ich mochte die Kälte schon immer lieber als die Wärme, der man ausgesetzt ist.
Manuel erzählt mir im Bett liegend ausführlich vom Tag bei seiner Familie, und ich bin froh, nicht dort gewesen zu sein.
Manchmal, sagt Manuel, war es ganz still, sodass es unangenehm wurde. Alle fragten nach dir.
Irgendwann schläft Manuel ein, und ich gehe spazieren.
Auf dem Vorplatz vor der ehemaligen Reithalle stehen betrunkene Jugendliche, unter der Eisenbahnbrücke stinkt es, ich halte die Luft an, bis ich im Innenhof des Theaterfoyers bin. Es ist schon fast zwei Uhr morgens. Auf die roten Sitze haben sich wieder ein paar Betrunkene gesetzt wie jedes Jahr am Tag nach Weihnachten, dafür füllt sich die Bühne mit tanzenden Menschen.
Adam ist nicht da, dennoch suche ich ihn in der Menge.
An der Bar bestelle ich einen Rotwein, der Tresen klebt unter meinen Handflächen.
«Manchmal gehe ich nur nach draußen, um von jemandem gesehen zu werden», steht mit einem Kugelschreiber geschrieben. Hinter der Bar ein weißes, naturgetreues Papppferd in Lebensgröße, das einen trompetenspielenden Affen trägt mit einem Blumenkranz auf dem Kopf.
Das Glas ist überfüllt, ich verschütte etwas auf den Tresen, auf die Zeilen, und setze mich auf einen der hochgeklappten roten Stühle, schaue den Rauchschwaden nach, wie sie in der Hitze aufsteigen in den hohen Raum, hier darf man noch rauchen. Ich habe schon geraucht, als ich noch nicht auf der Welt war, danach habe ich aufgehört.
Den Wein trinke ich in großen Schlucken, als könnte ich vergessen, die Gedanken bleiben im Hals stecken.
Auf der Steinbrücke lehne ich mich über die Mauer, die Aare fließt weit unten in Richtung Meer.
Ich wecke Anne mit meinem Anruf, entschuldige mich und lege wieder auf. Anne ruft zurück:
Einer Mutter dürfe man nicht auflegen, das sei, als würde man ihr ein Messer ins Herz stechen, so sagt sie.
Ihre Regeln vermehren sich von Tag zu Tag.
Als Kind bist du immer weggelaufen, wenn du nicht gekriegt hast, was du wolltest, sagt Anne.
Du läufst doch weg, Anne, wenn etwas nicht so ist, wie du es gerne hättest, sage ich, Baba wird nicht wiederkommen, aber du könntest bei mir sein.
Als ich zu Hause bin, schreibt mir Adam eine Nachricht, dass er mich suche im Theaterfoyer, mich nicht finde an der Bar, auch nicht auf den roten Stühlen, er sitze auf dem Geländer der Steinbrücke.
Ich lösche die Nachricht, ohne zu antworten, und schlafe ein.