Kitabı oku: «Seelenkerne», sayfa 3
Als unsere Mutter die Tür wieder geschlossen hatte, sagte Tommy nur ein Wort: „Gassi!“, und Jever sprang auf und hüpfte wie verrückt im Kreis herum.
„Ja, mein Kleiner, wir gehen sofort los. Aber zuerst müssen wir diese Lampe auskriegen.“
Wie auf Kommando blickten wir alle auf die kleine Flamme, die ruhig vor sich hin brannte.
„Puste mal“, sagte ich zu Sanne.
Meine Schwester holte Luft und pustete, was das Zeug hielt. Fast schien es, als hätte sie es geschafft. Aber als Sanne die Luft ausging, entzündete sich die Lampe wie von Zauberhand erneut, und das Flämmchen brannte wie zuvor.
„Hm“, meinte Tommy. „Da haben wir ein Problem.“
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Sanne bang. „Wir können sie doch nicht einfach hier stehen lassen. Mutti wird bestimmt noch mal nachsehen, wenn wir weg sind. Ich kenne sie.“
„Und wenn sie sauer ist, dürfen wir nicht woanders schlafen“, fügte ich hinzu.
„Ich nehm sie mit hoch“, meinte Tommy. „Meine Eltern gehen nie in mein Zimmer. Außerdem müssen sie heute packen. Und selbst wenn sie das Lämpchen entdecken, macht es auch nichts. Meine Mutter und Jesse haben noch nie geschimpft. Ich muss es nur ganz sicher hinstellen. Am besten in eine Schüssel oder in einen Eimer. Dann kann nichts passieren.“
„Solche Eltern möchte ich auch haben“, seufzte Sanne.
„Hey, hast du doch“, lachte Tommy. „Sie machen sich nur Sorgen, das ist doch okay. Aber ansonsten hast du doch die besten Eltern der Welt.“
„Stimmt“, nickte ich. „Ich will auch keine anderen. Können wir jetzt endlich losgehen?“
Tommy verdrehte die Augen. „Oh Mann, du kannst es wohl gar nicht abwarten, wieder vorzugehen, was?“
Ich bekam einen Schreck. Daran hatte ich allerdings noch nicht gedacht. Ich hatte immer vorgehen müssen, weil ich die Holografie bekommen hatte, die Wände für uns öffnete.
„Na gut“, sagte ich und grinste. „Diesmal kriegst du die Holografie.“
„Nichts da!“, lachte mein Freund. „Ich trage die Verantwortung. Das reicht. Los, lasst uns gehen!“
„Wollen wir nicht gleich einkaufen?“, fragte Sanne.
„Gute Idee. Ich bring schnell das Lämpchen hoch. Treffen wir uns unten. Überlegt solange, was wir gebrauchen können. Bis gleich!“
Während Tommy mit dem aufgeregten Jever im Schlepptau und der Lampe in der Hand in seine Wohnung ging, räumten wir anderen das Geschirr in die Spülmaschine und eilten dann die Treppe hinunter. Ich war der Letzte, denn ehe Lazy mitbekommen hatte, dass es rausging und er sich hoch wuchtete, verging noch ein Weilchen.
Unten wartete die Welfenallee. Eigentlich eine ganz normale Straße. Sie war unser Zuhause, Sanne und ich waren hier aufgewachsen, und ich wollte um nichts in der Welt woanders wohnen. Doch diese Straße barg ein Geheimnis. Dort, wo sie endete und in den Wald überging, befand sich ein Platz, der den Weg in eine ferne Zeit hütete. Warum oder von wem gerade diese Stelle auserkoren wurde und weshalb sie ausgerechnet uns Einlass gewährte, das wusste ich nicht. Doch eins wusste ich genau, denn das hatten wir ein ums andere Mal erfahren müssen.
Dieser Ort war gefährlich. Man konnte in den fernen Welten verloren gehen. Oder sterben. Mit einem Kloß im Hals folgte ich den anderen.
*
Am nächsten Morgen trafen wir uns bei Tommy. Es war gar nicht so einfach gewesen, alles so zu regeln, dass wir beruhigt losgehen konnten. Janine hatte es am leichtesten, denn im vergangenen Sommer hatten wir das Haus ihrer Eltern gehütet. Sie brauchte nur zu sagen, dass wir diesmal auf die Wohnung von Tommys Eltern aufpassen wollten. Ihre Mutter und ihr Vater hatten sofort zugestimmt. Das war bei unseren Eltern weit schwieriger. Mutti wollte unbedingt, dass wir wenigstens zum Essen kommen sollten, und es hatte schon einige Überredungskunst bedeutet, ihr das auszureden. Schließlich hatten wir sie aber soweit, dass sie versprach, uns allein klarkommen zu lassen. Ich hatte da meine Zweifel, aber eine andere Lösung, als vorzugeben, bei Tommy zu schlafen, hatten wir nicht. Zu allem Überfluss hatte meine Mutter auch noch für uns eingekauft, obwohl wir doch schon alles besorgt hatten, was wir brauchten. So mussten wir neben Luftmatratzen und Bettzeug auch noch etliche Lebensmittel nach oben schleppen. Tommys Kühlschrank platzte fast, aber so viele Sachen hätten wir niemals mitnehmen können. Außerdem konnten wir nur Dinge einpacken, die nicht so schnell verdarben. Kühlen konnten wir sie schließlich nicht.
Die prallen Rucksäcke auf dem Schoß saßen wir um den Küchentisch herum und berieten uns ein letztes Mal. Sanne hatte eine Liste gemacht und hakte Punkt für Punkt ab.
„Äpfel, Mini-Salamis, Kekse, Kaugummis, Wasser, Taschenlampe, Kompass, Seil, Fernglas, Sachen zum Wechseln, wasserdicht verpackt, Bleistifte, Notizblock, Taschenmesser.“
Als sie den letzten Posten durchgestrichen hatte, blickte sie auf und schaute uns fragend an. „Und, haben wir noch etwas vergessen?“
„Ja“, grinste ich. „Die Rückfahrkarten!“
Wir prusteten los, aber Tommy wurde schnell wieder ernst. „Die müssen wir uns verdienen. Aber ich hab noch Pflaster, etwas Jod und zwei Mullbinden eingepackt, falls sich jemand verletzt.“
„Der große Heiler Tommy Garcia“, grinste ich. „Fehlt nur noch der Magensaft der Mendesantilope!“
„Der liegt ja da überall rum!“, grinste Tommy zurück.
„Aber …“
„… was man dabei hat, braucht man nicht“, ergänzte Janine lächelnd.
„Genau.“ Tommy schaute von einem zum anderen. „Also, was ist? Seid ihr bereit?“
„Was ist mit deiner Machete?“, fragte Sanne.
„Die liegt im Flur. Du hast Recht, die nehm ich auch noch mit.“
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Na, dann los. Hoffentlich sehen uns eure Eltern nicht. Mit unserer Ausrüstung sehen wir ja aus, als würden wir auf eine Expedition gehen.“
„Wir sind auf einer Expedition“, entgegnete Sanne und erhob sich ebenfalls. „Aber keine Sorge, heute ist Montag. Sie arbeiten beide. Es wird uns schon niemand sehen.“
Wir waren soweit. Tommy legte den Zettel, den er schon am Abend zuvor vorbereitet hatte, mitten in den Flur, so dass unsere Eltern ihn sofort entdecken konnten, wenn sie doch einmal nach uns sehen würden.
Wir schauten uns wortlos in die Augen. Meine ganze Haut kribbelte vor Aufregung. Es ging los. Jever und Lazy standen schon an der Tür. Sie wussten genau, dass ein längerer Ausflug bevorstand. Gerade, als Tommy die Klinke herunterdrücken wollte, hielt er noch einmal inne.
„Mensch, das Lämpchen! Das hätte ich beinahe vergessen!“
Er lief zurück in sein Zimmer und holte es. Als er mit der magischen kleinen Lampe wieder zurück war, standen wir für ein paar Sekunden schweigend um ihn herum. Die Flamme brannte unverändert. Obwohl sie Wärme ausstrahlte, bekam ich Gänsehaut. Schließlich brach Janine das Schweigen.
„Sie hat die ganze Zeit gebrannt?“
Tommy nickte. „Ich konnte lange nicht einschlafen. Es war schon ein bisschen unheimlich. Aber ich hab nicht noch einmal versucht, sie auszupusten. Joe, nimmst du sie? Ich muss noch meine Machete tragen.“
Mit feuchten Fingern nahm ich das Lämpchen, und Tommy holte die Machete von der Ablage auf der Garderobe. Dann schlossen wir sorgfältig hinter uns ab und verließen das Haus.
Als ich auf die Straße trat, gestand ich mir ein, dass ich Angst hatte.
*
Es war schon eine eigenartige Gesellschaft, die da die Straße entlangging. Vier Kinder, die mit ihren schweren Rucksäcken auf den Rücken leicht gebeugt liefen, ein lahmer Hund, dem beim schwerfälligen Tapsen die Ohren auf dem Boden schleiften und ein zappliger Hund, der wie ein Flummi um die ganze Truppe rumhopste. Aber das Auffälligste war, dass der eine der Jungen ein brennendes Öllämpchen in der Hand hielt und der andere wie selbstverständlich eine Machete bei sich trug. Während wir langsam die Welfenallee in Richtung unseres Zieles hinuntergingen, schaute uns schon der eine oder andere verblüfft nach oder beäugte uns neugierig. Aber niemand sprach uns an.
Minutenlang gingen wir wortlos nebeneinander her. Verstohlen beobachtete ich die anderen. Es ging ihnen genauso wie mir. Selbst Tommy hatte die Lippen aufeinander gepresst und schaute abwesend nach vorne. Die Anspannung war riesig, und ich schrak regelrecht zusammen, als Sanne etwas sagte.
„Glaubt ihr, dass sich das Grundstück wieder verändert hat?“
Das ging mir schon die ganze Zeit durch den Kopf. Was würde uns diesmal erwarten?
„Ganz bestimmt sogar“, meinte Tommy überzeugt. „Außerdem hat es sich ja schon verändert. Vergesst den fehlenden Stein nicht.“
Dann waren es nur noch wenige Meter. Automatisch verlangsamten wir unsere Schritte. Jever rannte voraus, aber Tommy machte keine Anstalten, ihn zurückzuhalten. Dem kleinen Hund konnte nichts passieren, denn eine weitere Querstraße kam nicht mehr, und gleich zu Beginn des Waldes begann ein Hundeauslaufgebiet. Doch Jever rannte nicht bis zum Wald. Er blieb ein gutes Stück vorher stehen.
„Er weiß, wo wir hinwollen“, murmelte Janine.
„Ja, das weiß er“, sagte Tommy stolz. „Wenn wir nur so spazieren gehen würden, hätten wir schließlich keine Rucksäcke dabei. Er weiß genau, dass wir auf das Grundstück wollen.“
Ich starrte angestrengt voraus und erkannte das grüne Band der Buchsbaumhecke. „Was meint ihr, müssen wir wieder ein Rätsel lösen?“
Eigentlich kannte ich die Antwort bereits, und Tommy bestätigte mich. „Garantiert! Willst du wetten?“
„Nein, lieber nicht. Aber es sieht aus wie gestern.“
Eine Minute später standen wir davor. Die Spannung fiel augenblicklich von mir ab. Nichts hatte sich seit dem Vortag verändert. Das verwilderte Grundstück lag vor uns wie ich es von der Zeit her kannte, bevor Tommy in mein Leben getreten war. Auch das Abbruchhaus schien genauso zu sein wie in meiner Erinnerung. Ich knuffte Tommy in die Seite.
„Ich hätte doch wetten sollen. Am besten, um einen Container voll Chips!“
Tommy lachte. „Sei vorsichtig! Vergiss nicht, was wir geträumt haben und dass der Stein fehlt.“
„Und das Lämpchen!“, wandte Sanne ein.
Nachdenklich blickte ich auf das Öllämpchen, das ich immer noch in der Hand hielt. Ich kam mir vor wie ein Nachtwächter aus dem Mittelalter.
„Ja, schon“, sagte ich gedehnt. „Aber …“
„Gehen wir erstmal rein“, entschied Tommy und setzte sich wieder in Bewegung, um zur Waldseite des Grundstückes zu gelangen. Notgedrungen folgte ich ihm, Sanne und Janine im Schlepptau. Viel mehr als einen Teil des Daches konnte man von der Straßenseite aus nicht sehen. Dazu war die Hecke zu hoch und zu undurchdringlich.
Dann standen wir dicht gedrängt vor der Stelle, die uns bisher immer Durchlass gewährt hatte. Gerade wollte ich das Buschwerk beiseite schieben, damit sich die anderen besser durchzwängen konnten, da fasste mich Tommy am Arm.
„Sieh doch!“, zischte er und zeigte nach unten. „Die Hunde!“
Auf unsere Hunde hatte ich nicht mehr geachtet, doch als ich jetzt nach unten schaute, sah ich Jever und Lazy mit spitz gestellten Ohren wie Statuen vor der Hecke stehen. Ihre Körperhaltung war angespannt, und Jever ließ ein leises Knurren vernehmen.
„Was haben sie?“ Janine flüsterte unwillkürlich. „Es ist doch alles wie immer…“
„Vielleicht ist jemand auf dem Grundstück“, gab Tommy leise zurück.
„Oder vielleicht sind Wildschweine durchgekrabbelt“, raunte Sanne.
Was zwei Sekunden nach Sannes Worten geschah, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich registrierte noch, wie Jever und Lazy ein, zwei Schritte zurückwichen. Dann teilte sich mit einem Mal die Hecke und ein Drachenkopf erschien! Eine lange, bläulich gefärbte Zunge schnellte hervor und zuckte nach allen Seiten. Der Kopf war größer als der von Jever, und kleine schwarze, stechend scharf blickende Augen fixierten uns. Mir wurde heiß. Neben mir ertönte ein Schrei, und dann hörte ich, wie jemand ins Unterholz stolperte.
„Bleib hier, Janine!“, rief Tommy. „Das ist ein Waran, der tut dir nichts!“
Ich schluckte. Ein Waran! Wie um alles in der Welt kam ein Waran hierher? Obwohl Tommys Worte mich etwas beruhigt hatten, war ich genau wie die Mädchen ein paar Schritte zurückgewichen. Jever und Lazy knurrten um die Wette. Tommy beruhigte die beiden so gut es ging und bedeutete mir mit Handzeichen, sie am Halsband zu halten.
Plötzlich machte die Echse zwei schnelle Schritte vorwärts in unsere Richtung, und diesmal entfuhr Sanne ein Schrei.
„Tommy! Der ist riesig!“
Das war er wirklich. Jetzt, wo sein Körper etwa zur Hälfte aus dem Busch ragte, konnte ich sehen, dass das Tier mindestens zwei Meter lang sein musste. So groß wie ein Krokodil, durchfuhr es mich. Ich konnte Sanne und Janine verstehen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Monstrum mir nichts tun konnte.
„Tommy …“, flüsterte ich. „Ich hab gelesen, dass Warane giftig sind!“
Tommy hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er stand nicht mehr als einen Meter von dem Tier entfernt. Als er jetzt auch noch in die Hocke ging, blieb mir fast das Herz stehen.
„Na ja“, sagte er und fixierte den Waran eindringlich. „Man sollte sich nicht beißen lassen. Ihr Speichel besitzt Bakterien, die ihr Opfer vergiften können.“
„Na toll!“, kam es von Janine, die in sicherer Entfernung von uns stand. „Und du hast gesagt, der tut mir nichts!“
„Macht er auch nicht“, sagte Tommy geduldig. „Menschen gehören ja nicht zu seiner Beute. Das ist wie bei Wespen. Nur wenn sie sich angegriffen fühlen, wehren sie sich. Ihr müsst nur ruhig bleiben.“
„Ich bin lieber weiter weg ruhig“, grummelte Janine.
Plötzlich machte das Tier eine weitere schnelle Bewegung. Direkt auf Tommy zu! Jetzt standen sie sich nur Zentimeter voneinander getrennt gegenüber. Der Waran war wirklich an die zwei Meter lang. Er besaß grüngelb gepunktete, lederartige Haut, die sich an seinem Hals in wulstige Falten zog. Sein langer, dünn auslaufender und mit gelben Ringen versehener Schwanz hinterließ einen seltsamen Abdruck im Sand.
Leise sprach Tommy auf das Tier ein. Er schien nicht die geringste Angst vor dem Waran zu haben. Wenn ich an die giftige Spucke dachte, wurde mir ganz anders.
„Ich glaube, du bist ein Nilwaran. Was machst du denn hier? Hier ist es doch viel zu kalt für dich. Bist du ausgerissen?“
Der Kopf des seltsamen Tieres ruckte ein wenig nach oben, so dass es aussah, als würde der Waran Tommy interessiert zuhören. Es war eine vollkommen unwirkliche Szene. Ein Tier, das aussah wie ein Fabelwesen und mein bester Freund unterhielten sich miteinander! Tommy redete leise und beruhigend auf den Waran ein, und es schien tatsächlich, als würde dieses Tier, das weiß Gott nicht in unseren Wald gehörte, kein bisschen aggressiv sein.
Ich hörte, wie es hinter mir raschelte und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Sanne und Janine vorsichtig wieder näher kamen.
„Tommy …“ kam es leise von Sanne. „Du hast gesagt, das ist ein Nilwaran. Fließt der Nil nicht durch Ägypten?“
„Du hast Recht!“, entfuhr es Tommy eine Spur zu laut. Die Echse bekam einen Schreck, und ehe wir uns versahen, sprintete sie mit hin und her wackelndem Körper direkt durch Tommys Beine hindurch in den Wald und entschwand unseren Blicken.
„Mist!“, entfuhr es Tommy. „Jetzt hab ich ihn erschreckt. Im Wald wird er nicht lange überleben.“
„Aber da gibt es doch genug Mäuse und Igel und jede Menge Insekten“, wand ich ein. „Er wird schon nicht verhungern.“
„Nein“, meinte Tommy sichtlich betroffen. „Das nicht. Aber er bekommt nicht genügend Sonne. Er braucht die Wärme Afrikas, sonst wird er sterben.“
Daran hatte ich nicht gedacht. Angestrengt starrte ich in den Wald, aber ich konnte nicht die kleinste Bewegung erkennen. Das Tier war wie vom Erdboden verschluckt.
„Vielleicht kommt er ja zurück, wenn wir weg sind“, meinte Sanne. Ich hörte ihrer Stimme an, dass sie nicht unbedingt etwas dagegen hatte, dass der Waran verschwunden war.
„Wo er nur hergekommen ist?“, grübelte Janine.
„Vielleicht ist er ja wirklich aus einem Terrarium ausgerissen“, meinte Tommy und erhob sich aus der Hocke.
„Tommy …“, sagte ich gedehnt. „Er kam aus unserem Grundstück.“
Tommy starrte mich an. „Stimmt. Und es ist ein Nilwaran. Und der Nil fließt durch Ägypten. Und …“
„… die andere Welt lag auch in Ägypten!“, rief Sanne.
Unwillkürlich richteten sich unsere Blicke auf die Hecke. Ich ließ Jever und Lazy los, die ich die ganze Zeit über an ihren Halsbändern festgehalten hatte. Aber keiner von beiden machte Anstalten, aufs Grundstück vorzupreschen, wie es sonst ihre Art war. Dann fiel mir etwas ein.
„Vielleicht ist er aus dem Loch gekrochen, wo der Mauerstein fehlt!“
Tommy runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Besonders groß war das ja nicht. Hm, was ist, willst du nachsehen?“
„Warum ich?“, entfuhr es mir, begriff aber im selben Moment, dass er mich reingelegt hatte.
„Weil du immer vorgehst!“, kam es im Chor.
„Aber nur, wenn ich meine Holografie habe“, sagte ich lahm.
Tommy haute mir auf die Schulter. „Na, komm schon, du brauchst ja nicht durch eine Wand zu gehen. Nur durch die Hecke. Das hast du doch schon gemacht, als ich dich noch gar nicht kannte.“
„Ja, aber da kam mir kein Nilwaran entgegen“, grinste ich. „Okay, ich geh ja schon. Biegt ihr mir die Hecke auseinander?“
Janine und Tommy stellten sich rechts und links neben die lichte Stelle und zogen das Buschwerk etwas beiseite, damit ich besser hindurch konnte. Gerade wollte ich den ersten Schritt tun, als etwas Seltsames passierte. Ein Schwall feuchtwarmer, schwüler Luft strömte mir entgegen. Auch die anderen hatten es bemerkt, und Tommy und Janine ließen die Hecke wie von der Tarantel gestochen wieder los.
„Was war das?“, krächzte Janine.
Ich schnupperte in der Luft, aber der Geruch und die Feuchtigkeit hatten sich bereits wieder verzogen.
„Es roch wie im Aquarium, wenn man ins Tropenhaus geht“, murmelte Sanne.
„Wie im Dschungel!“, entfuhr es mir. Verwirrt starrte ich Tommy an, der ein paar Schritte zurückgegangen war und versuchte, über die Hecke zu spähen.
„Das Haus ist noch da“, sagte er. Und dann grinste er mich an. „Du wolltest doch vorhin wetten. Was ist, wettest du jetzt, ob es ein neues Rätsel gibt oder nicht?“
Ich winkte ab. „Nein, lass man. Mein Taschengeld ist sowieso alle.“
„Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als nachzuschauen. Also, traust du dich?“
Ich blickte von einem zum anderen. Eigentlich traute ich mich nicht, aber was sollte ich machen? Ich seufzte.
„Ich gehe vor. Aber wehe, ihr bleibt draußen!“
Janine und Tommy stellten sich ein zweites Mal an die Hecke und bogen sie für mich auseinander. Um die Hände frei zu haben, reichte ich Sanne das Öllämpchen. Jever und Lazy winselten leise und machten keine Anstalten, sich vorzudrängeln.
Mit einem mehr als mulmigen Gefühl tat ich den ersten zaghaften Schritt und stand dann mit einem Bein zwischen dem Gestrüpp. Wieder strömte mir subtropische Luft entgegen, schwer und feucht und mit einem unglaublichen Gemisch aus verschiedensten Gerüchen durchtränkt.
Mir brach der Schweiß aus allen Poren. Der Rucksack wog Tonnen. Wenn jetzt irgendein giftiges Viech auf mich zuschoss, konnte ich nicht einmal schnell davonrennen.
„Was ist denn? Geh doch weiter!“, kam es von hinten.
Geh doch weiter! Toll, wenn man nicht der Erste war. Aber ich ging weiter. Jetzt nahm ich die eigenen Hände zu Hilfe, um den Rest der Hecke so weit auseinander zu biegen, dass ich hindurchschauen konnte. Zuerst sah ich nur ein Flimmern. Komisch, ich hätte doch längst die Wiese, die Brombeeren und das Haus sehen müssen, aber alles war undeutlich und verschwommen.
Dann tat ich den nächsten Schritt. Und erstarrte. Mit diesem Schritt durchbrach ich eine Art unsichtbare Mauer, und auf einen Schlag konnte ich wieder klar sehen. Ich riss die Augen auf. Ich war im Dschungel! Ein unglaubliches Durcheinander wild ineinander verschlungener Pflanzen, mit Wurzeln, die wie Stricke und Taue von großen Bäumen mit fleischigen Blättern herabhingen. Heiß war es. Unglaublich heiß. Und so feucht, dass die Luft zum Schneiden dick schien. Geräusche rings um mich herum. Geräusche, wie ich sie noch nie in meinem Leben gehört hatte. Kreischen, Zirpen, Zwitschern, Rascheln, das Knacken von Geäst und ein merkwürdiges Sirren. Ich war so fassungslos, dass ich mit offenem Mund dastand und zu träumen glaubte. Plötzlich klatschte ein riesiges Insekt gegen meine Wange und ich schrie auf. Panisch machte ich zwei schnelle Schritte rückwärts und taumelte in die Arme meiner Freunde.
„Was hast du, Joe? Was ist denn? Wieder ein Waran? Nun sag doch schon!“, bestürmten sie mich. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu sammeln.
„Das glaubt ihr nie!“, stotterte ich. „Da drin ist ein Dschungel!“
„Ein Dschungel?“, entfuhr es Janine, und ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie mir nicht glaubte.
„Ein Dschungel!“, nickte ich heftig. „Ein richtiger Dschungel! Mit allem Drum und Dran! Das müsst ihr euch einfach ansehen!
„Was hast du denn alles gesehen?“, fragte Tommy und fixierte die Stelle, die den Eingang in eine völlig fremde Welt bedeutete.
„Na … riesige Pflanzen, Lianen … und jede Menge Geräusche, so wie … so wie … so wie in einem Film aus Afrika! Und dann flog mir ein Riesenvieh gegen die Backe und ich bin wieder raus!“
„Hast du irgendetwas Gefährliches gesehen?“, hakte Tommy nach.
Ich überlegte. „Nein, eigentlich nicht. Ich konnte nichts sehen in dem ganzen Gewirr von Blättern. Aber da waren diese komischen Geräusche. Das war so … fremd!“
„Wenn es ein Dschungel ist“, überlegte Sanne, „dann müssen die Geräusche ja fremd sein. Eine Amsel wirst du sicher nicht gehört haben.“
Tommy lachte. „Nein, die Vögel dort werden wohl eine Nummer größer sein.“ Er wurde schlagartig wieder ernst. „Der Nilwaran muss ausgebüxt sein. Da kam er also her… sieht aus, als hätten wir unser Rätsel“, murmelte er.
„Das ist bestimmt unser Rätsel“, stimmte ihm Janine zu.
„Aber wie kann ein Dschungel ein Rätsel sein?“, fragte ich bang und ahnte schon, was Tommy antworten würde.
„Der Dschungel ist nur der Ort, der es verbirgt. Wir werden es suchen müssen.“
„Aber der Dschungel ist gefährlich“, wandte Janine ein. „Wir können uns verirren. Und da gibt es bestimmt Schlangen und Spinnen!“
„Hm“, machte Tommy. „Wenn es ein echter Dschungel ist, wird es auch Schlangen und Spinnen geben. Wir müssen halt aufpassen. Und ich hab ja noch die hier!“
Er hielt seine Machete hoch. „Wenn wir hineingehen, machen wir soviel Krach wie möglich. Das ist der beste Schutz. Dann fliehen die meisten Tiere.“
„Die meisten …“, grummelte ich. „Und der Rest?“
„Na ja“, gab Tommy zu. „Ein bisschen gefährlich ist es schon. „Aber willst du wieder nach Hause?“
Statt zu antworten, wandte ich mich an Sanne und Janine. „Und ihr? Wollt ihr nach Hause?“
Janine schüttelte heftig den Kopf, obwohl ich ganz deutlich die Angst in ihren Augen ablesen konnte.
„Nein!“, sagte Sanne mit fester Stimme. „Alle oder keiner!“
„Das stimmt“, sagte Tommy und holte tief Luft. „Wir müssen alle gehen, sonst werden wir keinen Einlass in die andere Welt bekommen. Joe …?“
„Ich soll wieder …?“
„Musst du nicht“, meinte Tommy und stellte sich dicht vor die Hecke. „Diesmal gehe ich vor. Und dann einer nach dem anderen, okay?“
Jeder von uns murmelte sein Okay. Mir pochte das Herz bis zum Hals. Ein Dschungel war etwas völlig anderes als alles, was wir vorher durchstreift hatten. Doch in derselben Sekunde fiel mir ein, dass wir sehr wohl schon einmal durch einen Dschungel hatten gehen müssen. Bei unserem ersten Abenteuer war es allerdings ein nahezu toter Wald ohne Geräusche und ohne Tiere gewesen. Na ja, abgesehen von der riesigen Vogelspinne. Außerdem waren die Blätter damals nicht echt gewesen. Sie hatten sich mit der Machete nicht abschlagen lassen. Doch das, was dort hinter der Buchsbaumhecke auf uns wartete, erschien mir sehr real. Ich hatte die Wildheit Afrikas riechen, hören und buchstäblich auf der Haut fühlen können.
Mit aller Entschlossenheit und allem Mut, den wir aufbringen konnten, bogen Janine und ich jetzt für Tommy die Hecke auseinander. Zum dritten Mal strömte mir diese unsagbar fremdartig riechende Luft entgegen, aber diesmal war ich darauf gefasst. Tommy zögerte nicht, sondern machte zwei, drei beherzte Schritte und verschwand. Jever sprang hinter ihm her, obwohl dem kleinen Hund die Sache gar nicht geheuer war.
„Ich als Zweite“, sagte Sanne. „Nimmst du die Lampe wieder?“
Ich nahm meiner Schwester das immer noch vor sich hin brennende Lämpchen ab und sah dann zu, wie sie unserem Freund folgte. Ich bewunderte sie. So mutig war ich vorhin nicht durchgegangen. Aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Janine ließ die Hecke an ihrer Seite los und verschwand ebenfalls.
Ich war allein. Ein letztes Mal blickte ich mich um in Richtung des mir so vertrauten Waldes. Wie harmlos er doch wirkte im Vergleich zu dem Urwald, der auf mich wartete. Egal, jetzt galt es. Ich bückte mich und gab Lazy einen Klaps, damit er nicht zurückblieb. Dann hielt ich das Lämpchen vor meinen Bauch und stellte mich mit dem Rücken zur Hecke. Energisch zwängte ich mich rückwärts hindurch und betrat die grüne Hölle.
Es war ein Gefühl wie wenn ich ein Dampfbad betreten würde. Wieder brach mir der Schweiß aus allen Poren. Aber ich muss gestehen, dass das nicht nur an der Temperatur lag. Nervös und geduckt dastehend sicherte ich nach allen Seiten. Ich sah, wie die Hunde schon auf Erkundungstour gehen wollten und pfiff Lazy zurück. Jever machte noch einen Hopser, blieb dann aber auch stehen und schielte mit schief gelegtem Köpfchen zu uns herüber.
„Mann, ist das heiß!“, stöhnte Janine und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dass mir der Schweiß hinunterlief, störte mich zwar, aber das schien mir die geringste Sorge. Die Geräuschkulisse war enorm. Irgendwo im Dickicht brüllten Tiere in hoher Stimmlage.
„Hört sich an wie Affen!“, entfuhr es Sanne erstaunt.
„Ich will gar nicht wissen, was das ist“, sagte ich heiser. „Hauptsache, es bleibt da drin!“
Über Tommys Gesicht stahl sich ein Lächeln. „Die werden schon nicht zu uns kommen. Dumm ist nur, dass wir zu ihnen müssen.“
Betroffen starrten wir auf die grüne Wand aus ineinander verflochtenen Blättern, Wurzeln und Farnen, die undurchdringlich schien. Ich drehte mich einmal im Kreis, um mich umzuschauen. Überall das gleiche Bild. Vegetation im Überfluss. Nirgends eine Spur menschlichen Daseins oder etwas, das nicht in einen solchen Urwald gehörte. Dann wurde mir trotz der Hitze urplötzlich eiskalt.
„Die Hecke ist weg!“, brüllte ich.
Die anderen zuckten zusammen. Höchstens zwei Meter hinter uns hätte die Buchsbaumhecke sein müssen. Doch egal, wohin ich schaute, nichts als Dschungel. Mir war, als würde der Boden unter den Füßen wegrutschen. Wir waren eingekreist vom Dschungel! Wohin ich auch blickte, nichts als Pflanzen, die drohend auf uns zuzukommen schienen. Nur eine kleine Lichtung war ausgespart, in der wir hilflos standen und uns vom Rückweg abgeschnitten wussten.
Es war nicht das erste Mal, dass wir nicht mehr zurückkonnten, aber das erste Mal an einem solchen Platz. Das Schlimmste waren die Geräusche, die aus dem Urwald drangen. Und niemals zuvor war die Welt, in die wir verschlagen wurden, belebt gewesen.
„Der Eingang in die andere Welt hat sich immer verschlossen“, wollte Tommy uns beruhigen, aber ich hörte trotzdem seine Angst heraus. Und dann weiteten sich seine Augen.
„Das Lämpchen ist aus!“
Verblüfft schauten wir auf die Öllampe in meiner Hand. Die Flamme war erloschen.
„Dann sind wir richtig“, meinte Sanne trocken. „Sie sollte uns hierher führen, und jetzt hat sie ihre Aufgabe erfüllt. Du kannst sie wegpacken!“
Vorsichtig berührte ich das Lämpchen an der Tülle. Sie war kalt. Kopfschüttelnd holte ich den Rucksack vom Rücken und verstaute die Lampe. Hoffentlich entzündete sie sich nicht wieder. Aber ich ahnte, dass sie ihre Aufgabe erfüllt hatte. Gerade hatte ich meinen Rucksack wieder geschultert, da überraschte mich Sanne. Mutig ging sie ein paar Schritte bis an den Rand des Dickichts und berührte vorsichtig ein riesiges fleischiges Blatt.
„Die sind echt“, murmelte sie. „Wie schaffen die das bloß, so eine Welt immer wieder einfach so entstehen zu lassen?“
„Das will ich gar nicht wissen!“, rief Janine trotzig. „Ich will nur wissen, wie wir hier wieder rauskommen!“
„Hier durch jedenfalls nicht“, meinte Sanne und schob das Blatt beiseite, um einen Blick dahinter werfen zu können. „Oh Mann, nichts als Blätter! Wie sollen wir da nur durchkommen?“
Tommy winkte uns, und wir traten alle neben meine Schwester, um selbst die urzeitlichen Blätter zu fühlen. Als ich eines zwischen den Fingern rieb, fühlte es sich irgendwie pelzig an. Ich sah genau hin und entdeckte, dass seine Oberfläche mit unzähligen winzigen Härchen übersät war. Unwillkürlich ließ ich los und schaute auf meine Finger. Aber die Härchen hatten mir nicht geschadet.
Tommy hatte sie auch entdeckt. „Vielleicht ein Schutz gegen Fressfeinde“, murmelte er.
„Das will ich auch nicht wissen!“, grummelte Janine. „Ich will wissen, wie wir jetzt weiterkommen!“
Tommy sah Janine verblüfft an. „Hey, so kenne ich dich ja gar nicht! Ich will auch so schnell wie möglich weiter. Aber einfach so im Dschungel verschwinden sollten wir nicht. Ich will mir die Pflanzen lieber vorher anschauen. Vielleicht sind ein paar von ihnen giftig oder haben Dornen. Außerdem sollten wir nachdenken, bevor wir losgehen.“
Er grinste und reichte Janine die Machete. „Hier, die kannst du haben und schon mal vorgehen!“
„Nein, nein“, wehrte unsere Freundin ab. „Ich will ja gar nicht vorgehen. Ich will nur … ich meine … hier ist es so unheimlich. Ich hab das Gefühl, überall gucken Augen raus und beobachten uns!“