Kitabı oku: «Weltdistanz und Menschennähe»
Michael Lohausen
Weltdistanz und Menschennähe
Katholische Seelsorger zwischen Ausbildung und Praxisalltag in der Mitte des 19. Jahrhunderts
Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock
Michael Lohausen
Weltdistanz und Menschennähe
Katholische Seelsorger
zwischen Ausbildung und Praxisalltag
in der Mitte des 19. Jahrhunderts
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2018
© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-04367-4
978-3-429-04925-6 (PDF)
978-3-429-06345-0 (ePub)
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1 Die geschichtliche Rückfrage als Bestandteil der Pastoraltheologie
1.1 Geschichte der Pastoraltheologie institutionalistisch gelesen: Franz Dorfmanns Auftakt
1.1.1 Die Aufklärungs-Debatte: Quellen oder Dogmen als Autorität für die Geschichtswissenschaft?
1.1.2 Gegen die ‚treuen Anhänger des neuen Systems‘: Franz Dorfmann als Aufklärungskritiker
1.1.3 Die Lösung des ‚josephinischen‘ Kernproblems und die Auffächerung des Fachs bis an die Wende zum 20. Jahrhundert
1.2 „Neuer Wein in alte Schläuche“: Franz Xaver Arnolds ideengeschichtliche Alternative
1.2.1 Die Konsequenz des Prinzipgedankens: Das strikt hierarchische Verhältnis zwischen Dogmatik und Pastoraltheologie
1.2.2 Spannungsvolle Grundlegung: Das ‚Prinzip des Gott-Menschlichen‘ und die ‚Lehre von den Wirkformen‘
1.2.3 Anthropo- und theozentrische Tendenzen in der Fachentwicklung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts
1.3 Kritik und Entschärfung: Interpretationsansätze nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
1.3.1 Gemeinschaftlich und gegenwartstauglich: Heinz Schusters endgültiges Aufbrechen der Klerikerzentrierung
1.3.2 Eine zentrale Weiterentwicklung: Norbert Mettes Kritik an der Praxisvergessenheit der Pastoraltheologie
1.3.3 Konziliare Orientierung nach vorn: Walter Fürst als Repräsentant der Historisierung der Fachgeschichte
1.3.4 Alternative des Symphonischen: Jörg Seips methodisches Absehen von Diachronie und Entwicklungsidee
Ergebnissicherung
2 Kirche im Zwiespalt von Modernisierung und Abschottung: Strukturelemente des Katholizismus im 19. Jahrhundert
2.1 Die Voraussetzung: Die kirchliche ‚tabula rasa‘-Situation als Folge der Säkularisation
2.1.1 Herrschaftssäkularisation: Die Herausgabe der Territorien als ‚fällige‘ Maßnahme
2.1.2 Vermögenssäkularisation: Die Herausgabe von Geld und Sachwerten als Beschädigung des Soziallebens
2.1.3 Kulturelle Ausdünnung: Die Klosterschließungen als fundamentaler Bildungsentzug
2.1.4 Ausschaltung des Episkopats: Das Papsttum als Verhandlungspartner der Staaten
2.1.5 Die Entledigung von Denkgewohnheiten als verdeckte Seite der Entmachtung der Kirche
2.2 Rainer M. Buchers These von der ‚Installation der Dauer‘
2.2.1 Das Verschwinden des Feudalsystems und das kirchliche Problem der Freiheit des Individuums
2.2.2 Das Lösungsmodell: ‚Stillstellung‘ als Strategie, die mit der Moderne gegen sie operiert
2.2.3 Gesellschaftliche Parallelentwicklungen: Ergänzung anhand des Epochenbilds von Franz J. Bauer
2.3 Michael N. Ebertz‘ Analyse der Bürokratisierung der Kirche
2.3.1 „Rom ist in der kleinsten Hütte“: Das Papsttum als konzentrierteste Version des Katholischen
2.3.2 Pluralität und Uniformierung: Die Passung zwischen einem Papsttum ‚von unten‘ und ‚von oben‘
2.3.3 Durchlaufstationen des Heils: Michael N. Ebertz‘ Interpretation der Etablierung bürokratischer Kirchenstrukturen
Ergebnissicherung
3 Kleriker in der Spannung von Weltdistanz und Menschennähe: Einblicknahmen in den Seelsorgealltag
3.1 Zentrierung und Disziplinierung: Karl August Graf von Reisachs Konzept der Klerusausbildung
3.1.1 Das ‚tridentinische Seminar‘ als Bollwerk gegen Vernunftreligion und schwache Frömmigkeit
3.1.2 Das Modell Eichstätt als zeittypisches Phänomen und Innovationsmotor: Eine Seminaridee macht Schule
3.2 Programm und Erwartung: Der Erfolg des Ultramontanismus bei der breiten Bevölkerung
3.2.1 Notwendige Relativierungen an einem nur statischen Bild vom ‚katholischen Milieu‘
3.2.2 Die Leute und ihr ‚Eigensinn‘: Die Amalgamierung von Kirchlichkeit und Landkultur
3.3 Weltdistanz und Menschennähe: Klerikerexistenz im ländlichen Raum
3.3.1 Sakramente als Marker religiöser und sozialer Zugehörigkeit
3.3.2 Das Pfarrhaus als Ort von Eingliederung und Abgrenzung
3.3.3 Kleriker als kirchliche Rollenträger und Teilnehmer am Sozialleben
3.4 Restriktion und Entfaltung: ‚Unerlaubte‘ und erlaubte‘ Klerikerbiographien
3.4.1 Die Strafverfolgung von Pfarrern als kirchenpolitisches Steuerungsinstrument
3.4.2 Ökonomiepfarrer als Wegbereiter der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung
Ergebnissicherung
4 Epilog: Für die Arbeit an einem positiveren Verhältnis zur Fachgeschichte
Literaturverzeichnis
Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/17 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Sie ist das Produkt einer zweiten Chance, nachdem das Thema Promotion eigentlich längst ad acta gelegt worden war und ich eine Erwerbstätigkeit in einem ganz anderen, sehr lebensnahen Bereich ausübte. Ich habe mir deshalb den Luxus gegönnt, mich mit einer Fragestellung zu beschäftigen, die mich erst einmal von Herzen interessiert hat, und sonst nichts weiter – die Arbeit leistet keine wissenschaftliche Reflexion meiner Berufserfahrung, keine Beteiligung an einer gerade heiß geführten Fachdiskussion und auch kein Weiterdenken beim Ansatz einer einzelnen Persönlichkeit aus der Theologie. Eine besondere Freiheit und Entdeckungsfreude im Forschungsprozess hingen, bilde ich mir ein, mit diesem ‚Kein‘ zusammen. Wenn das Buch andere dazu verleitet, einem in der Pastoraltheologie aktuell nur schwach beanspruchten und trotzdem lehrreichen und zur Selbstvergewisserung als Wissenschaft eigentlich fest dazugehörenden Themenkomplex – der Geschichte des Fachs – mehr Neugier entgegenzubringen, hat es sehr viel ausgelöst.
Ein solches Projekt ist nicht ohne wohlwollendes Miterleben und Hilfe aus vielen Richtungen möglich. Mein Dank geht als erstes und vor allen Dingen an Prof. Dr. Erich Garhammer. Er hat mir im Schaffensprozess nicht nur mit Rat, Tat und vermutlich auch etwas Aufregung als Betreuer zur Seite gestanden, sondern die Arbeit überhaupt möglich gemacht, indem er mich für zwei Jahre als Assistent an den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik nach Würzburg holte. Ein besonderer Dank geht außerdem an Prof. Dr. Johann Pock, Wien, für die Übernahme des Zweitgutachtens, an Prof. Dr. Ute Leimgruber, Regensburg, für hilfreiche Fachgespräche und Unterstützung bei der Druckvorlagenerstellung, an Heribert Handwerk vom Echter Verlag, Würzburg, für viel Geduld und ständige Ansprechbarkeit, an JProf. Dr. Bernhard Spielberg, Freiburg, für wertvolles Networking und an Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Pompeÿ, Gundelfingen, für intensiven Fachaustausch vor meiner Würzburger Assistenzzeit und lebhaftes Interesse am Dissertationsprojekt.
Würzburg, Ostern 2018 | Michael Lohausen |
Einleitung
Die katholische Pastoraltheologie zeigt sich aktuell, was Reflexionshorizont und Methoden angeht, als ein außergewöhnlich plurales und grenzoffenes Gebilde,1 aber wenn sich etwas mit ziemlicher Sicherheit über sie sagen lässt, dann, dass sie sehr viel stärker an Gegenwart und Zukunft als an der Vergangenheit interessiert ist. Obwohl die Geschichtskategorie nicht prinzipiell ausgeklammert wird,2 spricht daraus nicht direkt ein vitales Interesse, sich mit den pastoralen Gegebenheiten heute unter retrospektiven Gesichtspunkten (Herkunft, Entwicklung u. ä.) auseinanderzusetzen. Es äußert sich darin mehr die Überzeugung, dass kirchliches, christliches bzw. allgemein menschliches Handeln, (auch) insoweit es in seinem Verhältnis zu Gott bewusst gemacht wird, keinen aus falsch verstandenen Ewigkeitsvorstellungen abgeleiteten Veränderungsresistenzen unterliegen darf, sondern ‚nach vorn offen‘, also umgangsfrei und -bedürftig ist. ‚Geschichtlichkeit‘ geht deshalb zuallererst mit Begriffen zusammen, denen die Konnotation des Visionären anhaftet; die Gestaltung, die Konzeption, die Orientierung, die Ermöglichung3 – und relativ neu in Matthias Sellmanns pragmatistischer Spielart: die Problemlösung, die Durchsetzung, die Erfolgsmaximierung4 – sind die Vollzugsgrößen der Pastoraltheologie, insofern sie sich im weitesten Sinn einem „Handlungsdruck“5 ausgesetzt sieht, und darauf mit Denkprozessen reagiert, „was jetzt am besten zu geschehen hat“6. Reinhard Feiter hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein solcher Aktualitätsbezug nicht nur epistomologisch, sondern auch geschichtlich zu den Konstitutionsmomenten der pastoraltheologischen Wissensgenerierung und -vermittlung gehört,7 aber die ekklesiologischen Akzentsetzungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gaben erst den Anstoß, damit auf die Breite hin reflex umzugehen und das Fach maßgeblich von dieser Grundlage her aufzuziehen.8
Es wird sich im Lauf der Untersuchung herausstellen, dass es unter den gegebenen Voraussetzungen kein Zufall war, dass die Pastoraltheologie durch die Konzentration auf Gegenwarts- und Zukunftsfragen und eine am Synchronen interessierte Orchestrierung ihrer Reflexionsgehalte (vorhandene Praxis, Ergebnisse aus empirisch arbeitenden Humanwissenschaften, christliches Menschenbild usw.), gewissermaßen ‚nach hinten blind‘ geworden ist. Der Sachverhalt an sich wird allerdings schon dann evident, wenn man nur daran Maß nimmt, wieviel Platz in den Einführungs- bzw. Überblickstexten9 für die Rekonstruktion der Fachgeschichte zur Verfügung steht und um welche Einzelinhalte es sich dabei handelt. Während ein Nachschlagen im Inhaltsverzeichnis reicht, um sich zu vergewissern, dass die geschichtlichen Zusammenhänge oft bloß in kurzen Abschnitten berücksichtigt werden, zeigt ein intensiverer Vergleich der entsprechenden Passagen – und das ist das aussagekräftigere Ergebnis – ein verhältnismäßig schmales und variantenarmes Themenportfolio.10 Die Perspektive der Verfasser wird ausnahmlos immer von denselben Episoden der Fachgeschichte bestimmt, die dadurch als Lehrbuchtradition bzw. diachron laufender Gesprächsprozess zwischen einzelnen Universitätstheologen in Erscheinung tritt, und wenn man von den großen politischen Entwicklungslinien absieht, kommen zeitgeschichtliche Umstände (religiöses Leben, Seelsorgepraxis, Gemeindesituation usw.) gar nicht zur Sprache, obwohl man sich davon eigentlich hätte viel Aufschluss versprechen können.
Paul M. Zulehner hat in seiner 1989/90 publizierten vierbändigen ‚Pastoraltheologie‘ unter der Überschrift „Was die Geschichte lehrt“11 ein Modell entwickelt, das gegenüber allen späteren Ausarbeitungen als so etwas wie die Idealform angesehen werden kann, aber auch selbst zentrale Teile aus sehr viel früheren Darstellungen enthält.12 Die Einteilung der geschichtlichen Abläufe in wenigstens vier Phasen gehört dabei unter formalen Aspekten und die Frage nach dem Verhältnis zwischen Konsolidierung (Stabilisierung) und Innovation (Kritik) inhaltlich zu den wiederkehrenden Elementen, so dass sich als Grundgerüst für das Geschichtsverständnis ergibt:
(a) Konstitutionszeit13 (ca. 1770—1800): Es ist allgemein üblich geworden, den Ausgangspunkt auf ein griffiges Ereignis zu legen – nämlich die Etablierung der Pastoraltheologie als Fach an den österreichischen Universitäten14 – im Bewusstsein des Sachverhalts, dass damit nicht die Reflexion auf die kirchliche Praxis überhaupt erst eingesetzt hat, sondern ‚nur‘ ihr akademischer Prozess. Der aufgeklärte Absolutismus in Österreich (‚Josephinismus‘), die davon bestimmte Bildungspolitik und die durch Franz Stephan Rautenstrauch (1734—1785) in die Wege geleitete Studienreform sind feste Bestandteile an diesem universitären Gründungsmythos. Das Fach hat von da her fundamentale Impulse bekommen (beispielsweise eine wissenschaftstaugliche Systematik).15 Es ist demgegenüber allerdings immer wieder problematisiert worden, dass die Pastoraltheologie dadurch viel zu sehr in die Abhängigkeit von politischen Zielsetzungen gerutscht ist bzw. von Anfang an überhaupt nur als ein Instrument zur Staatskonsolidierung konzipiert worden war, so dass eine „Vermittlung von kirchlicher Glaubenstradition und der biographisch strukturierten Lebenserfahrung des einzelnen“16 nicht stattfinden konnte. Die Interpret_innen dieser Gemengelage haben aber auch eine wichtige Weichenstellung vorgenommen: (Die Rekonstruktion der) Fachgeschichte ist im Wesentlichen Universitätsgeschichte.
(b) Vergewisserungszeit (ca. 1800—1830): Die Veranschlagung der zweiten Phase hängt mit der These zusammen, dass die formalistische bzw. pragmatische Fachorientierung bei den Aufklärungsvertretern gewissermaßen von selbst eine inhaltliche Abstützung nachträglich herausgefordert hätte17 oder dass die krisenhaften Zeitumstände (Säkularisation) eine derartige Ergänzung und Rückversicherung über die theologische Mitte der Pastoraltheologie notwendig gemacht hätten.18 Johann Michael Sailer (1751—1832) ist die zentrale Figur in diesen Überlegungen. Er nimmt eine Stellung zwischen Innovation und Stabilisierung ein. Es fällt dabei das Argument ins Gewicht, dass der starke Bibelbezug bei Sailer die kritisch-prophetische Komponente in der Pastoraltheologie, die einer Instrumentalisierung durch von außen kommende Herrschaftsambitionen bzw. -verlockungen prinzipiell etwas entgegenzusetzen hat, deutlich zum Vorschein bringt.19 Es macht sich für die Geschichtsinterpret_innen aber andererseits auch die Schwierigkeit bemerkbar, dass „[es ihm] [b]ei aller Bibelkenntnis … [nicht gelang], die gesellschaftlich wie theologiegeschichtlich abgestützte Kleruszentrierung der Seelsorgspraxis zu überwinden“20 bzw. dass er genau durch die theologische ‚Aufladung‘ von traditionellen Rollenzuschreibungen einer „Fokussierung der pastoralen Reflexion auf die Pfarrer“21 noch Vorschub leistete.
(c) Wissenschaftszeit (ca. 1830—1930): Es handelt sich dabei um einen außerordentlich heterogenen Abschnitt in der Fachgeschichte, aber man kann einen gemeinsamen Nenner daran festmachen, dass währenddessen die großen Auseinandersetzungen um die Arbeitsform der Pastoraltheologie stattfanden.22 Anton Grafs (1811—1867) aus der Tübinger Schule kommendes Konzept einer, Wissenschaft von der sich selbst in die Zukunft erbauenden Kirche‘ markiert dabei den ersten Meilenstein und nach der Mehrheitsmeinung wegen der darin enthaltenen traditionskritischen Implikate gleichzeitig auch den vorläufigen Höhepunkt in der Theoriebildung.23 Die Erläuterungen zu den sich daran anschließenden Abläufen tragen in der Regel entweder summarisch den Charakter einer Gegenaussage, dass ‚die Kirche‘ bzw. ‚die Pastoraltheologie‘ (als Kollektivsubjekt) die bis zu diesem Zeitpunkt gewonnenen Errungenschaften wieder aufgegeben hätten,24 oder beziehen sich auf ausgewählte ‚Graf-Antipoden‘ – Joseph Mast (1818—1893), Michael Benger (1822—1870), – um die Rücknahmen individuell festzumachen.25 Die Entwicklungen in der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrhundert bekommen dadurch Reklerikalisierung, Entwissenschaftlichung, ‚neuer Pragmatismus‘26 u. ä. als Sammelbezeichnungen aufgedrückt – eine Etikettierung, die sicher nicht aus der Luft gegriffen ist, aber in der Pauschalität doch nur sehr eingeschränkt zu erkennen gibt, welche Herausforderungen für das Fach und die Klerusausbildung im Ganzen mit der dynamisierten, moderner werdenden Gesellschaft verbunden waren (vgl. Kap. 2 und 3).
(d) Reorganisationszeit (ca. 1930—1960): Die relativ kurze Phase im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils rückt vor allen Dingen als Wiederanknüpfung an Grafs Konzeptionsanstöße in den Fokus.27 Die Aufbruchsphänomene am Anfang des 20. Jahrhunderts (Bibel-, Liturgie-, Jugendbewegung) und ein in Wandel geratenes Kirchenverständnis (‚mystischer Leib‘ statt Rechtsgebilde) bildeten demzufolge das Klima, in dem ein pneumatologischer Denkansatz, die Aufsprengung einer blickverengten Amtsträger-Theologie und eine ökumeneinteressierte Wissenschaftsauffassung neu aufgegriffen und transformiert werden konnte – zum Beispiel auf die „Mitverantwortung der Laien“28 hin. Constantin Noppel (1883—1945), Linus Bopp (1887—1971) und Franz Xaver Arnold (1898—1969) treten als Hauptrepräsentanten dieses Umschwungs „[v]on der Technologie zur Theologie“29 in Erscheinung.30 Die Überzeugung, dass das Zweite Vatikanische Konzil eine fundamentale Zäsur im Geschichtsablauf darstellt und so etwas wie das Initialgeschehen der Gegenwart bedeutet, wird nicht nur inhaltlich,31 sondern schon ganz äußerlich sichtbar: Es wird mit diesem Ereignis das nächste Kapitel aufgeschlagen.32 Eine neue Zeitrechnung fängt an.
Ein solches Phasenmodell hat den Vorteil, leicht eingängig zu sein, aber es steht auch in der Gefahr, zum eingefahrenen Raster zu werden und bei anhaltender Perpetuierung den Anschluss an verbreiterte, ausdifferenzierte oder erst dazu kommende Wissensstände zu verpassen. Das ist für die Pastoraltheologie mit Blick auf politik-, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Forschungserrungenschaften besonders virulent, sofern sie Interesse an einer kritikfesten Aufarbeitung der eigenen geschichtlichen Hintergründe hat und es dann auch nicht bei der Frage belassen kann, wie Lehrbuchkonzepte aus der Vergangenheit sozusagen ‚im luftleeren Raum‘ miteinander zusammenhingen, sondern sich ein Bild davon zu machen versucht, in welchen Verbindungen diese Theorien zur pastoralen Situation insgesamt (gesellschaftliche Voraussetzungen, kirchliche Rahmenbedingungen, Lebensverhältnisse des Seelsorgepersonals u. ä.) gestanden haben. Es ist Nachholbedarf vorhanden. Die vorliegende Arbeit geht im Horizont der aufgezeigten Problematik dem Ziel nach, dem Vergessen der Geschichtsdimension und der Musealisierung ihrer Bestände entgegenzuarbeiten und Perspektiven aufzumachen, unter denen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im ‚langen 19. Jahrhundert‘ (Eric Hobsbawm) für ein Fachverständnis in der Gegenwart anschlussfähig gemacht werden kann und nicht in eine Verabschiedung münden muss.
Das erste Kapitel verdeutlicht die Rekonstruktion der Entwicklungen in der Pastoraltheologie selbst als geschichtlichen Zusammenhang und analysiert die zentralen Interpretationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Es findet in diesem Abschnitt gewissermaßen die Rezeption der Rezeption oder eine Geschichtsdarstellung auf zweiter Ebene statt. Ein Akzent liegt dabei auf der Sichtbarmachung der ekklesiologischen Vorannahmen, so dass es möglich wird, die vom kirchlichen Ort der Vertreter bestimmten ‚Färbungen‘ der Interpretationsansätze auseinander zu halten.
Das zweite Kapitel nimmt als Ergänzung zu solchen auf die Lehrbuchtradition festgelegten Herangehensweisen Sondierungen im Umfeld der Pastoraltheologie vor. Rekonstruktionen der Fachgeschichte, die das kirchliche Einbettungsszenario bzw. Settings der Seelsorge nicht berücksichtigen, müssen sich schon insofern Kritik gefallen lassen, als die Pastoraltheologen im 19. Jahrhundert ausnahmslos eine direkte Praxisbezogenheit für ihre Universitätstätigkeit in Anspruch genommen und den Standards einer zeitgemäßen Wissenschaftsform tendenziell übergeordnet haben (so genannte ‚Anleitungslehre‘). Der Blickwinkel wird in diesem Teil unter makrosozialen Aspekten (politische Situation, Strukturentwicklung der Kirche) geweitet.
Das dritte Kapitel konkretisiert die daraus gewonnenen Ergebnisse auf ausgewählte Seelsorgekontexte und existenzprägende Faktoren in Klerikerbiographien auf dem Zenit des Ultramontanismus hin. Die Eingrenzung auf die Phase von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag besonders nah, weil die Geschichtsinterpreten über die in dieser Zeit entstandenen Lehrbücher mit dem Hinweis auf sowohl inhaltliche als auch methodische Fehlentwicklungen am schnellsten hinweggegangen sind. Es geht in dem Abschnitt darum, mit Einblicknahmen in die klerikale Lebenswelt Kontexte deutlich zu machen, worauf die Pastoraltheologie unter den Bedingungen des Ultramontanismus eigentlich in der Praxis ausgerichtet war – nämlich auf Seelsorger in außerordentlich ambivalenten Lebensverhältnissen – und dadurch einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der zeitspezifischen pastoraltheologischen Literatur Material an die Hand zu geben.
Das vierte Kapitel plädiert, nicht als ob damit schon alles gesagt wäre, sondern ganz im Gegenteil, als Werbung für mehr Forschungsengagement in diesem Bereich, für ein verstärktes Wahrnehmen der Verbindungslinien zwischen abstrakt-verallgemeinernder Theoriebildung und konkret-vielgestaltiger Seelsorge- bzw. Kirchenpraxis in fachgeschichtlichen Zusammenhängen. Es ruft mit dem österreichischen Pastoraltheologen Anton Kerschbaumer (1823—1909) einen Fachvertreter ins Gedächtnis, der eine solche Vermittlung von Lehre und Leben auf eigene Art praktiziert hat und von daher ein Beispiel abgibt, dass eine ‚Charakterzeichnung‘ des Fachs in diesem Zeitraum, die darin nur Regelwerksversessenheit und seelsorglichen Uniformierungswillen sehen lassen würde, sehr viel Karikaturenhaftes an sich hätte.
Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse eines Forschungsprozesses im Bewusstsein des eigenen begrenzten Horizonts vor. Sie ist pastoraltheologisch und hat deshalb nicht die Zielsetzung, einen Diskussionsbeitrag zur (Kirchen-)Geschichtswissenschaft zu liefern, sondern umgekehrt: Sie ‚bedient sich‘ bei Analysen und Interpretationen zu historischen Quellen bzw. Entwicklungen, bündelt sie in der Fluchtlinie der verfolgten Fragestellungen und bereitet sie für die Rezeption durch die Pastoraltheologie auf.
1 Vgl., um sich eine Vorstellung über die Komplexität zu machen, die schon etwas länger zurückliegenden, aber als Problemanzeige immer noch aktuellen Wegmarken Herbert Haslinger (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, 2 Bd., Mainz 1999–2000 und in diesem Standardkompendium bes. Ders./Christiane Bundschuh-Schramm/Ottmar Fuchs [u. a.], Ouvertüre: Zu Selbstverständnis und Konzept dieser Praktischen Theologie, in: Bd. 1: Grundlegungen (1999), 19–36; außerdem die Zeitschriftenausgabe Beirat der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologinnen und Pastoraltheologen e. V. (Hg.), Pluralität im eigenen Haus. Selbstverständnisse praktischer Theologie = PthI 20 (2000) 2.
2 Vgl. Haslinger/Bundschuh-Schramm/Fuchs [u. a.], Ouvertüre, 20—22.
3 Vgl. ebd., 22—25.
4 Vgl. Matthias Sellmann, Pastoraltheologie als ‚Angewandte Pastoralforschung‘. Thesen zur Wissenschaftstheorie der Praktischen Theologie, in: PthI 35 (2015) 2, 105—116.
5 Rolf Zerfaß, Praktische Theologie als Handlungswissenschaft, in: Ferdinand Klostermann/ Ders., Praktische Theologie heute, München 1974, 164—177, hier: 167.
6 Ebd.
7 Vgl. Reinhard Feiter, Einführung in die Pastoraltheologie, in: Clauß Peter Sajak (Hg.), Praktische Theologie. Modul 4 (UTB; Bd. 3472), Paderborn 2012, 15—63, bes. 18–21. Der gegenwartsbetonende Aspekt im Wissenschaftsverständnis spiegelt sich prägnant in einem Lehrbuchtitel vom Anfang des 19. Jahrhunderts; vgl. Andre(as) Reichenberger, Pastoral-Anweisung nach den Bedürfnissen unsers Zeitalters, 5 Bd., Wien 1805—1808.
8 Vgl. Haslinger/Bundschuh-Schramm/Fuchs [u. a.], Ouvertüre. Eine entscheidende Ausnahme ist Anton Grafs 1841 publizierter wissenschaftstheoretischer Aufriss. Die später vor allen Dingen bei Karl Rahner wieder aufgegriffenen Überlegungen nehmen unter der Formel ‚Praktische Theologie als Wissenschaft von der Selbsterbauung der Kirche‘ wichtige Elemente der nachkonziliaren Fachbestimmung vorweg, vgl. Anton Graf, Kritische Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der Praktischen Theologie, Tübingen 1841 und die Analysen in Kap. 1.
9 Vgl. Paul M. Zulehner, Pastoraltheologie, 4 Bd., Düsseldorf 1989—1990 und in diesem umfassenden Entwurf Bd. 1: Fundamentalpastoral: Kirche zwischen Auftrag und Erwartung, 40—45; Anton Zottl, Pastorales Handeln als Dienst der Kirche unterwegs, in: Konferenz der Bayerischen Pastoraltheologen (Hg.), Das Handeln der Kirche in der Welt von heute. Ein pastoraltheologischer Grundriss, München 1994, 191–227, bes. 215—222; Stefan Knobloch, Was ist Praktische Theologie? (Praktische Theologie im Dialog; Bd. 11), Freiburg, Schweiz 1995, 63—82; Norbert Greinacher, Der geschichtliche Weg zur Praktischen Theologie, in: Haslinger (Hg.), Handbuch, Bd. 1, 46—52; Martina Blasberg-Kuhnke, Das Theorie-Praxis-Problem als theoriegeschichtlicher Leitfaden, in: Haslinger (Hg.), Handbuch, Bd. 1, 53—59; Martin Lechner, Pastoraltheologie als Wissenschaft, in: Konferenz der Bayerischen Pastoraltheologen (Hg.), Christliches Handeln. Kirche sein in der Welt von heute, Pastoraltheologisches Lehrbuch, München 2004, 233—252, bes. 234—241; Feiter, Einführung; Johannes Först, Wirklichkeitsrezeption als eine Bedingung pastoraler Praxis und Gottesrede, in: Ders./Heinz-Günther Schöttler (Hg.), Einführung in die Theologie der Pastoral. Ein Lehrbuch für Studierende, Lehrer und kirchliche Mitarbeiter (Lehr- und Studienbücher zur Theologie; Bd. 7), Berlin 2012, 67—79, bes. 70—73; Herbert Haslinger, Pastoraltheologie (UTB; Bd. 8519), Paderborn 2015, 451—454.515—519; August Laumer, Pastoraltheologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen, Regensburg 2015, 16—92.
10 Das behält auch mit Blick auf das ausführliche Kapitel bei August Laumer und die Themenaufbereitung bei Norbert Hark seine Gültigkeit. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Kompilationen aus anderen Geschichtsrekonstruktionen und Anreicherungen aus den entsprechenden Originalquellen; vgl. Laumer, Pastoraltheologie und Norbert Hark, Auf das Wort hören und danach handeln. Hermeneutische Maßstäbe für eine exegetisch verantwortete Pastoraltheologie (Glaubenskommunikation, Reihe zeitzeichen; Bd. 32), Ostfildern 2013, 41—63.115—117. Sachlich weiterführende, aber nirgendwo sichtbar rezipierte chronologische Übersichten liegen unter caritaswissenschaftlicher Perspektive bei Markus Lehner, Caritas – Die soziale Arbeit der Kirche. Eine Theoriegeschichte, Freiburg i. Br. 1997, bes. 24—64 und missionstheologisch grundiert bei Franz Weber, Mission – Gegenstand der praktischen Theologie? Die Missionstätigkeit der Kirche in den pastoraltheologischen Lehrbüchern von der Aufklärung bis zum Zweiten Vatikanum (Bamberger theologische Studien; Bd. 9), Frankfurt-Berlin-Bern [u. a.] 1999 vor. Sehr wertvolle Stichbohrungen in zum Teil überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommene Bereiche der Fachgeschichte – beispielsweise Analysen zu Themensetzung und Sprache bei Juan Bernardo Díaz de Luco (1495 — 1556) im Kontext der Hirtenspiegeltradition – sind inzwischen bei Michael Hoelzl, Theorie vom guten Hirten. Eine kurze Geschichte pastoralen Herrschaftswissens (Theologie. Forschung und Wissenschaft; Bd. 59), Wien-Zürich 2017 vorhanden.
11 Paul M. Zulehner, Pastoraltheologie, Bd. 1, 40.
12 Es kommen hauptsächlich die bei Franz Dorfmann vorgenommenen Klassifizierungen für das 19. Jahrhundert in Betracht; vgl. Kap. 1.1.
13 Die Phasenbezeichnungen sind ein Vorschlag des Verfassers, um damit dem Umstand gerecht zu werden, dass die bei Zulehner gebrauchten Positionsbegriffe (‚pragmatischer Ansatz‘, ‚bibeltheologischer Ansatz‘ u. ä.) einer Kritik aus der aktuellen Forschungssituation heraus nicht mehr standhalten und deshalb auch überwiegend abgelegt worden sind.
14 Vgl. zur Datierung der Anfangsmarke Josef Müller, Beginnt die Pastoraltheologie als Universitätsdisziplin 1777 oder 1778?, in: Ferdinand Klostermann/Ders. (Hg.), Pastoraltheologie. Ein entscheidender Teil der josephinischen Studienreform. Ein Beitrag zur Geschichte der Praktischen Theologie, Wien 1979, 13—15.
15 Vgl. Haslinger, Pastoraltheologie, 451 —454.
16 Knobloch, Praktische Theologie, 64.
17 Vgl. Zulehner, Pastoraltheologie, Bd. 1, 41; Zottl, Handeln, 221f.; Blasberg-Kuhnke, Theorie-Praxis-Problem, 54; Lechner, Pastoraltheologie, 237.
18 Vgl. Feiter, Einführung, 20f.; Laumer, Pastoraltheologie, 56f.
19 Vgl. Zulehner, Pastoraltheologie, Bd. 1, 41; Knobloch, Praktische Theologie, 69.
20 Zulehner, Pastoraltheologie, Bd. 1, 42; vgl. Knobloch, Praktische Theologie, 69; Laumer, Pastoraltheologie, 49—52.
21 Feiter, Einführung, 21.
22 Vgl. Lechner, Pastoraltheologie, 238f.; Laumer, Pastoraltheologie, 58—77.
23 Vgl. Zulehner, Pastoraltheologie, Bd. 1., 42; Knobloch, Praktische Theologie, 71f.; Greinacher, Weg, 50; Blasberg-Kuhnke, Theorie-Praxis-Problem, 54f.; Laumer, Pastoraltheologie, 66—68.