Kitabı oku: «Die Seele im Unterzucker», sayfa 8
Einige Tage später erfuhr ich durch meine Großeltern, dass er wohl doch bei der Feierlichkeit dabei gewesen war und fühlte mich hintergangen. Nicht, dass ich es ihm nicht von Herzen gegönnt hätte, so wie allen anderen auch. Aber es fühlte sich so gemein an, dass es allen anderen vergönnt war, nur nicht mir. Was hatte ich wohl alles verpasst? Ich besuchte sie anschließend für einige Zeit nicht mehr und war äußerst eingeschnappt.
Ich verspürte ein ähnlich starkes Gefühl der Ausgeschlossenheit, als für meine Klasse im 7. Schuljahr eine Woche im Schullandheim bevorstand. Diese sollte hauptsächlich aus langen Wanderausflügen und Tagen im Kletterwald bestehen. Als ich erstmals davon hörte, freute ich mich sehr darauf. Bis mir meine Lehrerin verkündete, ich dürfe aufgrund meiner Sehnenverkürzung nicht mitgehen. Sie hielt es körperlich für zu anspruchsvoll, da sie einen vergangenen Schulausflug im Zoo noch deutlich vor Augen hatte. An jenem Tag tat mir nach vielen Stunden des Laufens der rechte Fuß unendlich weh und ich musste mich des Öfteren hinsetzen und pausieren. Es wäre daher nur in meinem Sinne und auch in jenem meiner Klasse, da nicht 35 andere Kinder ständig Rücksicht auf einen Einzelnen nehmen könnten. Ich sollte diese Woche in der Parallelklasse verbringen, welche ganz normalem Unterricht nachging.
Meine Mutter fand diese Entscheidung ebenfalls nicht korrekt und versprach mir dafür zu sorgen, dass ich jene Woche wenigstens zuhause bleiben dürfte und nicht „zur Strafe“ noch den regulären Unterricht besuchen müsste, während sich meine Klassenkameraden im Kletterwald amüsieren durften. Nachdem sie mit meiner Klassenlehrerin gesprochen hatte, bestand das Ende vom Lied darin, dass ich jene Woche nun doch in der Parallelklasse verbringen musste. Angeblich waren meine Noten so bescheiden, dass mir eine Woche zusätzlicher Lernstoff alles andere als schaden würde. Vielen Dank auch fürs Gespräch …
Die innere Frustration über meinen eingeschränkten Fuß und die allgegenwärtige bildliche Vorstellung meiner Klassenkameraden, welche nun Spaß haben durften, während ich im regulären Unterricht saß, nagten an meinem Gemüt.
„Gesunde“ Kinder dürfen nun einmal Spaß haben, Krüppel nicht. Mein Selbsthass hatte mal wieder ordentlich Futter bekommen. Dass dies aus reiner Rücksicht für alle Parteien erfolgte, kam mir nicht in den Sinn. Heute verstehe ich meine Lehrerin und ihre Entscheidung nur zu gut. Ihr tat es im Grunde ja selbst leid, was sie mir im Nachhinein auch noch einmal beteuerte. Sie schenkte mir zum Trost ein kleines Notizblöckchen, auf welchem lustige Kühe abgebildet waren. Als mir meine Mitschüler von der Zeit im Schullandheim erzählten, wollte ich nichts hören. Zu groß war die Angst, etwas besonders Schönes verpasst zu haben. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Verdrängung? In Wirklichkeit interessierte es mich brennend …
Immer häufiger begann ich damit, mich selbst zu verletzen. Im Gesicht hatte ich es mittlerweile aufgegeben, da ich dort keine bleibenden Narben riskieren wollte. Ich suchte mir andere Stellen aus, überwiegend den Unterarm. War doch ohnehin schon verunstaltet von den Narben meiner Hautkrankheit, warum nicht noch ein bisschen mehr nachhelfen? Diesmal jedoch aus eigener, selbstbestimmter Kraft. Was du kannst, kann ich schon lange, du erbärmlicher, dämlicher Körper!!!
Tat ich dies anfänglich eventuell nur aus der ursprünglichen Intension etwas Aufmerksamkeit zu erhalten, wurde es irgendwann zur regelrechten Sucht. Der kurze Moment des Schmerzes, wenn es mir kurz heiß-kalt den Rücken herunterlief, ließ mich vergessen und verdrängte den inneren Druck. Mein Vater, welchem die teilweise sehr tiefen Schnitte auf Dauer natürlich nicht verborgen blieben, behauptete, ich hätte ein Borderline-Syndrom. Jene psychische Erkrankung, von welcher auch Onkel Beck angeblich betroffen war, wie man mir sagte. Bei ihm äußerte sich jene „Erkrankung“ allerdings nicht in Selbstverletzung wie bei mir, sondern eher in aggressivem Verhalten, was durch Alkohol verstärkt wurde. Bestimmt litt auch er unter Depressionen. Und jene äußern sich bei jedem Menschen etwas anders. Ob ich oder er tatsächlich explizit unter Borderline litten bzw. leiden, wurde jedoch niemals eindeutig diagnostiziert. Jene Symptome sind zwar typisch für diese psychosomatische Erkrankung, allerdings passen sie auch gleichzeitig zu mindestens zehn anderen psychischen Krankheitsbildern. Dass ich Symptome davon aufzeigte, streite ich nicht ab.
Zweimal versuchte ich mir mithilfe einer Überdosis Insulin in frühen Jugendjahren das Leben zu nehmen. Ich wusste damals noch nicht, dass es quasi unmöglich ist, auf diese Weise zu sterben. Ich dachte immer, ist der Blutzuckerwert auf 0 mg/dl, so stirbt man ganz automatisch. Das stimmt allerdings so nicht ganz. Man verliert zwar irgendwann das Bewusstsein und fällt in eine massiv komatöse Unterzuckerung, aber die Leber arbeitet systematisch dagegen an und gibt zuvor gespeicherte Zuckerreserven ins Blut ab, welche es quasi unmöglich machen zu versterben.
Zweimal zog ich mich abends in mein Zimmer zurück, zog mir 3 prall gefüllte Spritzen mit Kurzzeitnsulin auf und spritzte mir diese in den Bauch. Irgendwann schlief ich friedlich ein, wurde aber beide Male rechtzeitig von meiner Mutter entdeckt, welche mir Traubenzucker fütterte, bis ich wieder bei Bewusstsein war. Ich erzählte nichts von meiner Absicht, begründete es einfach damit, mir versehentlich ein bisschen zu viel gespritzt zu haben. Das war auch nicht weiter verwunderlich für sie, es kam häufiger vor, dass ich ein bisschen zu tief war, was beim Typ 1-Diabetes beinahe unvermeidlich ist. Ob ich es damals wirklich mit vollem Herzblut tun wollte, bezweifle ich heute ein bisschen. Ich hatte weder meine Zimmertüre verschlossen noch einen Abschiedsbrief verfasst. Bestimmt handelte es sich auch hierbei um einen unbewussten Hilferuf.
Allerdings war dieser Gedanke gar nicht so abwegig. Ich träumte sehr oft von einem schnellen und schmerzlosen Tod, welcher den durchgehenden Sturm in meinem Kopf in Form von Selbsthass, Unsicherheit und Trauer ein für alle Mal beenden sollte. Es war doch alles so sinnlos, niemals würde mich jemand verstehen oder so akzeptieren wie ich war. Jeder hackte meiner Ansicht nach nur auf mir herum und wusste es besser. Die Anfeindungen aus der Schule und meine Sonderrolle, die Sorge, dass ich durch meine schlechten Noten ohnehin keinen guten Abschluss bekommen, geschweige denn einen guten Beruf erlernen würde. Die Tatsache, dass ich niemals ein Leben ohne körperliche Einschränkungen führen werde, die immer wiederkehrenden Schuldgefühle und Ängste …
Ich hatte einfach genug von dieser ungerechten Welt und brachte dies auch gelegentlich zur Sprache. Was meiner Mutter mehr zu schaffen machte als ich ursprünglich dachte. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie sehr empfindlich gegenüber dem Thema Selbstmord eingestellt wäre. Der Grund: Mein Opa, ihr Vater, von welchem bis dato alle immer nur in lustigen Erinnerungen schwelgten, hatte sich während der Feier zu seinem 50. Geburtstag das Leben genommen …
Auch er litt angeblich unter schweren Depressionen, welche es ihm unmöglich machten weiter zu leben. Ich war schockiert. Bis dato dachte ich immer, dass er schwer krank gewesen wäre, was in diesem Sinne ja auch keine Lüge war. Nur handelte es sich eben nicht um eine körperliche, sondern um eine psychische Krankheit, welche ihn letztendlich tötete. Als ich bewusst reflektierte, fiel mir auf, dass tatsächlich niemals über jenes Thema in meiner Gegenwart gesprochen wurde und auch meine Oma immer gleich abblockte, wenn es darum ging, wie er denn genau gestorben war. Was auch nur allzu verständlich ist.
Auch mit meinem Vater sprach ich die Tage noch einmal über jenes Thema und erzählte ihm, dass ich von nun an auch Bescheid wüsste. Daraufhin erzählte mir mein Vater Genaueres über jenen Tag. Auch wir waren damals zur Geburtstagsfeier meines Opas anwesend. Die Feier fand im Gartenhäuschen meiner Großeltern statt und war in vollem Gange. Plötzlich fehlte Opa. Nach ausgiebiger Suche wurde er am Ende schließlich tot in der Garage gefunden. Er hatte sich erhängt.
Ich war ein dreiviertel Jahr alt und bekam daher natürlich noch nichts weiter mit. Aber trotz alledem ich meinen Opa nie wirklich gekannt habe, ein kleiner Schock war es doch.
Einige Zeit später sprach ich noch einmal mit meiner Therapeutin darüber und bekundete meine Überraschung. Sie zog die Möglichkeit in Erwägung, dass ich in diesem Zeitraum, obwohl ich noch ein Baby war, möglicherweise mehr mitbekommen hätte als zunächst angenommen. Auch Babys und sogar ungeborene Föten speichern bereits sehr viel in ihrem Unterbewusstsein und nehmen sowohl negative als auch positive Signale durchaus wahr.
Ganz zu schweigen von jener Tatsache, dass Depressionen häufig vererbt werden …
So sein wie meine Vorbilder – um jeden Preis
Und obwohl das Thema Selbstmord fürs Erste vom Tisch war, interessierte es mich dennoch weiterhin. Ich empfand eine große Ehrfurcht vor jenen Menschen, welche den Mut und die Entschlossenheit besaßen, ihrem Leben aus eigener Bestimmung ein gezieltes Ende zu setzen. Ganz bewusst und geplant, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich weiß, dieses Thema lässt sich aus mehreren Perspektiven betrachten und ist allein aus ethischen Gründen mit großer Vorsicht zu behandeln. Aber ich muss dennoch zugeben, dass ich jenen Respekt niemals ganz verloren habe. In meinen Augen gehört eine gehörige Portion Mut dazu, auch wenn es sehr viele Menschen als feige und verantwortungslos betrachten.
Natürlich ist es vor allem gegenüber den Angehörigen in gewissem Sinne verantwortungslos und auf den ersten Blick betrachtet gibt es doch für fast alles eine Lösung. Aber ist Verantwortungsgefühl und Nächstenliebe wirklich der alleinige Grund dafür am Leben zu bleiben? Selbst wenn alles doch so aussichtslos ist? Wenn man zum Beispiel unter einer unheilbaren Krankheit leidet, zu welchen auch manche, besonders schwerwiegende Formen der Depression gehören? Diese Frage liegt im Auge des Betrachters. Meiner Ansicht nach hat jeder Mensch ein Recht auf Selbstbestimmung in dieser Hinsicht. Wenn es nicht mehr geht, dann geht es nicht mehr. Aus welchen Gründen auch immer. Ich persönlich würde eine Art Sterbebegleitung, wie sie in anderen Ländern schon lange üblich ist, durchaus begrüßen.
Meine Eltern schauten beide regelmäßig Dokumentationen über verschiedene Themen im Fernsehen. Häufig ging es hierbei um historische Ereignisse, Biografien oder um aktuell diskutierte Geschehnisse. Eines Abends gammelte ich im Wohnzimmer herum und spielte an meinem neuen Handy.
Im Hintergrund lief gerade eine Art Reportage über einen radikal-islamistischen Terroranschlag, welcher nach einigen Minuten der geistigen Zerstreuung am Handy auch meine Aufmerksamkeit erregte. Da ich mich bis dahin nur recht oberflächlich mit der Materie auseinandergesetzt hatte, sie aber trotz allem hochinteressant fand, schaute ich die gesamte Dokumentation mit meiner Mutter zu Ende. Am Schluss empfand ich ein sehr zwiespältiges Gefühl. Die meisten Menschen neigen dazu, mit den Opfern solcher Anschläge zu trauern. Aber ich persönlich konnte das irgendwie nicht. Sicher, wäre ein Mensch aus meinem nächsten Umfeld unter den Opfern gewesen, hätte die ganze Sache möglicherweise ganz anders ausgesehen. Aber ich war beinah schon erschrocken über mich selbst, dass ich in absolut keiner Weise Mitleid oder Bedauern empfand.
Viel mehr interessierten mich ab diesem Abend die Motive und Hintergründe der eigentlichen „Täter“. Was hatte diese jungen Männer dazu veranlasst, so etwas zu tun? Irgendeinen Grund muss es schließlich gegeben haben, niemand tut so etwas mal eben aus Jux und Tollerei. Also recherchierte ich weiter und fand einige sehr interessante Hintergrundfakten über die Thematik.
Ich begriff, dass es vor allem häufig sehr labile und einsame Menschen sind, welche durch radikale Fanatiker stark beeinflusst werden können. Oder auch Menschen mit einem bescheidenen Bildungsstand, welche im Grunde überhaupt nichts haben, woran sie glauben können und was ihnen Halt und Sicherheit verspricht. Und durch solche „überzeugenden Redner“ finden sie schließlich etwas, was ihnen eine neue Perspektive verschafft. Versprechen von ewiger Glückseligkeit, vielen Frauen, Liebe, einfach nur vollkommener Freiheit. Wer leicht zu überzeugen ist, wird hier schnell selbst zum „Opfer“.
Es ist jedoch falsch zu denken, dass es lediglich dumme Menschen sind, welche sich zu einer solchen „Gottesmission“ überzeugen lassen. Viele dieser „heiligen Krieger“ sind durchaus intelligent, und auch gesellschaftlich etabliert. Und trotzdem gibt es da etwas, was sie dazu bewegt, ihr Leben für „eine gute Sache“ zu opfern. Was sind die Gründe hierfür? Möglicherweise auch Depressionen oder anderweitige seelische Defizite? Es musste doch einfach mehr dahinterstecken als ein simples Versprechen auf eine wundervolle Ewigkeit, für welche es keinerlei Beweise gibt. Jeder x-beliebige Fuzzi könnte sich im Vollrausch eine solche Traumvorstellung zusammenreimen, aufschreiben und verbreiten. Und einige würden es womöglich tatsächlich glauben. Und warum? Weil sie es glauben WOLLEN! Ein besonders raffinierter Mechanismus der Seele, um sich selbst ein bisschen aufzuputschen.
Ferner beeindruckte mich damals der Mut, welchen es für ein solches Unterfangen benötigte. Auch wenn es unbeteiligten Menschen gegenüber eine absolut unverzeihliche Grausamkeit darstellt, so benötigt es auf gut Deutsch gesagt trotzdem mächtig „Eier in der Hose“, um morgens aufzustehen und zu wissen: Heute renne ich in eine Menschenmenge und sprenge mich in die Luft. Oder eben auf anderen Wegen. War hier das starke Gemeinschaftsgefühl in einer gläubigen Gruppe der ausschlaggebende Punkt? Oder konnte tatsächlich etwas dran sein an jenem Glauben? Wer saugt sich so etwas schon aus den Fingern? Wenn es wahr wäre, dann wäre dies doch eine ganz wunderbare Sache, oder nicht? Aus dieser Perspektive wären die sogenannten „Terroristen“ noch nicht einmal böse, sondern viel eher gut. Immerhin erlösten sie aus ihrer persönlichen Sichtweise diverse „Sünder“ aus ihren irdischen Ketten und beförderten sie auf direktem Wege in eine bessere Welt ohne Probleme und Sorgen. Also konnte doch nicht nur ausschließlich gnadenlose Grausamkeit dahinterstecken, oder? Wenn sie an etwas Wundervolles dieser Art glaubten …
Ich fixierte mich auf dieses spezielle Gedankengut und wollte von nun an auch unbedingt daran glauben. Ich kaufte mir ein kleines arabisches Wörterbuch, lernte einige Schriftzeichen, Wörter und Gebete. Jeden Tag betete ich von nun an fünfmal täglich Richtung Mekka. Es war gar nicht so einfach, sämtliche Wörter und Sätze auf Arabisch auswendig zu lernen, von welchen ich die Hälfte überhaupt nicht verstand und sie einfach nur herunterleierte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es für jeden Buchstaben im arabischen Alphabet mehrere Schreibweisen am Satzanfang, am Satzende und in der Mitte gab. Anfangs noch heimlich, später dann auch ganz offen vor meinen Eltern. Da ich ab diesem Zeitpunkt konsequent auf den Genuss von Schweinefleisch verzichtete, konnte ich es ohnehin nicht mehr verheimlichen. Meine Mutter war sämtliche Spinnereien von mir gewöhnt und ließ mich mit dem Thema weitestgehend in Ruhe. Sie respektierte meinen Wunsch, kein Schweinefleisch mehr zu essen und kaufte Hähnchen oder Pute.
Mein Vater machte sich über meine neue Überzeugung wiederholt lustig. Immer wenn ich „betete“, äffte er mich nach und lachte mich aus. Aber ich machte mir nichts daraus und blieb dabei. Ihm war es nicht recht, dass er beim Kochen nun kein Schweinefleisch mehr verwenden durfte, hielt sich aber mir zuliebe daran. Und von meinen Großeltern müssen wir gar nicht erst anfangen. Sie verstanden mich in jenem Punkt ganz und gar nicht und verurteilten meine Entscheidung. Was sollten denn nur wieder die anderen denken, wenn ich schon wieder aus der Reihe tanze?
Mein Vater war der Einzige, welchem ich erzählte, warum ich denn neuerdings auch gerne Moslem werden wollte. Ganz einfach aus dem Grunde, weil ich etwas mit meinen neuen „Vorbildern“ gemeinsam haben wollte. Und weil ich es damals im Inneren für das Richtige hielt. Es fühlte sich gut an, dass ich etwas gefunden hatte, an das ich mit voller Überzeugung glauben konnte. Ob es nun das war, was man wirklich glauben SOLLTE, ist natürlich etwas fragwürdig.
An seinem Rechner recherchierte ich ungeniert weiter, druckte mir zwei Bilder meiner damaligen „Idole“ aus, von welchen ich eines ständig bei mir trug. Ich bestellte mir eine Dokumentation auf DVD aus den USA, welche es in Deutschland nicht zu erwerben gab. Unser DVD-Player wollte jene DVD zunächst gar nicht abspielen, da sie einen anderen Ländercode integriert hatte. Ich recherchierte im Internet, wie man den Player mit einem Zahlencode hacken konnte, um die Dokumentation abspielen zu können. Als mir dies gelang, war ich überglücklich den ersehnten Film endlich zusammen mit meinem Vater ansehen zu können. Da er auf Englisch war, verstand ich leider nicht alles auf Anhieb. Mein Vater half mir etwas. Ich schaute den Film die nächsten Wochen jedoch noch so häufig an, dass ich bald jede Passage auswendig kannte. Außerdem wusste ich durch meine vorherigen Recherchen genauestens über den Inhalt Bescheid.
Was genau faszinierte mich damals derart an einer Geschichte wie dieser? Das Extreme, das Schrecken und Aufmerksamkeit erregte? Jene unendliche Überzeugungskraft, für eine Sache einzustehen und bis zum Schluss durchzuziehen? Eine Eigenschaft, welche mir persönlich schon immer aufgrund mangelnder Disziplin und fehlender Zukunftsaussichten fehlte. Einige Zeit träumte ich sogar davon, selbst einmal etwas Ähnliches zu tun, um dem massiven Problem der Überbevölkerung entgegenzuwirken. Ich suchte mir in meinen persönlichen Gedanken allerdings nicht Menschen aus, welche ich vorher nie kannte, welche möglicherweise lieb und gerecht waren und welche es bei solchen Attentaten wohl überwiegend trifft. In meinen Fantasien wählte ich von mir persönlich verhasste Menschen, welche mich verspotteten oder nicht so akzeptieren wollten wie ich war.
Stationärer Therapieversuch
Im Frühjahr 2007 sollte ich tatsächlich für einige Wochen in stationäre Therapie gehen, um sämtliche soziale und emotionale Defizite bewusst anzugehen und an jenen Problemen offensiv zu arbeiten. Dies befürwortete auch meine damalige Therapeutin. Nach langer Überredungskunst meiner Eltern und einer engen Freundin von ihnen willigte ich ein, es zumindest einmal zu versuchen. Begeistert war ich jedoch nicht.
Meine Eltern brachten mich in die Klinik, führten ein Aufnahmegespräch mit der Gruppenleiterin, übergaben mir etwas Taschengeld und richteten mir mein Zimmer ein, welches ich mit einem anderen Jugendlichen teilen sollte. Er war sehr nett, litt allerdings unter starker Magersucht. Auf der Station, auf welcher ich untergebracht war, gab es sehr viele Jugendliche, welche unter einer Essstörung litten. Bis auf meinen Zimmernachbarn waren jedoch alle anderen übergewichtig und sollten in der Therapie hauptsächlich erlernen, wie sie auf Dauer erfolgreich abnehmen und ihr Gewicht auch halten können. Mein Zimmerkamerad dagegen sollte lernen, wieder regelmäßig zu essen und etwas zuzunehmen. Ich konnte dessen Beweggründe damals kaum nachvollziehen – wie konnte man nur aus freien Stücken, auf das nahezu Schönste im Leben verzichten? Das Essen. Ich wurde nicht ganz schlau daraus, allerdings gefiel mir ehrlich gesagt seine Statur …
Nachdem meine Eltern wieder gefahren waren und ich meine Sachen in den Schränken verstaut hatte, kamen einige der anderen Kids in mein Zimmer und stellten sich vor. Sie erzählten von ihren Problemen und warum sie hier waren. Die meisten hatten Probleme mit leichtem oder schwerem Übergewicht und nutzten die Therapie überwiegend zum Abnehmen und auch um Selbstbewusstsein aufzubauen, da sie aufgrund ihres Übergewichts teilweise auch unter Minderwertigkeitskomplexen litten. Auch ich wurde ausgefragt, gab allerdings nicht sonderlich viel von mir preis. Ich erzählte nicht, dass auch ich unter starken Minderwertigkeitskomplexen litt. Durch die Schnitte auf meinen Armen konnten sie wohl davon ausgehen. Ebenfalls erwähnte ich, dass ich den Wunsch hatte, alsbald zum Islam zu konvertieren, was von den anderen mit erstaunlichem Verständnis aufgefasst wurde. Hier hatte jeder sein persönliches Päckchen zu tragen, niemand wurde verurteilt.
Nach einigen Stunden packte mich jedoch starkes Heimweh und ich schrieb meiner Mutter eine verzweifelte SMS, wie sehr ich sie doch liebhatte und dass sie mich bitte wieder abholen sollte. Aber das stand momentan noch nicht zur Debatte und ich solle mich doch erst einmal einleben. Ich war sehr traurig und verkroch mich unter der Decke. Heimlich schaute ich auf meiner Digitalkamera noch einige Videos von meinem Vater, welche ich an den Tagen zuvor heimlich aufgenommen und ihn damit mal wieder ausgiebig geärgert hatte. Mein armer Papa, dachte ich nur. Sobald ich hier wieder rauskäme, würde ich ihn ganz bestimmt nie wieder ärgern oder heimlich filmen, schwor ich mir in der Einsamkeit.
Unsere Handys mussten wir abgeben und bekamen diese nur zu bestimmten Tageszeiten ausgehändigt. Glücklicherweise war ich zuvor schlau genug gewesen, ein altes, längst inaktives Handy abzugeben und mein aktuelles heimlich bei mir zu behalten. Dieses benutzte ich für heimliche Telefonate am Abend, um mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen. Gutmütig wie er war, rief er mich jeden Abend für eine gute Stunde zurück, damit mein Guthaben nicht leer wurde. Wie hoch seine Telefonrechnung in jenem Zeitraum ausfiel will ich lieber nicht wissen. Ich schwor ihm mich zu ändern, nicht mehr so hyperaktiv und aufsässig zu sein, wenn ich nur hier raus dürfte. Jeden Abend beruhigte und ermutigte er mich noch ein bisschen durchzuhalten. Ginge es wirklich gar nicht, so könnte man immer noch abbrechen.
Ich glaube, ich gab der ganzen Geschichte von vorneherein nicht jene Chance, welche sie im Grunde verdient hatte. Möglicherweise hätte man tatsächlich etwas ändern, mein Denken und Handeln zum Positiven beeinflussen und mein Selbstwertgefühl bestärken können. Hätte ich die „Arschbacken zusammengekniffen“ und besser mitgemacht. Ich verstand mich zwar mit allen recht gut, gemeinsame Unternehmungen wie Kino, morgendlicher Frühsport, Shopping im Zentrum und die Disco-Nacht im Keller machten Spaß. Aber trotz allem wollte ich wieder in meine gewohnte Umgebung zurück. Niemals fühlte ich mich in größerer Gesellschaft sonderlich wohl, ein Gruppenmensch war ich noch nie. Ich fühlte mich immer irgendwie beobachtet und in jeglicher Hinsicht persönlich angesprochen. Selbst dann, wenn es gar nicht um meine Person ging. Lachte beispielsweise jemand im Hintergrund, bezog ich das sofort auf mich, obwohl ich gar nicht gemeint war. Hupte es im Straßenverkehr, auch dann fühlte ich mich angesprochen. Möglicherweise habe ich eine Art Sozialphobie oder leide unter einer leichten Form der Paranoia. Ich wünschte, jene Probleme damals angesprochen zu haben. Allerdings sah ich sie damals noch nicht.
Die Betreuer waren zwar fachlich geschult, allerdings gab es keine zusätzliche Psychotherapie wie ich sie ambulant bereits kannte. Ich glaube, die ganze Maßnahme diente hauptsächlich dazu, selbstständiger zu werden und auch den Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung durch die Gruppe zu lernen. Da ich mir mit gemeinsamer Übernachtung in einem Raum sehr schwertat, wurde mir zumindest jener Gefallen getan, meinen Zimmerkameraden in einem anderen Zimmer unterzubringen, nachdem zwei andere Kids entlassen worden waren. Dadurch fühlte ich mich viel sicherer, obwohl wir bestens miteinander auskamen. Aber was Privatsphäre angeht bin ich etwas eigen.
Nachdem sich mein fester Entschluss, die Therapie vorzeitig wieder zu verlassen, auch nach 2 Wochen nicht verändert hatte, wurden meine Eltern eingeladen und die Situation besprochen. Beinahe jeden Tag hatte ich ihnen einen persönlichen Brief geschrieben, welcher gefüllt war mit diversen Entschuldigungen, Rechtfertigungen und optimistischen Versprechen für eine bessere Zukunft. Nachdem alle verstanden hatten, dass ich partout nicht bleiben wollte, willigten sie schließlich (jedoch alles andere als begeistert), ein. Ich wünschte mir so sehr, dass sie wenigstens ein kleines bisschen stolz auf mich wären, immerhin hatte ich doch etwas über 2 Wochen tapfer „ausgehalten“, was ich mir als kleinen Verdienst anrechnete. Zumindest hatte ich es versucht, oder? Naja, auch das liegt wieder im Auge des Betrachters … Im Endeffekt hatte ich aufgegeben, bevor es erst richtig beginnen konnte …
Mein Vater holte mich einen Tag später mit seinem Auto ab, meine Mutter musste arbeiten. Er machte einen recht fröhlichen Eindruck und begann bereits auf der Heimfahrt wieder mit lustigen Imitationen von Comedians, was mein Vater wirklich mehr als super konnte. Er wäre der perfekte Kabarettist oder Komödiant geworden, was ihm im Spaße der Familienkreis auch öfters angeraten hatte, sich mal als solcher zu versuchen.
Zuhause angekommen, bemerkte ich, dass mein Zimmer aufgeräumt und gesaugt war. Was mich im ersten Moment freute. In dieser Hinsicht wurden mein Bruder und ich als Kinder recht entlastet, wir mussten selten unser Zimmer selbst saugen, Betten beziehen oder ähnliches. Das übernahm stets meine Mutter. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich ihr einmal eine Freude machen wollte und nach der Schule die Spülmaschine aus Eigeninitiative ausräumte und alles einsortierte. Doch anstatt einem Lob erntete ich hierfür Kritik. Ich hätte die Hälfte falsch eingeräumt und sie hätte es besser gleich selbst gemacht. Na, bitte schön, von mir aus doch. War ja nur gut gemeint. Allerdings muss ich sagen, dass ich sie in diesem Punkt heute ganz gut verstehen kann. Ich kann es mittlerweile auch nicht ausstehen, wenn jemand anders meinen Haushaltsplan durcheinanderwirft, da auch ich inzwischen meine festen „Haushaltsrichtlinien“ habe. Meinem Vater dagegen DURFTE ich niemals im Haushalt helfen, da dieser stets befürchtete, ich würde etwas hinunterschmeißen, schmutzig machen oder verschütten. Und er hätte hinterher dann die doppelte Arbeit. Dies ist zurückzuführen auf seinen teilweise sehr extremen Sauberkeits- und Ordnungsfimmel, andererseits auch auf meine gelegentliche geistesabwesende, tollpatschige Ader.
Nachdem ich ausgepackt hatte, setzte ich mich frohgemut an meinen PC, um meine in der Therapie gemachten Bilder und Videos drauf zu ziehen und am Monitor noch einmal anzusehen. Als ich das Passwort eingeben wollte bemerkte ich neben der Tastatur einen aufgefalteten Zettel. Es war ein Foto meines damaligen Idols, welches ich bei meinem Vater einige Wochen zuvor ausgedruckt und für die Zeit meiner Abwesenheit zusammengefaltet unter meiner Tastatur versteckt hatte. Plötzlich war es aufgefaltet, ich war mir jedoch ganz sicher, dass ICH das nicht gewesen sein konnte. Ich rief meine Mutter bei der Arbeit an und fragte, ob sie das Bild unter meiner Tastatur aufgemacht hatte. Was sie zunächst verneinte. So recht wollte ich das allerdings nicht glauben, hatte sie doch schon beim letzten Wochenendbesuch in der Therapie eine komische Andeutung gemacht, was dieses Thema anging. Ich rief meinen Vater an, welcher sich verplapperte und mir erzählte, dass meine Mutter ihn darauf angesprochen hatte, jenes Bild in meinem Zimmer gefunden zu haben. Wütend rief ich noch einmal meine Mutter an und fragte, was das sollte und warum sie in meinen Sachen schnüffelte. Sie entgegnete nur, ich solle froh sein, dass sie das Foto eines “derartigen Verbrechers“ nicht direkt weggeschmissen hatte und dass wir aufgrund meiner Online-Recherchen nicht schon längst den Verfassungsschutz am Hals hätten. Ich war wütend und enttäuscht, vor allem über die Tatsache, dass sie eines meiner „Idole“ so derart beleidigte. Ich packte meine wichtigsten Sachen zusammen und zog vorübergehend zu meinem Vater. Er freute sich darüber, auch wenn ihn der lange Aufenthalt einige Nerven kostete. Ganz besonders, weil der Ramadan (muslimischer Fastenmonat) begann, welchen auch ich dieses Jahr mitmachte. Obwohl Diabetiker im Normalfall davon befreit sind, blieb ich hart und wollte es auch schaffen. Was mir auch recht gut gelang, nur einmal wurde ich schwach, nachdem ich in den Unterzucker kam. Mein Vater ärgerte mich zwischenzeitlich und aß ein deftiges Schwarzwurstbrot in meiner Gegenwart. Doch ich erwartete stets den ersehnten Sonnenuntergang, um endlich futtern zu dürfen. Den Kontakt zu meiner Mutter vermied ich fürs Erste. Ich war „im Namen meines Vorbildes“ zu gekränkt.
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