Kitabı oku: «Der Dialog in Beratung und Coaching», sayfa 2

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1 Psychologie und Dialog

Wenn Sie Abbildung 1 betrachten, werden Sie – wie über 90 Prozent aller Erwachsenen – ein Liebespaar erkennen.2

Bei genauerem Hinsehen werden Ihnen aber ebenso Delphine auffallen, das Bild vermittelt Doppelbotschaften. Wir haben die Darstellung auch Kindern im Alter von ca. vier bis acht Jahren vorgelegt, mit dem Ergebnis, dass über 80 Prozent tatsächlich zuallererst die Tiere sahen und nicht zwei Liebende. Die Art der Wahrnehmung von Informationen, deren Verarbeitung und schließlich auch die Konstruktion von Normen und Wertmaßstäben ist ein Resultat primär sozialer Interaktionsprozesse. Die Rolle der Sozialisation für unsere (sinnliche) Wahrnehmung und Heranbildung von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen kann kaum überschätzt werden.


Abb. 1: Eine mehrdeutige Botschaft: Delphine oder Liebespaar? (© Sandro Del-Prete)

Wenn wir zunächst einmal vom Einfluss der Sozialisation auf unsere Werte und Normen absehen und einigermaßen banale Wahrnehmungstatsachen betrachten, so stoßen wir gleich auf sehr interessante und bezeichnende Phänomene. In replizierten Experimenten wurde nachgewiesen, dass Kinder aus der sogenannten Unterschicht Geldmünzen anders, nämlich größer, einschätzen als Kinder aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten. Der Grad der Valenz eines Objektes, hier also der Münzen, beeinflusst tatsächlich die subjektive Größenschätzung (Zimbardo 1992, S. 185).

Der US-amerikanische Philosoph und Psychologe George Herbert Mead3 stellte bereits vor über 100 Jahren in seiner Theorie des symbolisch vermittelten Interaktionismus die Abhängigkeit der Entwicklung des individuellen Denkens von der Gesellschaft, ihren Normen und Werten fest und kam zu dem Schluss, dass der Mensch notwendigerweise eine ethnozentrische Weltauffassung haben müsse. Die Werte der Gesellschaft werden also aufgenommen, adaptiert, ausprobiert und damit aber auch gefestigt. „Der Heranwachsende [adaptiert] letztendlich auch deren [gemeint ist die Bezugsgruppe] Weltanschauung und damit den (vor-)theoretischen Hintergrund und die Vernunftsgrundsätze, mit denen er sich ,die Welt‘ erklärt“ (Stavemann 2007, S. 56). Als Menschen sind wir nahezu ständig auf der Suche nach Erklärungen für die Welt. Wir hätten gerne Antworten auf die Warum-Fragen unseres Lebens: Warum bevorzugt diese Frau einen anderen? Aus welchem Grund bin nicht ich Abteilungsleiter geworden? Warum kommt die Person, mit der ich einen Termin habe, zu spät?

Der Mensch sucht nach kausalen Faktoren für Verhaltensweisen, Ereignisse und Ergebnisse. Der österreichische Gestaltpsychologe Fritz Heider formulierte in den 1960er-Jahren mit der Attributionstheorie eine der bekanntesten psychologischen Theorien im Zusammenhang mit sozialen Kognitionen und Beziehungen. Zur Attributionstheorie gibt es mittlerweile Tausende von Studien, ihre Aussagen gelten empirisch als sehr gut gesichert.

Die Attributionstheorie ist „ein allgemeiner Ansatz zur Beschreibung der Art und Weise, in der ein sozial Wahrnehmender Informationen nutzt, um kausale Erklärungen zu generieren“ (Gerrig/Zimbardo 2008, S. 637). Heider zufolge stellen wir primär zwei Fragen:

a) Liegen die Ursachen in der Person (internale oder dispositionale Kausalität) oder in der Situation (externale oder situationale Kausalität)?

b) Wer ist für das Ergebnis verantwortlich?

Harold Kelley erweiterte die Attributionstheorie und stellte fest, dass die Menschen vor allem in Situationen der Unsicherheit Kausalattributionen4 vornehmen. Wir kämpfen mit diesen Unsicherheiten, aber haben fast nie ausreichende Informationen zur Erklärung von Ereignissen oder Verhaltensweisen, weswegen wir – nach Kelley – das Kovariationsprinzip anwenden: Der Mensch schreibt zur Erklärung die von ihm beobachteten Verhaltensweisen und Ereignisse einem Kausalfaktor zu, „wenn dieser Faktor immer dann gegeben war, wenn das Verhalten aufgetreten ist, aber nicht gegeben war, wenn das Verhalten nicht aufgetreten ist“ (ebd., S. 638).

Ein Beispiel: Ein Arbeitskollege kommt verspätet in eine wichtige Teambesprechung. Alle waren pünktlich da, nur er nicht. Welche Überlegungen würden Sie anstellen, um herauszufinden, was da los ist?

Nach Kelley sind es vor allem drei Dimensionen, die wir heranziehen, um Verhalten zu erklären:

a) Distinktheit: Ist das Verhalten spezifisch für eine bestimmte Situation – ist er in der Regel pünktlich oder unpünktlich?

b) Konsistenz: Tritt dieses Verhalten wiederholt als Reaktion auf diese Situation auf – ist er in der Vergangenheit pünktlich gekommen?

c) Konsens: Zeigen andere Menschen auch dieses Verhalten in einer vergleichbaren Situation – kommen die anderen normalerweise pünktlich oder unpünktlich?

Welches der beiden Erklärungsmodelle würden Sie eher wählen:

• Er hat gerade erfahren, dass sein Auto gestohlen wurde.

• Er soll sich zusammennehmen und zu einer so wichtigen Besprechung pünktlich kommen.

Im Durchschnitt wählen die meisten Menschen eher die zweite Erklärung, die sich auf eine Disposition bezieht: Die Ursache liegt im Menschen und nicht in der Situation. Da diese Tendenz sehr stark ist, hat der Sozialpsychologe Lee Ross sie als den fundamentalen Attributionsfehler bezeichnet. Wir neigen dazu, menschliche Faktoren über- und Situationsfaktoren unterzubewerten, mit anderen Worten: Der Mensch ist eher verantwortlich als die Umwelt.

Weitere Beispiele solcher Verzerrungen sind der Self-Serving Bias und die Self-Fulfilling Prophecies. Self-Serving Bias bedeutet: Menschen neigen dazu, die Verantwortung für Misserfolge anderweitig zu suchen, etwa bei anderen Menschen oder der Situation an sich. Das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiungen sagt aus, dass wir unser Verhalten oft so anpassen, dass unsere Erwartungen eben dadurch eintreten.

Ein Beispiel: Wird jemand zu einer „kreativen Besprechung“ eingeladen, wo er für ihn ungewohnt im Kreis sitzen und mit einem Redesymbol hantieren soll, und empfindet diese Person solche Umstände als „irgendwie blöd“, kann es passieren, dass er durch sein Verhalten die Besprechung aktiv in eine Richtung lenkt, die seine ablehnenden Vorerwartungen voll bestätigt.

Warum sind psychologische Theorien wie die Attributionstheorie und ihre Verfeinerungen, beispielsweise das Kovariationsprinzip, als Modell für den Dialog wichtig? Sie sind es vor allem deshalb, weil wir sehr anfällig sind für Verzerrungen in unserer Wahrnehmung und unserem Denken, die uns aber zumeist eben nicht bewusst sind! Darin liegen gewisse Gefahren und der Dialog gibt uns viele Möglichkeiten, durch das gemeinsame Denken und die dadurch angeregte Innenschau diese Biasquellen5 zielgerichtet zu reflektieren und sie bis zu einem gewissen Maß zu überwinden. Prinzipien wie das „Inder-Schwebe-Halten von Annahmen“ (siehe S. 151) oder die „Leiter der Schlussfolgerungen“ (siehe S. 58) sind dabei hilfreich.

1.1 Theory of Mind

Unter Theory of Mind versteht man die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, um deren Gefühle, Wünsche, Absichten usw. zu verstehen. Wir entwickeln normalerweise so etwas wie eine Theorie über das, was in anderen vorgeht – eine Theory of Mind. Dass wir dazu in der Lage sind, „ist die Grundlage sozialen, ,sittlichen‘ Verhaltens. Ohne Interesse am anderen, ohne Gefühl für dessen Bedürfnisse und ohne differenziertes Verständnis seiner Perspektiven entwickeln sich weder Mitgefühl noch Rücksicht oder Respekt“ (Förstl 2007, S. 4). Verwandte Konzepte zur Theory of Mind sind beispielsweise:6

Empathie: Das Verhalten anderer löst Resonanz, Einfühlung aus, bis hin zu teilweiser Identifikation. Man übernimmt also – unter Wahrung einer beobachtenden Distanz – die Innenperspektive einer anderen Person. Dem liegt wohl das Bestreben zugrunde, Informationen über Menschen, mit denen wir zu tun haben, einzuholen und zu beurteilen. Wir versetzen uns also in einen anderen hinein, auch um sein Verhalten zu verstehen. Ursprünglich bezog sich der Begriff auf das Verstehen von Kunstwerken.

Mimesis: Man versucht, durch Nachahmung eine Annäherung an die Innenperspektive zu erreichen.

Alltagspsychologie: Darunter versteht man die Neigung, etwa Personen oder Zustände mit „psychologisierenden“ Begriffen zu beschreiben. So könnte beispielsweise das Verhalten einer Person, in einer Gruppe zu schweigen, als Ausdruck von „Minderwertigkeitskomplexen“ erklärt werden.

Zweifellos haben wir das Bedürfnis, eine gewisse Sicherheit oder Stabilität zu erfahren. Wir möchten relevante Ereignisse in der Umwelt vorhersagen. Sieht mich eine andere Person auf eine Weise an, die ich als aggressiv deute, gehe ich von einer erhöhten Gefahr aus – vielleicht schlägt diese Person zu. Es liegt ein „Vorteil in der Berechnung fremder Absichten […] und sogar im eigenen Verhalten gegenüber anderen Lebewesen [...], als hätten diese ein ähnliches Innenleben mit vergleichbaren Denk- und Handlungsprinzipien wie wir selbst“.7

Es geht also sehr darum, möglichst viele Informationen über die Umwelt und die Menschen darin zu sammeln. Wem diese Fähigkeit fehlt, etwa den sogenannten „Savants“, kann sich in der Umwelt mit ihren komplexen sozialen Beziehungsmustern nicht zurechtfinden: Menschen mit dem Savant-Syndrom können in sehr eingeschränkten Bereichen überdurchschnittliche Leistungen erbringen (etwa ganze Gebäude nach kurzer Betrachtungszeit detailgetreu zeichnen), aber sind in der Regel mehr oder weniger unfähig für ein „normales“ Beziehungsleben. Dies wurde schon als Beleg dafür herangezogen, dass die Theory-of-Mind-Leistungen einen sehr großen Teil unserer kognitiven Ressourcen einnehmen.

Bereits in den 1950er-Jahren konnte nachgewiesen werden, „dass das Betrachten von Filmsequenzen zu ähnlichen elektroenzephalografischen Änderungen führte wie selbstinitiierte Handlungen“.8 Der Mensch ist normalerweise gut in der Lage nachzuempfinden, was in einem anderen vorgeht oder vorgehen könnte, und erstaunlicherweise kann die bloße Vorstellung alleine schon körperlich messbare Wirkungen entfalten. Diese messbaren Wirkungen sind von denen, die auftreten, wenn sie selbst durchgeführt werden, kaum bis gar nicht unterscheidbar. Das führt uns zu einem kurzen Ausflug in die Welt der Spiegelneurone.

1.2 Spiegelneurone

Es ist eine gar nicht neue Entdeckung, dass Menschen, die irgendwie miteinander in Kontakt stehen, sehr oft Handlungen zeigen, die nahezu parallel ablaufen. Das Gähnen ist ein viel zitiertes Beispiel: Es ist ansteckend. Oder beobachten Sie einmal einen Erwachsenen, der mit einem Kleinkind kommuniziert: Seine Stimme wird höher, ähnlicher der eines Kindes, und er beugt sich nach unten, um sich auch größenmäßig dem Kind anzugleichen. Ja selbst wenn wir ein Kind mit dem Löffel füttern, öffnen wir selbst den Mund, wenn wir Blickkontakt haben.

Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma hat in den 1990er-Jahren anhand von Experimenten mit Affen Entdeckungen gemacht, die vor allem in den letzten zwanzig Jahren eine unglaubliche Resonanz auslösten. Er beobachtete, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn, die für die Ausführung einer Handlung zuständig sind, auch dann aktiv werden, wenn der Affe diese Handlung bei einem anderen Affen nur beobachtete! „Die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktivierte im Beobachter […] genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte“ (Bauer 2006, S. 22). Derartige Zellen, die ein Programm auch dann aktivieren können, wenn man die Handlung nur beobachtet, bezeichnet man als Spiegelneurone.

Aber das noch Erstaunlichere: „Beim Menschen genügt es zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneurone in Resonanz treten zu lassen“ (ebd., S. 24), und es wurde sogar nachgewiesen, dass es genügen kann, sich eine betreffende Handlung nur vorzustellen (allerdings sind die Effekte dann geringer). Die Spiegelneurone entfalten ihre Wirkung auch bei Gefühlen. Bereits Charles Darwin hat darüber geschrieben, dass sich die meisten emotionalen Reaktionen im Lauf der Evolution aufgrund ihres Nutzens herausgebildet haben und „dass es daher nicht überraschend ist, dass sie von Art zu Art und innerhalb der menschlichen Art von einer Kultur zur anderen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit aufweisen“ (Rizzolatti/Sinigaglia 2008, S. 175).

Ein Beispiel: Ekel ist zweifellos eine sehr alte, überlebenswichtige Emotion (man bedenke, dass das Verspeisen verdorbener Nahrung gefährlich ist). Es stellt sich die Frage: Aktivieren das Ekel ausdrückende Gesicht einer anderen Person und das eigene Empfinden von Ekel exakt die gleichen Regionen im Mechanismus der Spiegelneurone?

Genau das ist der Fall, wie Rizzolatti berichtet (ebd., S. 182). Wenn Versuchspersonen den ekligen Gerüchen direkt ausgesetzt sind, werden u. a. Teile in der rechten und linken Insel aktiviert, und dasselbe geschieht, wenn der Ekel der Personen nur im Video, also rein visuell wahrgenommen wird. Dabei stellte Rizzolatti auch fest, dass der Mandelkern, welcher für Angstempfindungen wichtig ist, beim wahrgenommenen Ekel keine Rolle spielt.

Diese und viele andere Untersuchungen zeigen eindrucksvoll, wie sehr das Verstehen von Emotionen anderer Personen von diesen Spiegelmechanismen abhängt. Rein sensorische Informationen können von den Spiegelneuronen direkt kodiert werden!

Der Spiegelmechanismus ermöglicht es unserem Gehirn, „direkt zu erkennen, was wir anderen tun, sehen, hören oder uns vorstellen, das aktiviert dieselben neuralen […] Strukturen, die für unsere Handlungen oder unsere eigenen Emotionen verantwortlich sind“ (ebd., S. 188).

1.3 Heuristiken, Automatismen und Bauchgefühl

Ein auch für den Dialog äußerst spannendes Thema sind die kognitiven Schnellschüsse, also die sehr rasch ablaufenden Bewertungen beispielsweise von Situationen bei unzureichender Information, sowie das sogenannte „Bauchgefühl“. Bei der Vielzahl an Informationen und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass unser Gehirn so arbeitet, wie es arbeitet – mit all den Konstruktionen, die es gemäß seiner Beschaffenheit herstellen muss –, ist es klar, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt der uns zur Verfügung stehenden Informationen nutzen können.

Cialdini (Cialdini 2006, S. 336) berichtet von einem amüsanten Wortwechsel zwischen Frank Zappa und dem US-amerikanischen Showmaster Joe Pyne (der eine Beinprothese trug), welcher berühmt dafür war, seinen Gästen mit provozierenden Bemerkungen zu begegnen:

„Pyne: Ich würde sagen, Sie mit Ihren langen Haaren müssten eigentlich eine Frau sein. Zappa: Ich würde sagen, Sie mit Ihrem Holzbein müssten eigentlich ein Tisch sein.“

Natürlich schließen wir, gerade im Alltagsleben, von einigen wenigen Hinweisreizen auf etwas dahinterstehendes Größeres. Wir werden in diesem Buch sehr viele Beispiele dafür kennenlernen und die zugrunde liegenden Mechanismen samt ihren Risiken besprechen. Sehr oft verlassen wir uns bei unseren Einschätzungen auf unser „Bauchgefühl“ und das ist in vielen Fällen auch sehr gut so. Zum einen sind die Wechselwirkungen zwischen dem sogenannten „Verstand“ und unseren Emotionen massiv, zum anderen gibt es Situationen im Leben, in denen eine „rein rationale“ Entscheidungsfindung schlicht lächerlich wäre – wenn man nicht sowieso davon ausgeht, dass diese in unserem Kulturkreis übliche historisch bedingte Trennung von Gefühl und Verstand mehr als entbehrlich ist.

Bei Gerd Gigerenzer (Gigerenzer 2007, S. 13) ist eine nette Anekdote zu lesen – und zwar über einen Ratschlag, den Benjamin Franklin einem Neffen gegeben hatte, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden konnte:

„Wenn du zweifelst, notiere alle Gründe, pro und contra, in zwei nebeneinanderliegenden Spalten auf einem Blatt Papier, und nachdem du sie zwei oder drei Tage bedacht hast, führe eine Operation aus, die manchen algebraischen Aufgaben ähnelt; prüfe, welche Gründe oder Motive in der einen Spalte denen in der anderen an Wichtigkeit entsprechen – eins zu eins, eins zu zwei, zwei zu drei oder wie auch immer –, und wenn du alle Gleichwertigkeiten auf beiden Seiten gestrichen hast, kannst du sehen, wo noch ein Rest bleibt. […] Dieser Art moralischer Algebra habe ich mich häufig in wichtigen und zweifelhaften Angelegenheiten bedient, und obwohl sie nicht mathematisch exakt sein kann, hat sie sich für mich häufig als außerordentlich nützlich erwiesen. Nebenbei bemerkt, wenn du sie nicht lernst, wirst du dich, fürchte ich, nie verheiraten.

Dein dich liebender Onkel

B. Franklin“

Gerade in der heutigen Zeit, in der so viel Wert auf quantitative Daten gelegt wird, also darauf, auch komplexe und im Grunde nur intuitiv zu erfassende Zusammenhänge in Form von Zahlenmaterial darzustellen, kann es zu kuriosen Erscheinungen kommen, wenn etwas sehr Intuitives beispielsweise in Formeln gepresst wird. Ein nettes Beispiel dafür findet sich selbst bei dem „urtypischen“ wahrnehmend-beobachtenden Naturforscher Konrad Lorenz, der sich bekanntermaßen gegen diese quantifizierenden, statistischen Methoden verwahrt hat.9 Er unternahm den Versuch, den Umstand, dass wir uns emotional vom Verhalten eines Tieres angesprochen fühlen, in einer Wahrscheinlichkeitsformel auszudrücken (Lorenz 1988, S. 291):

„Wenn wir uns vom Verhalten eines Tieres emotional angesprochen fühlen, ist das ein sicherer Indikator dafür, daß wir intuitiv eine Ähnlichkeit zwischen tierischem und menschlichem Verhalten entdeckt haben […] Die Ähnlichkeit ist wissenschaftlich erfaßbar:

bei n Merkmalen beträgt ihre Wahrscheinlichkeit

Wir können es ruhig wagen, gerade auch im Bereich des Zwischenmenschlichen, mehr auf unser Bauchgefühl zu hören und nicht immer nach Belegen zu suchen, die durch ihre ausgefeilte Methodik sehr wissenschaftlich und „objektiv“ aussehen. Gigerenzer (Gigerenzer 2007, S. 25) verwendet den Begriff „Bauchgefühl“ synonym mit Intuition und Ahnung,

„um ein Urteil zu bezeichnen,

1. das rasch im Bewusstsein auftaucht,

2. dessen tiefere Gründe uns auch nicht ganz bewusst sind und

3. das stark genug ist, um danach zu handeln.“

Das Bauchgefühl sei demnach nicht nur ein Impuls, sondern habe seine eigene Gesetzmäßigkeit und es bestehe aus zwei Elementen: aus a) einfachen Faustregeln, die sich b) evolvierte Fähigkeiten10 des Gehirns zunutze machen. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Wenn man Sie fragen würde, welche Stadt mehr Einwohner hat – Detroit oder Milwaukee, was würden Sie antworten (ebd., S. 15)? Gerd Gigerenzer hat genau diese Frage sowohl seinen US-amerikanischen als auch seinen deutschen Studenten gestellt, mit dem Ergebnis, dass „praktisch alle [Deutschen] die richtige Antwort: Detroit [gaben]“ im Gegensatz zu nur 40 % der amerikanischen Studenten. Das ist irgendwie paradox, denn die deutschen Studenten wussten viel weniger über die amerikanische Geografie Bescheid als ihre Kollegen jenseits des großen Teiches. Viele Deutsche hatten – im Gegensatz zu den amerikanischen Studenten – noch nie etwas über Milwaukee gehört.

Die Lösung ist schlicht: Die Deutschen verließen sich auf einen Automatismus, den man als Rekognitionsheuristik bezeichnet. „Kennst du den Namen der einen, aber nicht den der anderen Stadt, dann schließe daraus, dass die dir bekannte Stadt die größere ist.“ Dieses Prinzip, diese Faustregel, war von den Amerikanern nicht anwendbar – sie wussten einfach zu viel über beide Städte. Natürlich kann man bei solchen intuitiven Urteilen auch total verkehrt liegen. Aber dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass „ein gewisses Maß an Unwissenheit […] also durchaus von Wert sein [kann]“ (ebd., S. 16).

Menschen benutzen unterschiedliche Heuristiken, das sind einfache wie effiziente Regeln zur Beurteilung und Entscheidungsfindung. Sie passieren im Grunde „aus dem Bauch heraus“, oft sind wir nicht in der Lage zu erklären, warum wir eine Situation oder einen Menschen so und nicht anders einschätzen. Dabei lassen wir uns unbewusst gerne von Einflüssen leiten, die äußerst „irrational“ erscheinen.

Eine weitere, häufig verwendete Heuristik ist die Verfügbarkeitsheuristik. Nach dieser ist der Grad der Zugänglichkeit von Informationen die Grundlage für die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Wird jemand gefragt, wie viele Ausländer in seinem Wohnort leben, und hat diese Person keine ausreichenden Daten zur Verfügung, wird sie sich an einzelne Ausländer zu erinnern versuchen. „Je mehr Personen dieser Kategorie ihm einfallen (und je schneller sie ihm einfallen), desto höher wird er ihre Häufigkeit einschätzen“ (Herkner 1996, S. 202).

Dan Ariely, Professor für Verhaltensökonomik am Massachusetts Institute of Technology in Boston, führte einmal ein amüsantes Experiment durch, das zeigt, welch kuriose Einflussfaktoren unsere Einschätzungen beeinflussen können (Ariely 2008, S. 49). Den Versuchspersonen wurden verschiedene Produkte gezeigt (u. a. ein schnurloser Trackball, eine schnurlose Tastatur mit Maus, ein Designbuch und eine Schachtel mit belgischen Pralinen). Anschließend mussten sie auf einem Blatt Papier, auf dem alle diese Produkte aufgelistet waren, angeben, wie viel sie maximal für diese Produkte zu zahlen bereit waren. Der entscheidende Punkt bestand allerdings darin, dass die Personen vorher ersucht wurden, auf das Blatt Papier die letzten beiden Zahlen ihrer Sozialversicherungsnummer zu schreiben (die amerikanischen Sozialversicherungsnummern enden nicht so wie die österreichischen mit dem Geburtsjahr).

Erstaunlicherweise gaben die Personen mit den höchsten Endziffern im Mittel die höchsten Gebote ab, jene mit den niedrigsten waren im Schnitt auch am wenigsten zu zahlen bereit. „Am Ende stellten wir fest, dass die Gebote […] mit Endziffern im Bereich der oberen 20 Prozent um 216 bis 346 Prozent höher lagen als die Gebote derjenigen, deren Endziffern im Bereich der unteren 20 Prozent lagen“ (ebd., S. 51). Dieser unbewusste Automatismus ist doch sehr erstaunlich und zeigt, wie stark wir von unbemerkten Einflüssen gelenkt werden können.

Bei diesem Beispiel handelt es sich nicht um eine Heuristik, sondern um das schlichte Setzen eines Ankerreizes. Solche Anker, unsere auf Heuristiken basierenden Urteile, all unsere kognitiven Schnellschüsse und Automatismen sind wesentliche Faktoren, die unsere Denkmuster, Verhaltensweisen und Beurteilungen mitbestimmen und denen wir uns in aller Regel kaum bis gar nicht entziehen können. Dies alles sollten wir bedenken, wenn wir es mit anderen Menschen zu tun haben – und natürlich auch, wenn wir es mit uns selbst zu tun haben.

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