Kitabı oku: «KISHOU I»

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Copyright: © 2021 Michael Kornas-Danisch

KISHOU I

Nichts ist ohne das SCHEIDEN

Ohne das Scheiden ist NICHTS

So ist ENTSCHEIDUNG

SCHÖPFUNG

Erschaffend aus sich selbst heraus

Das DING

So ist das DING

Und mit ihm ist die ZEIT

Es kann nicht sein das EINE

Wo nicht ist das ANDERE

Prolog

„Li suni to!“

„Qua suni to?“

„Li – Suäl Graal!“

Die Altwisin nickte unmerklich, während sie Mujie Saii aufmerksam musterte. Sie nahm ein kleines Kännchen von der Anrichte neben sich, und träufelte von seinem Inhalt etwas über den Kräuterkreis, den sie kurz zuvor um ihre Füße herum angelegt hatte. Ein feiner Rauch kräuselte sich an Mujie Saiis Beinen nach oben. Sein Geruch überdeckte die feuchte und salzige Luft des nahen Meeres, die sich mischte in den Winden mit dem rauchigen Geschmack verbrannten Holzes. Es brannten immer einige Kamine in der Siedlung.

Dann endlich wandte sie sich um in das innere des Raumes, an deren gegenüberliegende Wand die Familie Saii gebannt und mit ängstlichen Blicken dem Ritual folgten. Mujie Saiis starre Augen blickten derweil die ganze Zeit leer und ohne erkennbare Erregung zum Fenster hinaus, in das wilde Hochland – hinüber zum 'Gespaltenen Berg'. Sie hatte einen guten Blick auf ihn. Wenn der immerwährende neblige Dunst sich zuweilen einmal für kurze Zeit auflöste, und das Wetter so klar war wie heute, fanden die Augen auch dessen Gipfel – und es war nicht irgendein Gipfel irgendeines Berges, von denen es in diesem Hochland so nahe dem Meer unzählige gab. Es war der Berg Suäl Graals, der mächtigen ,Göttin des Kelches' – wie sie in den Legenden beschrieben wurde. Der Gipfel dieses Berges wird darin als ihre Heimstatt benannt. Bei ihrer Ankunft vor vielen Zeiten hatte sie, um ihre Macht zu demonstrieren, den Berg in seiner Mitten aufgerissen, und seine dem Meer zugewandte Seite in die Fluten stürzen lassen – so berichten die Legenden.

„Bedeuten die seltsamen Worte meiner Schwester irgendetwas?“ Es war Halem Saii, der dies in Ungeduld fragte. Er war der einzige noch verbliebene Bruder Mujies. Zwei weitere, die Älteren, waren längst nicht mehr unter ihnen. Bogol Saii, der Älteste, verunglückte schon vor langer Zeit oben am Tausteg – einem leichten Überhang der nahen Steilküste – als die Familie nach der noch sehr kleinen Mujie suchten. Das Kind hatte ohne Begleitung bei einem Unwetter das Haus verlassen. Ein Teil des Überhanges brach unter seinen Füßen und stürzte mit ihm ins Meer. Der Zweite, Tako mit Namen, blieb vor noch nicht vielen Sonnenwenden im Kampf gegen den Stamm der Zuren im Feld.

„Bedeuten die seltsamen Worte meiner Schwester irgendetwas?“, fragte Halem noch einmal nachdringlicher, als die Altwisin nicht sofort antwortete. Altwisen waren ein besonderer Zweig der Heilkundigen, die allerdings neben der Heilkunst noch sehr viel Wissen über das Volk der Nin und ihre Stämme in sich trugen. Sie waren vertraut mit der Kultur ihres Volkes und ihren Wandlungen in der Zeit, ihren Traditionen, Ritualen und den Göttern. Halem hatte sie auf Bitten der Mutter von weit her in ihr Dorf geholt. Es gab nicht viele von ihnen.

Jetzt endlich nickte die Altwisin nachdenklich. „Es sind Worte einer sehr alten Sprache – Äonen liegen zwischen ihr und unserer Zeit. Nur zwei Stämme am Rande unserer Welt sind mir bekannt, in denen sie noch in Teilen lebendig ist.

„Was sagt sie?“, fragte nun der Vater und richtete sich etwas auf. Er war von stämmiger Gestalt, wirkte aber dennoch müde mit seinen ergrauten, wirren Kopf- und Gesichtshaaren.

„Sie sagt, sie wäre nicht da!“, antwortete die Altwisin.

„Wer ist nicht da?“, fragte der Vater sofort nach.

„Das waren auch meine Worte, die ich an sie richtete!“, nickte die Altwisin. „Sie sagte darauf: Suäl Graal!“

Schultern und Kopf des Vater senkten sich wieder, und auch die Blicke Halems und der Mutter verstummten, als wäre eine böse Ahnung in ihnen zur Gewissheit geworden.

„Erzählt mir von der Tochter – wann alles begann, und was sich sonst noch in ihr zeigt!“, forderte die Altwisin.

„Es ist schwer zu …!“, wollte der Vater gerade beginnen, als er sogleich von der Altwisin unterbrochen wurde. „Nicht hier! Ich habe Vorbereitungen getroffen, dass sie bald zurückkehren wird. Wir sollten ungestört sein!“

So wechselten sie in den angrenzenden Raum. Er war nicht viel größer als der Erstere, aber etwas wohnlicher gestaltet – besaß einen großen Tisch mit Stühlen und einen Kamin, der inzwischen aber verloschen war. Durch sein Fenster, dass hier an der Seite des Hauses lag, konnte man zwischen Bäumen und Sträuchern die Giebel des nahen Nachbarhauses sehen.

„Wir haben uns oft schon diese Frage gestellt!“, begann die Mutter sofort, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Sie war eigentlich ein heiteres, unbeschwertes Kind, dass …“

„Aber auch immer schon sehr eigensinnig!“, wurde sie vom Vater unterbrochen. „Man konnte sie nicht alleine lassen, kaum das sie Laufen konnte!“, schüttelte er erinnernd seinen ergrauten Schopf. „Immer wieder einmal war sie verschwunden, fand sich auf benachbarten Gehöften wieder oder in den umliegenden Feldern und Brachen. Sie verweigerte jeden Gehorsam und keine Strafe konnte sie auf Dauer zähmen!“

„Ja, sie war sehr neugierig ...!“, versuchte die Mutter zu beschwichtigen.

„Sie war in allem ohne Maß und ohne jede Einsicht. Erinnere Dich, wie auch du geklagt hast!"

„Doch sie war eine andere, nachdem Bogol, ihr Bruder verunglückte!“

„Ich weiß nicht, ob es daran lag!“, widersprach auch hier der Vater unwillig. „Sie war eigentlich noch zu klein, um das Unglück zu versteh'n – aber wohl alt genug, um etwas ruhiger und einsichtiger zu werden!“

„Es kam aber doch sehr plötzlich!“, beharrte die Mutter auf ihre Ansicht der Dinge.

„Was veränderte sich an ihr?“, unterbrach die Altwisin den Disput.

„Sie war plötzlich sehr gehorsam!“, übernahm sofort die Mutter. „Sie ging kaum mehr über den Hof hinaus, half im Haus und auf dem Feld so gut sie schon konnte - … und war sehr ernst bei allem. Ich glaub, sie hat auch seit dem nicht mehr gelacht!“, richtete sie sich an den Vater, als wollte sie seine Bestätigung einholen.

„Sie war eben älter geworden!“, versuchte der noch einmal seine Sicht der Dinge zu verteidigen. „Es ist nicht leicht, dem Boden hier etwas abzuringen!“, richtete er sich an die Altwisin. „Es sind immer große Wege und viel Arbeit. Das bekommt man schon früh mit, wenn man hier lebt – und wir mussten damals auch auf Bogol verzichten. Er war ein ganzer Kerl und kräftig!“

„Aber du hast doch nun gehört, dass die Allmächtige von Mujie Besitz ergriffen hat, und es war die Allmächtige, die den Tausteg aus der Wand brach, dass unser Bogol ins Meer gerissen wurde. Wie kannst du noch meinen, das Mujies Veränderung nichts damit zu tun hat?“

Der Vater schwieg.

„Es ist doch so?“, setzte die Mutter fort, und schaute fragend zur Altwisin. „Unsere Tochter ist von Suäl Graal besessen!“

„Erzählt, was weiter geschah!“, ließ die Altwisin die Frage zunächst unbeantwortet.

„Der Stamm der Zuren traf vor noch nicht langer Zeit einmal mehr Vorbereitungen, in unser Land einzubrechen – vom Ogental aus. Es waren …“

„Das ist mir bekannt!“, unterbrach die Altwisin.

„Ja!“, nickte der Vater verstehend. „Werber kamen, um von jeder Familie den Tauglichsten zu fordern. Was soll man tun …!“, er atmete tief ein. „ich selbst habe in meiner Jugend schon gegen sie gekämpft! Sie müssen ja aufgehalten werden!“ Seine Lippen bewegten sich, als kaute er auf etwas herum … „Es war Tako, mein nun ältester, der mit ihnen ging. Er kehrte nicht zurück!“

„Mujie liebte ihren Bruder sehr, …“, bemerkte die Mutter mit gesenktem Kopf und erstickter Stimme, „… und gab ihm ein Amulett mit auf den Weg, das ihn schützen sollte …!“

„Seither ist sie nicht mehr sie selbst“, übernahm nun Halem Saii. „Wenn wir nicht auf dem Feld sind, verbringt sie die meiste Zeit im Gebetsraum, und spricht mit Gäa. Oft steht sie am Fenster, wie jetzt gerade, und stiert unentwegt zum Gespaltenen Berg hinüber. Nichts um sie herum scheint dann mehr zu gelten. Manches Mal schreit sie dann plötzlich wie ein weidwundes Tier und ist lange nicht zu beruhigen!“

„Sie sagt, sie wüsste nicht, was mit ihr geschieht in diesen Momenten!“, ergänzte die Mutter.

„Ich weiß nicht, ob es wahr ist …“, ließ sich nun wieder der Vater vernehmen. „Hier und in den umliegenden Dörfern erzählt man sich von vielen Unglücken in den Familien in den letzten Zeiten – und von verdorbenen Ernten. Man redet nicht offen darüber … aber es heißt, unsere Tochter …“

„Es sind nur einige, die so denken!“, wurde er fast barsch von Halem unterbrochen. „Mujie hat damit nichts zu tun! Sie ist gequält von Suäl Graal, wie alle unseres Volkes!“

Ein beklemmendes Schweigen folgte dem Ausruf Halems, und wurde erst von der Altwisin wieder aufgehoben. „Sie beherrscht Worte, die lange schon vergangen sind im Volk der Nin! Wisst ihr noch von anderen Fähigkeiten, die nicht gewöhnlich sind!“, fragte sie.

„Als Tako noch unter uns war, sah man sie mit großem Geschick mit dem Schwert umgehen!“, erinnerte sich Halem. „Doch man hat niemals gesehen, dass sie sich darin übte …!“

„Das ist wahr!“, bestätigte sofort der Vater. „Auch mit dem Bogen war sie schon sehr früh vertraut. Niemand konnte sich in dieser Kunst mit ihr messen!“

„Es war aber sicherlich auch kein gewöhnlicher Bogen!“, gab die Mutter zu bedenken. „Eine Magie war mit ihm verbunden!“

„Eine Magie?“, horchte die Altwisin auf.

„Es musste wohl so sein!“, bestätigte die Mutter.

„Die Tochter war gerade geboren …“, erklärte darauf der Vater nachdenklich, „… da erschien ein fremder im Dorf, dessen Namen niemand mehr erinnert – hochgewachsen und alt an Jahren. Er trug den Bogen bei sich. Wir boten ihm Unterschlupf in unserem Hause für die kurze Zeit seines Aufenthalts. Als er wieder aufbrach, legte er seinen Bogen auf das Kindbett, und sagte, dass nun sie ihn führen sollte, wenn sie herangewachsen war. Wir hielten es für eine Geste des Dankes, dass wir ihn bei uns aufgenommen hatten!“

„Und worin lag nun die Magie des Bogens?“, fragte die Altwisin nach.

„Kaum das Mujie die Kraft hatte, ihn ein wenig zu spannen …“, sprudelte die Mutter sogleich hervor, „… traf sein Pfeil das kleinste Ziel aus großer Entfernung. Niemanden sonst gewährte der Bogen diese Gunst außer der Tochter. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen …!“

„Zeigt mir den Bogen!“, bat die Altwisin.

„Wir haben ihn nicht mehr!“, schüttelte der Vater unwillig den Kopf.

„Nachdem eine Ahnung in uns aufkam, dass Suäl Graal ihr böses Spiel mit unserer Tochter trieb, konnte der Bogen nur ein Werk ihrer Allmacht sein!“, erregte sich die Mutter etwas. „Wir warfen ihn ins Feuer – aber er verbrannte nicht. Keine Flamme wollte an ihm zehren – selbst seine Sehne blieb ungeschwärzt! …“

„Ich trug ihn zuletzt zum höchsten Ort der Steilküste, und warf ihn hinab ins Meer, aus dem Suäl Graal einst entstiegen ist!“, übernahm Halem. „Wir gaben der Allmächtigen zurück was das ihre war!“, schloss er.

„Kannst du unserer Tochter helfen?“, fragte die Mutter nun mit ängstlichem Blick.

Die Altwisin senkte den Kopf und schien in sich hineinzuhorchen. Dann blickte sie wieder auf. „Nur Gäa und die Allmächtige wissen, was eure Tochter erleidet. Es müssen viele Zeiten in ihr aufgehoben sein, dass sie Worte in sich trägt, deren Klang längst vergangen ist! Mir scheint, eure Tochter ist ein Kishou – so bezeichnete man in den längst vergangenen Zeiten die ‚Suchenden’, wie sie im Volk der Nin so manchesmal wiedergeboren wurden. Der letzte, von dem mir berichtet wurde, lebte in Khokut – viele Tagesreisen von hier. Er soll allerdings bereits eine sehr hohe Stufe der Weisheit erlangt haben, so sprechen die, die von ihm wissen. Doch es ist schon sehr lange her, dass er unter uns war!“

Sie machte eine kleine Pause, und schien wiederum in sich hinein zu horchen. „Was geschehen ist, kann nicht mehr ungeschehen sein – was erfahren ist, nicht unerfahren!“, meinte sie endlich. „Möglich, dass Suäl Graal tatsächlich von ihr Besitz ergriffen hat – oder zumindest irgendeine Verbindung zwischen ihnen besteht. Es quält sie offenbar sehr!", bestätigte die Altwisin die Mutter weitgehend in ihren Befürchtungen. „Ich will ihr ein Elixier mischen, dass eine schwarze Decke darüber legen wird, was in ihr geschehen – und ein Zweites, dass sie vergessen macht, was in ihr als Erfahrung ruht. Das Erstere nimmt sie am Morgen jeden Tages zu zwei Löffeln, von dem Zweiten träufelt etwas am Abend auf ihre Ruhestatt. Es kann sie nicht heilen – wie der Suchende niemals auf immer aufgehalten werden kann. Doch wird es in der Zeit das Maß ihrer Empfindsamkeit herabsetzen!“

„Wonach sucht sie?“, wunderte sich Halem, doch für eine Antwort der Altwisin war keine Gelegenheit mehr. Der hölzerne Riegel der Tür klappte in diesem Moment nach oben, und der Zugang zum angrenzenden Raum öffnete sich langsam. Mujie Saii stand dort – zitternd und das Gesicht feucht von Schweiß und Tränen …

„Ich hab Angst!“, sagte sie leise.

Halem war aufgesprungen und barg sie fest in seine Arme …

~

„Wie die Altwisin es vorher gesagt hatte, so geschah es. Die geheimen Elixiere aus wilden Kräutern zeigte ihre Wirkung, und in der Zeit zweier Sonnenwenden über dem Salzberg entspannte sich das Antlitz Mujie Saiis mehr und mehr, bis jede Bedrückung von ihr genommen schien.

Eine gute Zeit war angebrochen, die den gerechten Lohn der alltäglichen Beschwernisse versprach, mit denen man dem kargen Boden des Hochlandes seine Früchte abringen musste. Rahmin, der zweitälteste der Familie Tayl, warb seit kurzem um Mujie – und es sah zuweilen danach aus, als würde er erfolgreich sein. …

~

„M

ujie!“

„Was ist?“. Die Gerufene trat an das Fenster und stieß dessen rechten Flügel nach außen, der schon lange nur noch kraftlos an einem seiner Scharniere hing, und bei jedem Windzug halb zuklappte.

„Komm heraus, wenn du dich traust!“ Halem Saii stand ein Stück weit vor dem Haus, und übte sich schon den halben Tag in der Führung seines schweren Schwertes. Er hatte es sich von Ramon, dem alten Schmied, erst vor Kurzem nach seinen strengen Anweisungen anfertigen lassen – und es war ihm gut gelungen.

„Du spinnst!“, rief ihm Mujie zu. „Wo ist Rassl?“ Sie hatte durchaus bemerkt, dass schon vor einer Weile das Klirren und Schaben von Eisen auf Eisen aufgehört hatte. Rassl war der älteste Sohn jener Familie, deren Haus nur einen Steinwurf von ihnen, hinter der brüchigen kleinen Mauer stand. Er übte fast täglich mit dem Freund.

„Er ist aufs Feld!“, rief ihr der Bruder zu.

„Das solltest du auch tun, und Vater und Mutter helfen, anstatt die Vögel mit deinem Krach zu verschrecken!“

Halem lachte laut auf. „Ich wusste nicht, dass ich eine so ängstliche Schwester habe, dass sie grad' das Klirren von blechernen Tiegeln und Töpfen erträgt!“

Mujie Saii verdrehte unter einem Seufzer die Augen, zog ihr Schwert von der Halterung an der Wand, und verließ das Haus.

„Ich weiß nicht, warum ich dieses Ding hier heraus trage – ein Besen sollte reichen!“ Mit dem ,Ding’ meinte sie ihr Schwert, das sie durchaus noch zu führen verstand – nicht mehr mit jenem Geschick, das ihr früher zuteil war, der Schleier des Vergessens hatte sich wohl auch darüber gelegt – doch gut genug für manch kurzweilige Ablenkung vom Alltag. Sie warf ihre verfilzten Locken mit der Hand von der Schulter, die der raue Wind jedoch sofort wieder zurück trug, und stellte sich vor den Bruder auf.

„Ist es denn etwas anderes, was du in der Hand hältst?“, lachte Halem, und ließ in einer jähen Kreisbewegung die Klinge seines Schwertes seitwärts gegen die Schwester rennen.

Es war ein ungleicher Kampf, in dem Halem durchaus darauf bedacht war, dass die Schwester seine Schläge mit nicht all zu viel Mühe parieren konnte. Dennoch war sie sehr bald in die Defensive gedrängt. Mit dem Jauchzer des Übermuts wich er den wenigen Attacken der Schwester aus, die er ihr noch beließ. „Meine kleine Schwester ist mit ihrem Besen recht schnell!“, lachte Halem anerkennend – wohl um sie bei Laune zu halten.

Mujies Antwort war ein schneller Frontalstoß mit der Schwertspitze, dem der Bruder einmal mehr mit einem Jauchzer, und dem schnellen Öffnen seines Körpers auswich, so dass der Stoß Mujies ins Leere ging. Im vorläufigen Rückzug schwang Mujie die Klinge kreisförmig hinter sich, um nun mit einem Hieb von oben zu kommen. Wieder wich Halem elegant und übermütig jauchzend der Parade aus – doch die Klinge Mujies stoppte jäh in der Waagerechten. Ihr Körper drehte sich blitzschnell um die eigene Achse, und die Fläche ihrer Klinge klatsche hörbar auf das Hinterteil des Bruders.

Für einen Augenblick war tatsächlich eine Verblüffung in den weit geöffneten Augen Halems zu entdecken. „Du bist hinterhältig!“, beschwerte er sich. Aber es war wohl eher ein gespielter Vorwurf. Halem Saii liebte seine Schwester sehr.

„Na und?“, blinzelte Mujie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und einem frechen Grinsen an. Doch plötzlich spannte sich ihr Gesicht und ihr Blick fiel zum Himmel – in dessen schwere Wolken. „Es ist still geworden!“, sagte sie aufhorchend. Ihre Augen weiteten sich, als sehe sie dort oben etwas.

Halem schaute hinüber zum Gespaltenen Berg, dessen Gipfel sich, wie es fast immer war, im grauen Dunst auflöste, und horchte in die wilde Natur. Tatsächlich. Kein Blatt wurde von einem Wind bewegt – und auch die Vögel waren verstummt.

„Hol den Wagen – beeil dich!“ Fast flüsterte Mujie mit starren und weit aufgerissenen Augen.

„Was ist?“, wollte der Bruder wissen.

„Hol den Wagen – schnell!“ Fast schon lag ein Befehl in ihren Worten.

Halem war verwirrt – seine Blicke tasteten einen Moment unruhig zwischen der Schwester, dem Himmel und dem Gespaltenen Berg hin und hier. Er fand keine Erklärung, und die Dringlichkeit der Worte Mujies gestatteten keine Zeit, danach zu suchen. … „Ja!“, sagte er endlich, bereits im Laufschritt unterwegs zum Schuppen hinter dem Haus.

Nur Augenblicke später erschien er wieder mit dem Pferd, an das ein kleiner klappriger Wagen angespannt war. Mujie sprang auf das hölzerne Brett neben ihren Bruder, und Halem war bemüht, das Tier auf den schnellstmöglichen Trab zu bringen.

Ihr Feld war ein gutes Stück weit entfernt. Es gab in dieser Gegend nicht viel Land, das beackert werden konnte. Zu steinig und ausgewaschen war der Boden hier. Ächzend hastete der Wagen über den ausgefahrenen, holprigen Weg.

Mujies furchtsamer Blick ließ nicht ab von den Wolken über ihnen, als plötzlich ein gellender Schrei aus ihr herausbrach. Im selben Moment zerriss ein gleißender Blitz den Himmel, dem der ohrenbetäubende Schlag eines Donners folgte. Eine schwere Windbö fegte Pferd und Wagen fast von der Straße – und nur Augenblicke später schien der Himmel auf sie herabzufallen. Fluten von Wasser ließen kaum den Weg erkennen, der sie zu ihrem Acker führen sollte.

Halem Saii erschauerte. Nicht, weil der Schrei der Schwester ihn in eine überwunden geglaubte Zeit zurückwarf – er bemerkte diesen Umstand nicht einmal in diesem Moment. Er meinte vielmehr einen solchen Schrei des Schmerzes von ihr nie zuvor gehört zu haben – oder waren es nur die Begleitumstände, die seinen Klang so tief in sein Mark stieß ... Seine Augen versuchten verzweifelt, eine Orientierung durch die herabstürzenden Wasser zu finden, doch dann war es das Pferd, dass seinen Weg kannte. Unter dem nicht enden wollenden Schreien der Schwester bog es plötzlich nach rechts ab. Der Wagen schwankte, und seine hölzernen Räder versanken tief im Morast des Feldes, das sie nunmehr geradewegs überquerten. Endlich verstummte Mujie. Durch die wie aus Kübeln fallenden Wasser konnten ihre Augen erst etwas erkennen, als sie bereits am Ziel waren.

Einige andere Wagen standen da – die von benachbarten Familien. Sie selbst standen im Halbkreis versammelt vor den Überresten eines geborstenen und brandgeschwärzten Baumes.

Halem und Mujie Saii sprangen vom Wagen und wateten eilig durch den klebrigen Morast zu den Versammelten. Halem sah die zwei Leiber, die dort in der getränkten Erde lagen, zuerst – halbseitig schwarz verbrannt. Er versperrte seiner Schwester den Weg und barg ihren Kopf an seine Brust – doch die wusste es wohl längst schon ...

„Wir haben versucht, noch rechtzeitig zu kommen!“, sagte eine Stimme neben ihnen. „Aber wer hätte sie aufhalten können!“ Die Augen dessen, der da sprach, suchten nach dem Gespaltenen Berg – aber die vom Himmel herabstürzenden Wasser versperrten ihnen den Weg zu ihm.

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