Kitabı oku: «Siebenreich - Die letzten Scherben», sayfa 6

Yazı tipi:

Sicher war er sich nicht, ob er auf diese Frage überhaupt eine Antwort wollte.

Viel später lag das Essen zu ihren Füßen ausgebreitet. Das Brot wurde langsam trocken, das Kauen dauerte länger als am Mittag. Braten und Käse hatten sie noch reichlich, vom Apfelwein war noch genug übrig. Sie schafften es, ihre Erinnerung an den Sturz zu verdrängen und ihre Mahlzeit zu genießen. Das Abendessen mutete wie ein Picknick an. Von ihrer Höhe aus war der Blick auf den Sonnenuntergang atemberaubend. Die Zinnen der Abendberge zogen sich am Horizont gegen das Licht hin wie die Mauer am Wehrgang einer Ritterburg.

Sie unterhielten sich gedämpft, obwohl sie von ihrem Hochsitz aus jede Annäherung schon von weitem bemerken würden und obwohl Mike behauptete, er könne Böses schon auf achtzig Schritt sehen. Das war eine Entfernung, auf die man sie nicht entdecken konnte. Hier oben fühlten sie sich sicher.

Morgen würden sie Königstein erreichen. Dort würde sich einiges für sie ändern, meinte er. Er fände einen Weg weiter nach Süden, sie würde in der Stadt bleiben, für sie die beste Lösung. Julia behielt ihre Meinung für sich.

Ihre Vorsichtsmaßnahmen bescherten ihnen einen nur kurz währenden ruhigen Schlaf. Sie hatten es sich in den Mulden ihrer Äste bequem gemacht. Julia war angebunden geblieben, Mike hatte auf eine Sicherung verzichtet. Er war diese Form der Übernachtung gewohnt, er wäre nie aus einer Kuhle wie dieser heraus gerollt.

Etwas Hartes bohrte sich in Julias Rücken, als sie sich ein Stück weit auf die Seite rollte. Im Nu saß sie senkrecht, war hellwach. Sie wollte sich umdrehen, wollte den Angreifer erkennen, aber sie wurde festgehalten. Sie schluckte, drehte verzweifelt den Kopf soweit zur Seite, dass sie hinter sich schauen konnte. Da war niemand. Erst langsam verstand sie ihre Situation. Im halbfinsteren Wald musste sich anstrengen, überhaupt etwas zu erkennen.

»Puh!« Erleichtert atmete sie auf. Sie sah niemanden, der sie überfallen wollte, und hatte inzwischen auch die Kastanie ertastet, die bei ihrem Aufprall auf dem Ast aus der Schale gesprungen und unter ihren Rücken gerollt war. Ein neuer Schreck durchfuhr sie, als sie sich ihre Lage wieder ins Gedächtnis rief. Sie schüttelte den Kopf. Nicht mehr, um einen unangenehmen Traum abzuwerfen, sondern vor Verwunderung. Verwunderung darüber, dass sie Dinge und Zustände nur nacheinander zu erkennen schien. Denn erst als sie sich im Klaren darüber war, auf einem Ast in einer Angst einflößenden Höhe über dem Waldboden geschlafen zu haben, und dass der Angreifer, der sie erst aufgescheucht und dann festgehalten hatte, sich als eine Kastanie und ihr Sicherungsgeschirr entpuppt hatte, nahm sie etwas anderes wahr. Etwas, das ihre Furcht nährte und sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten sollte.

Mike hatte Recht gehabt, als seine Warnung ihr die nächtlichen Gefahren des Waldes nahegebracht hatte. Alle Sekunde drehte sie sich um, wollte feststellen, woher das Knurren, Heulen und Bellen kam, das sich zahlreichen heiseren Kehlen entwand. Aber weder konnte sie die Richtung ausmachen, in der die Bestien lauerten, noch konnte sie feststellen, ob das Rudel ihrem Baum näher kam.

Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich von riesigen Wölfen umzingelt, die Schritt für Schritt mit gefletschten Zähnen den Kreis um sie enger zogen. Stocksteif und ohne einen Laut von sich zu geben lag sie für Stunden wach. Bei jedem neuen Geräusch rollte sie die Augen, bis sich endlich der Schlaf ihrer erbarmte. Über dem Blätterdach stieg der Morgennebel schon den ersten schüchternen Sonnenstrahlen entgegen.

8.

Nach dem Aufwachen sah sich Mike als erstes um und horchte in den Wald. Verdächtiges bemerkte er nicht. Es gab auch keine Spuren unter ihrem Schlafbaum.

In der Nacht waren ihre Kleidung und ihre Ausrüstung klamm geworden. Julia war überrascht, als er ihr zeigte, dass die Feuchtigkeit auch Vorteile hatte. Tau war m Stamm hinunter und in den Mulden zusammengelaufen. Es reichte für mehr als einen Becher frisches Wasser zu ihrem Frühstück. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, sammelten sie genügend Wasser für eine Katzenwäsche. Keiner hatte mehr Scham vor dem anderen.

Kaum standen sie wieder auf festem Boden, schlich Julia in gebückter Haltung um den Stamm. Ihren Blick hatte sie auf den Waldboden geheftet und erweiterte ständig den Radius ihrer Kreise. Mike hatte inzwischen ihre Siebensachen vom Baum abgeseilt und auf dem Schlitten verzurrt.

»Hast du etwas verloren, ist dir etwas heruntergefallen?«

»Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, da muss ein Rudel riesiger Wölfe den Baum stundenlang umkreist haben. Das Heulen hat mir sogar oben im Baum Angst gemacht.«

»Also war mein Vorschlag mit dem Schlafplatz da oben doch nicht so verkehrt.«

Er zuckte die Schultern, als wäre das die normalste Sache der Welt. Konnte er sie so beruhigen?

»Mich haben sie auch geweckt, aber weil du so mucksmäuschenstill gelegen hast, dachte ich, du schläfst. Erschöpft genug warst du ja. Es waren übrigens sieben, und sie sind ein bisschen größer als die, die du aus dem Zoo kennst, ungefähr um so viel mehr.«

Er hob die Hände, sie fuhren auseinander. Julia schluckte trocken, als sie mit mehr als einer Elle Abstand voneinander in der Luft verharrten.

»Im Übrigen …« Er nahm ihre Hand, führte sie zu einem anderen Baum und zeigte dort auf den Boden. »…haben sie ihre Runden um genau den Baum gedreht, an den ich gestern Abend, naja, du weißt schon.«

Nun konnte auch Julia die Spuren nicht mehr übersehen. Der Boden um den Baum war von Laub freigescharrt, die Erde aufgewühlt, und am Stamm entdeckte sie Kratzspuren bis über ihre Augenhöhe.

»Aber komm wieder zu dir, tagsüber verkriechen sie sich im Unterholz. Ich verspreche dir, dass wir keine mehr zu Gesicht bekommen, bis wir wieder auf einem Baum oder in einer Herberge unser Lager aufschlagen.«

Nervös blickte sich Julia um. Dass sie nicht einen einzigen Wolf entdeckte, nahm ihr nicht die Angst. Sie drückte sich an ihren Gefährten.

»Und bei Tageslicht tun sie uns wirklich nichts? Und wenn doch?«

»Dann helfe ich dir auf den nächsten Baum, und mit sieben Wölfen sollte ich wohl fertig werden«, kam die selbstbewusst klingende Antwort. Mike lachte sie an.

Julia schielte zu seinen Schwertern. Sie wusste, dass er damit umgehen konnte. Trotzdem fand sie, er hätte den Mund ziemlich voll genommen. Ihre Stirn blieb in Sorgenfalten. Nicht zuletzt, weil sie gerade aus dem schützenden Waldrand hervortraten und sie sah, dass sich auf Meilen vor ihnen hügeliges Gelände hinzog. Für den Bewuchs fand sie die Beschreibung »dürftig« am ehesten zutreffend. Alle paar Schritte bemühten sich kniehohe Sträucher und Gräser, die gleichhohen Steine zu überragen. Wo waren die rettenden Bäume, auf denen er ihr für den Fall der Fälle Rettung versprochen hatte? Sie sah sich ängstlich ein letztes Mal zum Waldrand um. Ihr Schlafbaum schien ihr mit seinen höchsten Ästen zum Abschied zuzuwinken. Sie riss ihren Blick von ihm los und beschleunigte ihren Schritt, bis sie zu Mike aufgeschlossen hatte. Sie drängte ihn, schneller zu gehen.

Ihr Weg führte durch eine Landschaft mit buckligen Erhebungen. Sie waren in niedrigere Gefilde gekommen. Die Vegetation wurde üppiger. Vor Freude über das ständige Gezwitscher einiger Singvögel sah sich Julia intensiv um, entdeckte aber nur einzelne in den Baumkronen und Büschen. Den Grund für das rege Leben konnte sie fast körperlich spüren. Wasser war in der Nähe.

»Der Lafer«, erklärte ihr Mike. »Wir müssten eine viertel Wegstunde weg sein. Der Fluss macht hier eine Biegung ins Land hinein, bevor er nach einem letzten Kontakt mit den Abendbergen dann einige Meilen nördlich von Königstein wieder nach Süden driftet. Die Abendberge hören dort auf. Bald kommen wir in bewohnte Gegenden. Bauernhöfe, Gasthöfe, Wehrdörfer. Jedenfalls ergibt sich für dich eine Gelegenheit, deine ungeeigneten Sandalen loszuwerden. Jedes Dorf unterhält einen Schuster oder Sattler. Beide können mit Leder umgehen und bringen für dich Schuhe zustande. Vielleicht haben sie sogar passende auf Vorrat. Oder wir finden einen Händler mit dem feineren und gleichzeitig robusten Schuhwerk aus dem Süden.«

»Das wäre eine Wohltat!« Julia humpelte schon seit Längerem, ihr Tritt war wacklig geworden. »Mit der gebrochenen Schnalle und dem losen Riemen halte ich uns ohnehin nur auf.«

Barfuß zu laufen wäre bei dem harten, mit Disteln durchsetzten Steppengras keine gute Alternative gewesen.

9.

Ihr Lager hatten die drei gut gewählt. Es lag auf dem höchsten Punkt des Weges und bot ihnen freien Blick in alle Richtungen. In der Senke hinter der Wegeböschung schützte es sie wiederum vor einer möglichen Entdeckung. Gerade hatten die beiden Älteren den Jüngeren als Beobachter eingeteilt. Seinen Posten hatte er noch nicht ganz bezogen, als er schon zurückgerannt kam und die Annäherung zweier Wanderer meldete. Nur ein Mann und eine Frau. Leichte Beute. Die drei machten sich fertig für ihr Gewerk. Viel gehörte nicht dazu. Die Messer in den Gürtel und die Stricke zum Fesseln in die Taschen. Fertig. In der Vorfreude auf die Früchte ihres Überfalls rieben sie sich die Hände. Sie verließen ihr Räuberlager und marschierten den Wanderern entgegen.

»Seid gegrüßt«, eröffneten sie das Gespräch, in dem sie die Ankömmlinge auszuhorchen gedachten. Dann wüssten sie, wie ihre Opfer am leichtesten zu überwältigen waren und wo sie ihre Beute zu suchen hatten. Beim Anblick des Tornisters auf dem Schlitten war der letzte Punkt ohnehin klar.

»Bauern und Handwerker aus Lohfelden sind wir, zwei Wegstunden von hier. Wenn ihr es kennt, dann wisst ihr vielleicht, dass der Name sich auf die Feuersbrunst bezieht, die das alte Dorf vor ein paar Jahren eingeäschert hat. Wir sind Nachbarn, auf dem Weg nach Norden, um seine Verwandten zu besuchen.« Er zeigte auf den Jüngsten, der daraufhin ein dümmlich anmutendes Grinsen aufsetzte. »Heilkräuter wollen wir ihnen bringen, die dort nicht wachsen.«

Er unterbrach sich. Mit der Fußspitze scharrte er auf dem Boden. Mit seinem gesenkten Haupt schien er die Verlegenheit in Person.

»Habt ihr vielleicht etwas zu essen für uns? Wir haben unsere Wegzehrung unterwegs ein paar Bettlern gegeben, die nach Süden gezogen sind.«

Ihre Namen nannten sie nicht.

Mike und Julia sahen sich an, sie nickte ihm zu. Eine Marschpause konnte sie mit ihrem kaputten Schuhwerk gut gebrauchen, und ein zweites Frühstück wäre auch nicht verkehrt. Außerdem war sie neugierig, was die drei Wanderer zu erzählen hätten. Über das Leben in diesem Land wollte sie möglichst viel aus erster Hand erfahren.

Mike zuckte mit den Schultern.

»Warum nicht? Meine Gefährtin humpelt schon eine Weile, und ich habe auch nichts gegen eine kurze Rast und eine kleine Stärkung.«

Mit einer im Halbkreis zeigenden Geste lud er sie ein, sich zu setzen. Er holte den restlichen Proviant vom Schlitten und teilte ihn in fünf Portionen. Im nächsten Gasthof würden sie sich wieder versorgen. So gab es für jeden ausreichend zu essen. Satt zu werden, war dennoch etwas anderes.

Im Schneidersitz ließen sie sich auf dem steinigen Boden nieder.

Unauffällig betrachtete Julia ihre Gäste. Sie sahen sich sehr ähnlich. Die beiden Älteren, wohl Mitte vierzig, könnten sogar Brüder sein. Gleich groß, leicht gebeugt. Alle drei hatten dunkelblondes Haar mit rötlichem Schimmer. Der laue Herbst erlaubte ihnen das Aufrollen ihrer Hemdärmel, so dass ihr die kräftige, ebenfalls rötliche Behaarung der Unterarme ins Auge stach. Der Jüngste, so um die zwanzig, war einem der anderen wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem hatte sie beobachtet, dass sie den gleichen Gang hatten und die gleiche Gestik. Sie schüttelte sich. Gänsehaut kroch ihr Rückgrat hinauf. Sie war überzeugt: Bloß Nachbarn waren die drei nie und nimmer! Was aber dann? Ihr Argwohn wurde auch dadurch genährt, dass sie ihre Messer griffbereit trugen, ohne Scheide einfach in die Gürtel gesteckt. Allesamt waren es kleine Kunstwerke. Das eine Heft war aus Hirschhorn und wies geschnitzte Jagdszenen auf, das andere hatte einen schillernden Perlmuttgriff, und das dritte war gar mit Silber belegt. Die Klingen glänzten wie poliert, in alle waren Ornamente eingestanzt.

Die fünf saßen im Kreis, Mike hatte mit den Bauern und Handwerkern ein lebhaftes Gespräch begonnen.

»Ihr seid auf dem Weg nach Königstein, nicht wahr? Unbedingt müsst ihr dort einen Boten beauftragen, euren Familien die Nachricht von eurem gesunden Eintreffen zu übermitteln. Ihr habt doch Familie, oder? Die werden sich Sorgen machen. So lange Reisen wie eure, und dann noch zu Fuß, sind heutzutage nicht ungefährlich.«

Eine Frage nach der anderen stellten die drei, besonders interessierten sie sich für den Tornister.

»Solch ein Gepäckstück haben wir noch nie gesehen. Wozu sind die Riemen und Schnallen?«

»Ein Tornister, ein Rucksack. Normalerweise trage ich ihn auf dem Rücken, dafür die Riemen. Ich habe ihn von einem Schuster fertigen lassen, hab’ ihm gesagt, wie er es machen muss. Er ist aus einem Stück Leder geschnitten, die Kanten doppelt genäht. Mit Seide, einem teuren, sehr festen Faden. Und über die Kanten noch ein Lederstreifen, der macht sie wasserdicht.«

»Und was hast du eingepackt? So ein teurer Beutel muss doch kleine Reichtümer enthalten!«

»Tja, das wäre schön, aber leider sind´s nur Kleidung, Decken und Dinge, die man unterwegs so braucht.«

Die drei Rothaarigen tauschten vielsagende Blicke aus. Sie glaubten ihm kein Wort.

Unruhig rutschte Julia hin und her. Mal mit der linken, dann wieder mit der rechten Hand stützte sie sich auf dem Boden auf. Die drei fragten sie richtiggehend aus, und Mike schien nichts zu argwöhnen. Auch auf ihre schüchternen Zeichen reagierte er nicht. Er hatte den Rest Apfelwein getrunken, da ihn sonst keiner wollte, und wurde immer redseliger. Bereitwillig gab er Auskunft.

»Wir kommen aus dem Norden, aus einem kleinen Nest.« Er nannte einen Ortsnamen, von dem Julia nur »Dorf« verstand. »Dort vermisst uns gewiss niemand. In Königstein wollen wir das Eisen dort unter der Decke verkaufen.« Er zeigte auf seinen Schlitten. »In den letzten Dörfern gab es keinen Schmied und auch sonst keinen ordentlichen Käufer. Und die Ladung bringt in der Hauptstadt bestimmt einen besseren Preis ein.« Wie in Erwartung eines vorzüglichen Geschäfts rieb er sich nun die Hände. »Gute Waffen, gute Rüstungen.«

Das Gesicht eines der Älteren erhellte sich. Er hatte einen Gedanken, wie er seinem Opfer weitere Informationen über seinen Besitz entlocken konnte Um ihn zum Weiterreden zu animieren, erzählte er im Gegenzug selbst eine Geschichte über einen einträglichen Fund. Obwohl ihm die beiden anderen erschrocken finstere Blicke zuwarfen und ihm durch Gestern zu verstehen gaben, er solle den Mund halten, redete er weiter.

Mike tat, als habe er die Warnungen nicht bemerkt, und konzentrierte sich mit sichtbarer Anstrengung auf den Bericht.

»Auf halbem Weg hierher hat uns ein Räuber überfallen. Und das, wo wir selbst nichts haben! Ha, aber wir haben den Spieß umgedreht! Ich stellte ihm ein Bein, als er mit dem Schwert auf uns einschlagen wollte. So haben wir unser Leben behalten. Wir haben ihn überwältigt und als Entschädigung für unseren Schrecken seine Sachen geplündert. Dabei ist uns ein Spiegel in die Hände gefallen, so groß.« Sein rechter Zeigefinger fuhr im Kreis um den Handteller seiner Linken. »Mit sechzehn Ecken. Das Glas ist uralt und fleckig. Wir haben ihn aus seinem Tuch gewickelt, und er hat zu glühen angefangen. Genauer gesagt rot zu leuchten, denn er ist kalt geblieben. Vor Schreck haben wir ihn fallen gelassen. Obwohl er auf einen Stein geprallt ist, blieb er unversehrt.«

Mike wurde hellhörig.

»Ein Glas, das leuchtet und das nicht zerbricht, wenn ihr es fallen lasst? Das muss etwas Besonderes sein. Wisst ihr, wo es herkommt? Habt ihr den Räuber gefragt?«

»Natürlich, aber der Kerl hat uns sicherlich angelogen. Einem toten Wanderer habe er es abgenommen, den er am Wegrand gefunden hätte. Sicherlich hat er selbst den armen Wicht erschlagen! Diesen Schatz wollen wir nun verkaufen, wenn wir dann im Norden sind.« Er machte eine übertrieben lange Pause und strahlte Mike an. »Da kann ich mir gut vorstellen, dass ihr ihn vielleicht haben wollt. Ein Kleinod für eure hübsche Frau. Zwar seid ihr nicht so fein gekleidet wie die edlen Bürger aus der Stadt, aber auch eure Kleidung sieht nicht billig aus. Und wer solch wertvolle Waffen trägt …«

Er rutschte näher an Mike heran, streckte ihm die Hand hin.

»Zeigt mal euren Beutel, vielleicht reicht euer Geld ja für den Handel.«

Verwundert beobachtete Julia, dass ihr Gefährte neugierig wurde. Ein Kleinod für seine hübsche Frau? Welchen Grund hätte er, ihr ein Geschenk zu machen? Schließlich wollte er sie ja loswerden, sobald sie Königstein erreicht hätten. Woher kam aber dann sein offensichtliches Interesse an dem Spiegel? Hatte er etwas mit seiner Vergangenheit zu tun, die er ihr zu verheimlichen trachtete?

Mike sah dem Alten ins Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Das muss ich mir noch überlegen. Zeigt mir erst den Spiegel!«

»Einen solchen Schatz tragen wir natürlich nicht mit uns rum. Wir haben ihn an einem sicheren Ort vergraben.«

»Und warum gebt ihr dann vor, mit mir darüber Handel treiben zu wollen? Wir werden doch nicht stundenlang mit euch wandern und dann feststellen, dass er uns vielleicht nicht gefällt. Euer Ansinnen kommt mir doch recht seltsam vor.«

Dem Jüngeren dämmerte, dass der Fremde wohl Lunte roch. Dem Gespräch wollte er eine Wendung geben, um doch noch herauszubekommen, wo er seine Barschaft versteckt hielt.

»Auf eurer Wanderschaft braucht ihr doch sicherlich allerlei nützliche Dinge. Schnüre und Seile etwa, wenn ihr etwas festzubinden habt oder ein Hindernis überwinden wollt. Oder falls ihr in eine dieser Höhlen stürzt, wenn ihr einmal den Weg verlassen solltet.«

Mike hakte nach.

»Wie kommt ihr auf solche Gedanken?«

»Ich bin Seilmacher«, gab der Rotschopf zur Antwort. »Vielleicht wollt ihr mir ja welche abkaufen. Und das könnt ihr ja erst, wenn ihr überhaupt wisst, dass ich welche feilbiete.«

Nun wollte Mike alles über seine Seile wissen.

Julia folgte dem Gespräch mit zunehmendem Interesse. Die Lethargie war von Mike abgefallen. Seine vorher weinselig klingende Stimme war schon bei der Unterhaltung über den seltsamen Spiegel wieder klar geworden. Und nun war er es plötzlich, der die Fragen stellte. Noch rätselhafter war ihr, dass dies außer ihr niemandem aufzufallen schien.

Der Seilmacher lächelte gezwungen und musste nun wegen seines Angebots, auch wenn er es nur zögerlich tat, Auskunft erteilen. Plötzlich richtete er sich auf, seine Augen leuchteten. Er habe ein paar Beispiele seiner Handwerkskunst dabei, erklärte er mit übertrieben vorgetragenem Stolz und bemühte ein paar Stricke aus den Taschen seiner Beinkleider. Der Junge und einer der Älteren nahmen jeder einen in die Hand, standen auf und traten rechts und links neben Mike. Aus der Nähe könne er sie besser begutachten.

Julia zitterte. Sie wollte Mike eine Warnung zurufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie war schweißgebadet. Ihr Gehirn arbeitete mit rasender Geschwindigkeit, alles vernahm sie wie in Zeitlupe. Einzelheiten drängten sich ihr auf, auf die sie sonst nie geachtet hätte. Unwillkürlich schloss sie vor der aufkommenden Gefahr die Augen. In ihrer Vorahnung sah sie den Älteren hinter ihrem Gefährten stehen. Sie sah ihn Mike den Strick um den Hals legen und mit einer schadenfrohen Grimasse die Schlinge zuziehen. Als Julia erschrocken die Augen aufriss, stand der Alte immer noch neben Mike, hatte beide Seilenden einfach in seinen Fäusten liegen. Er hatte sie nicht einmal um seine Hände gewickelt, um die Kraft fester auf das Seil übertragen zu können. Außerdem war es zu kurz, hätte nie um Mikes Hals gepasst, so konnte der Räuber ihn gar nicht erdrosseln. Sie kniff die Augen zu, schwenkte den Kopf ein paar Mal schnell hin und her, um ihre Verwirrung abschütteln.

Ihre Furcht und Verwirrung kippten in blankes Entsetzen um, als der andere Alte aufstand und mit boshaftem Grinsen sein Messer zog. Breitbeinig baute er sich vor Mike auf, wobei er sie aus dem Augenwinkel im Blick behielt. Dessen war sich Julia sicher.

Mike hatte während des Essens den Anschein eines redseligen Trinkers gegeben. Im Gegensatz dazu schien er nun hellwach. Wie ein Breakdancer ließ er sich in eine fast liegende Körperhaltung fallen und stützte sich nur auf der linken Ferse und der linken Hand auf. Blitzschnell drehte er seinen Körper im Kreis und schlug mit dem ausgestreckten rechten Bein dem Alten mit dem Seil beide Füße unter dem Körper weg. Der prallte der Länge nach mit seiner Flanke auf den Boden. Sein Ellbogen krachte auf den harten Untergrund. Julia hörte ein Knacken, unwillkürlich stellte sie sich vor, wie kleine Knochensplitter sich ins Fleisch drückten. Der Alte schrie auf vor Schreck und vor Schmerz. Er war außer Gefecht gesetzt.

Mike sprang auf, sah dem Kerl mit dem Messer direkt in die Augen und fixierte dessen Blick. Abrupt drehte er sich um und zog gleichzeitig das rechte Bein an. Als er mit dem Rücken zu dem Galgenvogel stand, streckte er sich ruckartig und trat ihm so kräftig gegen sein Standbein, dass er ihm die Kniescheibe brach. Der Verletzte schrie auf und ließ sich auf den Rücken fallen. Er rollte sich hin und her und hielt das Knie zwischen beiden Händen.

Zwischenzeitlich hatte Mike seine Schwerter gezogen und sich umgesehen. Der Seiler war als einziger noch auf den Beinen. Beim Gegenangriff auf seine Kumpane hatte er Fersengeld geben wollen, hatte sich aber im Riemen des Schlittens verfangen. Nun lag er der Länge nach im Gebüsch. Mike steckte die Waffen zurück und hob die Stricke auf. Er war stärker als der Spitzbube und zog ihn aus dem Gestrüpp zum Lagerplatz. Dort drückte er ihn zu Boden und band ihm die die Hände auf den Rücken, dann die Beine an den Knien und an den Knöcheln aneinander. Die jammernden Verletzten ließ er ungefesselt liegen, wo sie waren. Nachdem er ihnen die Messer abgenommen hatte, waren sie nicht mehr gefährlich.

Mikes Verhör des vorgeblichen Seilers war intensiv. Er befragte ihn nicht nur nach seiner Herkunft und der seiner Kumpane. Es bestätigte sich, was Julia vermutet hatte: Die drei waren Sohn, Vater und Onkel, aber nicht von hier. Er wollte mehr wissen über die Gegend, über Ortschaften und ihre Bewohner. Waren Orks gesichtet worden, gab es außer dem Jungen und seinen Verwandten weitere Wegelagerer? In welchen Dörfern hielten sich Räuberbanden auf, welche waren frei davon? Welche Händler und Wirte in Königstein und auf dem Weg dorthin waren ehrlich, welche Schlitzohren? Sobald der Mann schwieg oder offensichtlich die Unwahrheit sagte, griff er ihm an die Gurgel und schüttelte ihn. Drei- oder viermal war das nötig, dann erzählte der Gepeinigte von sich aus, als wisse er die Fragen im Voraus. Seine Spießgesellen mischten sich nicht ein. Sie waren mit ihrem Schmerz beschäftigt und froh, momentan unbeachtet zu sein.

Besonders schien Mike die Geschichte mit dem Spiegel zu interessieren.

»Erzähl noch mal, wie euch dieser Räuber überfallen hat. Wo genau war das? Wie sah der Kerl aus, war an ihm etwas Besonderes?« Vor Überraschung stieß er einen Pfiff aus, als der Seiler von einem Mal am Handgelenk berichtete. »Ein Drachenkopf?«

»So sah es aus.«

»Erzähl mir mehr! Woher war der Strauchdieb? Hat er davon gesprochen, was er vorhatte, wo er hinwollte?«

Er drängte mehrmals, gab aber auf, als der Gauner immer neue Versionen auftischte und sich in Widersprüche verwickelte. Stattdessen fragte er letztendlich das Räubertrio nach seinem Lagerplatz. Die hastig hervorgestoßene Antwort erhielt er von dem Alten mit dem verletzten Ellbogen, kaum als er sich vor ihn hinhockte und mit geöffneter Hand in Richtung seines Armgelenks griff.

Mike stand auf, trat an die Wegelagerer heran und tastete jeden gründlich ab. Dabei nahm er Rücksicht auf ihre Verwundungen. Da er vorhin schon ihre Messer eingesammelt hatte, ließ er ihnen alles, was sie in ihren Taschen mit sich trugen, mit Ausnahme eines weiteren Messers mit kurzer Klinge. Einer der drei hatte es unsichtbar in einer Scheide unter seinem Hosenbein getragen.

Mike prüfte vor ihrem Aufbruch die Fesseln des Seilers nochmals und flocht die losen Enden in die Büsche. Ein einfaches Wegziehen war nicht möglich. Die Verletzten hatte er so gelagert und lose gebunden, dass sie keine weiteren Schmerzen erlitten.

Während Julia einfach froh war, den Überfall nur mit einem Schrecken überstanden zu haben, schien er Mike nicht zu belasten. Kaum, dass sie außer Hörweite waren, resümierte er in lockerem Ton.

»Einen halben Tag werden sie sicherlich brauchen, um sich loszumachen und unseren Rastplatz zu verlassen. Das können sie nur gemeinsam vollbringen, was schwerfallen dürfte. Sie sind ja noch in unserem Beisein in Streit geraten und werfen sich nun gegenseitig die Schuld am Missraten des Überfalls vor.«

10.

Sie erreichten den höchsten Punkt des Weges. Mike bog in die Steppe ab und zog den Schlitten die Böschung hinauf. Auf ihrer Rückseite fand er, wie von dem Räuber beschrieben, die Senke mit dem Lagerplatz. Unter einem Gebüsch am Rand entdeckte er einige anscheinend hastig versteckte Stoff- und Lederbeutel und zusammengerollte Decken. Er zog alles hervor. Größere Bündel wurden anscheinend auf dem Rücken getragen, die kleineren eher an den Gürtel gehängt.

Er durchsuchte sie gründlich. In zwei apfelgroßen Ledersäckchen fand er eine Handvoll Kupfermünzen und ein paar Silbertaler. Der Rest war Kram, den man nun mal so brauchte. Auch Proviant fand er. Das Brot war jedoch hart, das Fleisch nicht mehr frisch und das Wasser abgestanden. Er legte die Ledersäckchen mit dem Geld auf einen flachen Stein am Eingang zur Senke, alles andere steckte er wieder in die großen Beutel zurück.

Endlich förderte er ein flaches Päckchen zutage. Als er den Stoff für einen Moment zurückschlug, so vorsichtig, als erwarte er, dass ihn etwas anspringe, sah Julia auf seinem Gesicht den schwachen Widerschein eines rötlichen Lichts. Zufrieden stopfte er seine Beute in eine Seitentasche des Tornisters. Ihrer Frage begegnete er mit einem resoluten Kopfschütteln.

Auf dem steinigen Boden häufte er kleine verdorrte Sträucher an, die sich leicht aus dem Boden hatten ziehen lassen. Darauf stapelte er die Beutel und schob er dürre Zweige und trockenes Gras dazwischen. Das Ganze deckte er auch damit zu. Nun brachte er aus einer Westentasche ein Feuerzeug zum Vorschein. Ein schlankes Glasröhrchen, zum Schutz eingebettet in eine dünne Kupferhülse. Als er den Stopfen abzog, schlug eine grüne Flamme, heraus.

Julia riss die Augen auf.

»Ist das Magie?«

»Diesmal nicht. Nur normale Chemie. Wenn der Inhalt des Röhrchens mit dem Luftsauerstoff in Berührung kommt, entzündet er sich. Das kennst du vielleicht noch vom Chemieunterricht, wenn euer Chemielehrer eine kleine Menge Phosphor aus seinem Behälter geholt und auf dem gefliesten Labortisch aufgehäuft hat.«

Sie nickte.

Mike hielt die grüne Flamme weit unten an das dürre Material und verkorkte das Fläschchen, sobald die ersten Flammen an dem Stapel züngelten. Als er es wieder in seiner Tasche verstaut und den Knebel geschlossen hatte, leckte das Feuer bereits an zwei Seiten. Ohne zu beobachten, wie weit sich die Flammen ins Gepäck fraßen, machte er kehrt und zog seinen Schlitten aus der Senke wieder auf den Weg.

Julia sah ihn entgeistert an. Ihr Gesichtsausdruck war ein einziger Schrei der Entrüstung.

»Was soll das?«

»Das ist die Strafe für den Überfall«, rechtfertigte er sich, »außerdem erfährt so keiner, dass ich etwas mitgenommen habe.« Gerade steckte er auch die Ledersäckchen mit den Münzen ein. Er zuckte die Schultern.

Ihre Augen blitzten zornig.

»Was hast du? Das ist meine Beute, von so etwas lebe ich.«

»Und ich?« Sie biss sich auf die Lippe, es war ihr herausgerutscht. Das hatte sie gewiss nicht sagen wollen. Worüber hatte sie sich eigentlich so aufgeregt? Wegen der Säckchen bestimmt nicht. Weil er Sachen verbrannt hatte, die vielleicht noch zu gebrauchen waren? Wegen der Räuber? Sie hätte es selbst nicht mehr sagen können.

»Ach so! Hier, fang!« Er holte aus und warf ihr einen der Beutel zu.

Instinktiv war Julia in ihrem Ärger einen Schritt zurückgewichen. Es wäre ihr aber töricht vorgekommen, das Säckchen fallenzulassen. Außerdem wollte sie ihm keineswegs den Triumph gönnen, sie für ungeschickt zu halten. Also beugte sie sie vor und streckte beide Hände aus. Den Beutel erhaschte sie gerade noch, geriet aber ins Straucheln. Ihren Sturz verhinderte sie mit Müh und Not durch einen Ausfallschritt.

Er bemerkte es nicht. Er hatte sich schon umgedreht und folgte dem Weg ins Tal. Sie hatte das Säckchen geöffnet und ließ die Münzen durch die Finger gleiten. Reichlich Kupfer, ein wenig Silber. Sie zog die Schnur wieder fest und folgte ihm. Sie musste eine kurze Strecke rennen, um ihn einzuholen. Dass er die Galgenvögel hatte laufen lassen und sich mit einer Handvoll Münzen und einem handtellergroßen Spiegel zufriedengab, widerstrebte ihr. Sie wusste aber, er sah sich im Recht. Ihre Vorwürfe würden an ihm abperlen.

»Wie viel ist das?« fragte sie stattdessen.

»Gut zwei Wochen Gasthof mit drei Mahlzeiten täglich und abends einem Schoppen Apfelwein. In der Stadt. Auf dem Land langt es ungefähr doppelt so lange. Für einen Kleinwagen reicht es nicht gerade.«

₺148,95

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
602 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783752909401
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre