Kitabı oku: «Der Finder», sayfa 6
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Ich saß am Ausgang eines namenlosen Ortes, irgendwo im südlichen Ruhrgebiet, auf einem Stein an der Straße und aß einen Apfel. Es war zwei Wochen her, dass ich mit Esther unser Haus bezogen hatte, der zweite Zeitpunkt, von dem an ich automatisch die Zeit maß. Der erste war der Tag des Verschwindens, die Grenze, die unsere Zeit in „vorher“ und „nachher“ teilte. Eine andere Zeitrechnung gab es für uns nicht mehr, außer vielleicht, um unsere Geburtstage festzustellen. Natürlich erinnerten wir uns grob, welchen Monat wir hatten – im Moment musste es Ende Juli oder Anfang August sein. August … ich hatte, wie jedes Jahr, fest vorgehabt, Ende August das Fantasy Filmfest in Köln zu besuchen. Das würde wohl nichts dieses Jahr. Für einen Moment schweiften meine Gedanken ab und ich fragte mich, ob es mir wohl gelingen könnte, einen Vorführsaal im Kölner Cinedom wieder in Betrieb zu nehmen. Oder irgendein anderes Kino. Ich liebte Filme. Hatte Filme geliebt. Ich lächelte über die Erinnerungen, biss in meinen Apfel und dachte an eine Idee, die Simone neulich aufgebracht hatte. Mit Hilfe von Generatoren musste es möglich sein, zumindest ein bescheidenes Maß an Strom zu erzeugen. Und Strom könnte auch bedeuten: Filme über DVD. Ein gemeinsamer Filmabend einmal in der Woche wäre sicher eine feine Sache. Aber Generatoren brauchten Diesel. Was wir davon fanden, benötigten wir für den Traktor und den Unimog – und dabei war noch nicht einmal Erntezeit. Wir wollten uns vor allem darauf beschränken, was wir brauchten. Nicht auf das, was wir wollten.
Tatsächlich war uns die Wocheneinteilung erhalten geblieben, auch wenn die Monate erodierten. Aber einige von uns waren gläubig geblieben oder es sogar erst nach dem Verschwinden geworden, sie legten Wert auf den Sonntag. Und jeden Mittwoch hatten wir eine feste Sitzung, zu der wir uns alle im Gemeinschaftsraum trafen. Ob unsere Sonntage und Mittwoche mit den tatsächlichen Mittwochen und Sonntagen aus der Zeit vorher übereinstimmten, wussten wir nicht genau, aber wir hatten mehrmals nachgerechnet und waren relativ sicher, dass sie stimmten. Ebenso verhielt es sich mit der Uhrzeit. Von den Armbanduhren, die einige von uns trugen, zeigten kaum zwei genau dieselbe Zeit, und die Funkuhrsignale funktionierten nicht mehr. Also maßen Jan und Lars mithilfe eines Verfahrens, das die meisten von uns – mich eingeschlossen – nicht genau verstanden, an fünf Tagen hintereinander die Zeit mittels einer Sonnenuhr und waren sich dann ziemlich sicher, zwölf Uhr mittags annähernd auf die Minute genau bestimmt zu haben. Eine sehr teuer aussehende mechanische Tischuhr, die ich in einem benachbarten Haus gefunden hatte und von der wir vermuteten, dass sie ziemlich genau ging, wurde unser Referenzchronometer und sie schien zumindest bisher nicht merklich abzuweichen – verglichen mit unseren genauesten Armbanduhren.
Denn das war meine Aufgabe geworden: Sammeln. Da ich immer noch die beste Ortskenntnis von allen hatte, führte ich wechselnde Erkundungstrupps in die Umgebung. Wir sammelten auf diesen Touren leicht zu transportierende Güter und brachten sie mit zum Hof, unsere Hauptaufgabe war aber, das, was wir fanden, aufzuschreiben, zu katalogisieren und auf unserer großen Karte im Gemeinschaftsraum einzutragen. Wo gab es Obst- und Gemüsegärten, die wir abernten konnten, wo Felder, wo gab es weitere Tiere, technische Geräte, wo befanden sich Supermärkte … die Liste unserer Bedürfnisse war unendlich. Allerdings wurde die Liste dessen, was wir neu fanden, immer kleiner, die meisten Häuser und Dörfer im näheren Umkreis hatten wir abgesucht, und vor Expeditionen, die mehr als einen Tag dauerten, schreckten wir noch zurück. Natürlich hätten wir mit einem Auto schnell überallhin fahren können und manchmal nutzten wir diese Möglichkeit auch, aber uns schreckte meist doch die Sorge, etwas Wichtiges oder Interessantes im Vorbeifahren zu übersehen. Und dem Hof für längere Zeit drei oder vier Arbeitskräfte zu entziehen, war im Moment mehr, als wir uns leisten konnten.
Das Dorf war tatsächlich namenlos – zumindest, bis wir es auf der Karte finden würden. Das Ortsschild fehlte, sowohl am Ortseingang als auch am Ausgang, allem Anschein nach waren die Schilder vor dem großen Verschwinden entfernt worden. Vielleicht nur übers Wochenende – um dann an einem Montag ersetzt zu werden, der so niemals kam. Wir waren am Morgen einmal mehr südlich von Sprockhövel unterwegs gewesen. Aber die Gegend hatten wir schon mehrmals abgegrast und die Touren wurden immer unergiebiger. Wir würden uns Sprockhövel selbst einmal vornehmen müssen, aber dafür brauchte ich mehr Zeit oder mehr Leute. Es war zum Lachen. Ein Ort wie Sprockhövel, der vor einigen Monaten hauptsächlich für Witze gut gewesen war, überforderte nun unsere Kapazitäten. Immerhin waren wir auf dem Rückweg auf diesen Ort hier gestoßen, ein kleines Straßendorf unter einem bewaldeten Hang. Normalerweise passierten wir den Wald auf der anderen Seite, daher hatten wir es bisher nicht bemerkt. Wir waren zu viert, Mark für die medizinische Truppe, Daniela für die Tierpfleger, Olli für die Pflanzer und ich selbst. Nachdem wir den Ort flüchtig auf Hunde untersucht hatten, hatten wir uns aufgeteilt. Zwei Stunden später hatte ich meine Suche beendet und mich an die Straße in den Schatten des Hangs gesetzt. Es war heiß, ich hatte meine Feldjacke ausgezogen, der Bogen und der Köcher mit den Pfeilen lagen neben mir im Gras, ebenso mein Rucksack mit der Beute: Mehrere Packungen Salz, einige Vitamintabletten und diverse Gewürze. In meinem Gürtel steckte ein Gummiknüppel mit seitlichem Griff, ein Tonfa. Unsere Jäger waren in der Woche zuvor von Wildschweinen angegriffen worden und hatten sich nur mit Hilfe der Gewehre verteidigen können. Seither ging keiner von uns mehr unbewaffnet auf einen längeren Ausflug.
Ich war gerade dabei, einen gut gefüllten Apfel- und Kartoffelkeller sowie einige Werkzeugschuppen in mein Notizbuch zu schreiben, als Mark die Straße herunterkam. Er war ähnlich wie ich gekleidet – offene Feldjacke über einem T-Shirt, Jeans, Wanderschuhe. Tatsächlich war diese Kombination – mit wenigen Abweichungen – unsere Uniform geworden. Ich trug zum Beispiel Militärstiefel anstelle der Wanderschuhe, andere bevorzugten praktische Latzhosen anstelle der klassischen Jeans, aber alles in allem sahen wir uns bald ziemlich ähnlich. Esther, die am liebsten lange Kleider trug, oder Daniela, die fast immer Reithosen anzog, waren schon fast extravagant.
Mark trug sein Gewehr locker über der Schulter und einen prall gefüllten Rucksack in der Hand, den er triumphierend schwenkte. Ich blickte von meinen Notizen auf.
„Beute?“
„Beute!“ Er setzte sich neben mich und sah zufrieden aus.
„Was ist es?“
„Medikamente, Verbandszeug, Insulin.“
Ich pfiff anerkennend. „Das wird Gina freuen. Und Micha.“
„Wieso Micha?“
Ich grinste. „Weil du Gina rettest.“
Er nickte und wurde ernst. „Unser Problem ist nicht die Menge. Es ist gut, ein Depot wie das hier zu finden, jedes Depot ist gut, aber was das Insulin betrifft, so gehe ich mal davon aus, dass jedes halbwegs respektable Krankenhaus gut ausgerüstet ist. Nein, das Problem ist die Zeit.“
„So ernst?“
„Ja klar, Daniel, was denkst du denn?
„Wie lange werden wir noch Brauchbares finden?“
„Gute Frage. Sehr gute Frage. Und wie lange wird es haltbar sein? Ich habe mal gelesen, dass eine von tausend Ampullen Insulinpräparat nach acht Jahren um ist. Unter besten Bedingungen. Wir brauchen einen Generator für den Kühlschrank.“
„Und nach acht Jahren?“
Er schaute mich düster an. „Lotterie, mit einer Chance von 999 : 1, stetig absteigend. Wenn wir überhaupt so lange Gutes finden. Es sei denn, wir lernen, Insulinpräparate herzustellen. Ich habe keine Ahnung, wie, aber vielleicht können wir es lernen. Bis dahin müssen wir sammeln. Alles, was wir finden können.“ Er schaute nachdenklich auf den Boden. „Wir müssten lernen, wie man Medikamente herstellt. Alte Medikamente, meine ich. Wie früher. Salben und Tinkturen, Kräuter, Pilze, was weiß ich. Esther und ich suchen verzweifelt nach einem alten Apothekenbuch, weißt du? Wie man Arzneien selbst macht. Sowas findet man nicht zufällig. Und nicht in Käffern wie dem hier. Oder nur mit Glück.“
„In Wuppertal wird es das geben. Und in Solingen … in den großen Städten.“
„Ja vielleicht, aber wer geht das suchen? Das ist keine Sache von einem Tagesmarsch, oder von mir aus auch einer Fahrt irgendwohin – das ist langsames, geduldiges Suchen und Finden. Wir brauchen jemanden, der Dinge und Plätze findet. Weil wir immer öfter Dinge brauchen werden, von denen wir im 21. Jahrhundert eben nicht wussten, wo man sie findet und wie man sie herstellt. Im Grunde bräuchten wir jemand, der ständig unterwegs ist, sucht und Sachen einsammelt, Daniel.“ Ich sagte nichts und dachte nach, mir kam ein Gedanke, langsam.
„Na ja“, er seufzte und tippte mit dem Fuß an seinen Rucksack. „Da oben ist jedenfalls ’ne Arztpraxis, die haben sich scheinbar auf Diabetiker spezialisiert. Oder hier gibt es besonders viele, keine Ahnung. Jedenfalls war der ganze Keller voll Insulin. Und der Keller war kühl, fast so gut wie unserer. Da ist noch mehr. Schreibst du das auf?“
„Klar.“ Ich fügte die Notiz hinzu, zog die Benson aus der Brusttasche und bot ihm eine an. Er schüttelte angewidert den Kopf.
„Nee, danke. Und du hast doch gerade ’nen Apfel gegessen, oder?“
Ich nickte, zündete die Zigarette an und nahm einen Zug. „Na und?“
„Perverser Süchtiger.“ Sein Blick fiel auf das Tonfa. „Netter Knüppel übrigens. Gegen Hunde?“
„Gegen Studentenpack wie dich. Klar gegen Hunde.“
„Wie geht man damit um?“
Ich zeigte es ihm und er war angemessen beeindruckt. „Das lernt man als Fotograf?“
„Nein. Ich habe eine Weile Escrima gemacht.“
„Es-was?“
„Escrima. Stockkampf. Kampfkünste sind so ’n Hobby von mir. Als Kind habe ich Judo trainiert, später Ju Jutsu, dann Escrima und Wing Tsun. Im Moment mache ich immer noch WT und seit zwei Jahren Ken Jutsu. Ich hatte neulich einen Lehrgang in Krav Maga, das ist total interessant, wenn ich Zeit habe …“ ich fiel zurück aus meiner Begeisterung in die Gegenwart, starrte ihn an und lachte bitter. „Scheiße.“
Mark lachte auch und klopfte mir tröstend auf die Schulter. „Lass mal, das passiert uns allen. Außerdem habe ich eh nichts verstanden. Außer Judo. Sind das alles Kampfsportarten?“
„Kampfkünste, eher. Realitätsnäher, weniger sportlich.“ Ich lachte wieder. „So lange es noch eine Realität gab, in der man das brauchen konnte.“
Er schaute mich erstaunt an. „Hast du dich oft geprügelt?“
„Nein. Eigentlich nie.“
„Siehste, hat sich doch nichts geändert.“ Er grinste und stieß mich in die Seite. „Und vermutlich bist du jetzt der erfahrenste und hochdekorierteste Kung-Fu-Meister der Welt.“
„So kann man es auch sehen.“
„So muss man es sehen. Alles andere führt in den Wahnsinn.“
Ich nickte und wir schwiegen eine Weile gemeinsam. Dann kamen Daniela und Olli die Straße herunter und setzten sich zu uns.
„Erfolg?“, fragte ich.
Daniela zuckte mit den Schultern. „Katzen überall, wie immer. Aber auf der Wiese hinter dem Ort, so sieben-, achthundert Meter die Straße runter, waren Pferde. Ich habe sie nur von weitem gesehen, es sind mindestens neun. Die Zäune sind überall umgerissen, vermutlich waren das mal mehrere Koppeln.“
„Brauchen wir noch Pferde?“
Sie schüttelte den Kopf. „Im Moment haben wir genug. Aber falls wir wieder welche brauchen sollten – hier ist ’ne kleine Herde. Und vielleicht sollten wir sie vor dem Winter einfangen. Ich weiß nicht, ob die einen Winter alleine überstehen können. Falls es ein harter wird.“
„Müssen wir dann entscheiden.“
„Ja.“
Olli gab mir eine Liste mit Feldern, die er gefunden hatte, und was darauf angebaut war, dann schulterten wir unsere Rucksäcke und brachen auf. Es war spät und in der Ferne hatten wir dunkle Wolken gesehen.
Wollten wir vor der Dunkelheit und trocken nach Hause kommen, dann mussten wir zügig gehen. Unser Weg zurück führte eine Weile über die A1. Als wir auf der Autobahn gingen, ließ ich mich ein wenig zurückfallen, bis ich neben Daniela ging. Mark und Olli waren in ein Gespräch vertieft, was mir ganz recht war. Etwas, das Mark gesagt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf, und ich musste Daniela etwas fragen.
„Danni?“
„Hm?“ Sie blickte erstaunt auf. Wenn wir unterwegs waren, ging sie meist hinten und grübelte vor sich hin, manchmal weinte sie auch, und wir störten sie selten dabei. Seit sie völlig verstört in die Quettinger Kirche getaumelt war, damals, als Jan uns zusammengerufen hatte, hatte sie sich immens gemacht. Sie war, so weit ich das beurteilen konnte, eine der fleißigsten von uns allen. Neben ihrer Arbeit mit den Pferden und unseren anderen Tieren hatte auch die offensichtliche Tatsache, dass Jan und sie auf dem besten Wege waren, ein Paar zu werden, zu ihrer Erholung beigetragen. Aber ihr Verhältnis zu ihren Eltern war sehr eng gewesen. In Momenten der Stille, wie längere Märsche sie boten, nahm sie sich manchmal eine Auszeit zum Trauern. Jetzt allerdings wirkte sie nicht verweint, wofür ich dankbar war.
„Was ist?“
Ich druckste etwas herum. „Ähm … das klingt vielleicht doof, aber … was meinst du, wie gut ich schon reiten kann?“
Sie schenkte mir einen belustigten Blick. „Du bist ganz toll, Daniel. Feiner Reiter. Wirklich: Hofreitschule, mindestens.“
Ich lachte. „Nein, ehrlich, Danni. Traust du mir zu, alleine auszureiten? Mit Fog zum Beispiel.“
Fog war ein Hengst, den wir auf einem der Nachbarhöfe gefunden hatten – damals in einem wirklich mickrigen Zustand. Inzwischen war er aber wieder fit, und ich konnte mit ihm am besten umgehen. Vermutlich, weil er ausgesprochen gutmütig war.
Sie wirkte immer noch ein wenig irritiert. „Klar. Hast du doch schon gemacht.“
„Ich meine, längere Strecken. Längere Zeit. Ein paar Tage oder so.“
Sie fasste mich interessiert ins Auge.
„Was hast du vor?“
„Weiß ich noch nicht genau. Vielleicht mal alleine eine Tour wie die hier etwas weiter raus machen. Mit Fog oder einem anderen Pferd. Rund um den Hof haben wir alles schon ziemlich abgegrast.“
„Ja.“ Daniela nickte. „Klingt vernünftig. Würde ich dir zutrauen, vom Reiten her, meine ich. Wenn du willst, bringe ich dir noch ein paar Sachen bei, die dafür nützlich wären. Und du solltest wirklich Fog nehmen. Er mag dich.“
„Ich ihn auch.“
Sie lachte. „Das ist gut, aber nicht so wichtig. Es sei denn, du trägst ihn auch mal ’ne Weile.“
Wir kamen mit der Abenddämmerung im Hof an und übergaben Michael unsere Beute, dann ging ich in den Gemeinschaftsraum. Er war leer, was mir ganz gut passte. Ich hatte keine Lust auf Leute. Ich stellte mich vor die große Wandkarte, eine Kombination mehrerer Landkarten, die eine Raute mit den groben Eckpunkten Duisburg und Leverkusen im Westen und Schwerte und Olpe im Osten darstellten. Mit einem Stift und bunten Nädelchen machte ich mich daran, meine Notizen in die Karte zu übertragen. Auch dabei fiel mir auf, wie dicht gedrängt unsere Fundgebiete bisher waren, selbst auf dieser Karte – wenige Kilometer um unseren Hof herum häuften sich die Nadelköpfe und Notizen, dazu entlang der Bundesstraßen 7 und 483 und der A1 in die verschiedenen Himmelsrichtungen. Am östlichen Stadtrand Wuppertals hatten wir ein wenig geknabbert, und zwei einsame Nadelköpfe für Medizin und Kleidung steckten – weit im Westen für unsere Verhältnisse – in der Hildener Kaserne. Die größeren Städte des Bergischen Landes waren unmarkiert und unerforscht, Köln, Essen und Dortmund gar Terra Incognita, außerhalb der Karte. Hier seyen Drachen. So konnte das nicht bleiben.
So fand sie mich, die Hände in die Hüfte gestemmt, breitbeinig vor der Karte stehend.
„Hallo Pfadfinder.“
Ich wandte mich um. Nichts war wichtiger als diese Stimme. Ich nahm sie in die Arme und war zu Hause.
„Hallo Esther.“
Sie küsste mich und ich erlaubte mir den Luxus, kurz zu vergessen. Wir setzten uns nebeneinander auf einen der beiden großen Tische, die hier herein geschafft worden waren, damit wir gemeinsam über Zeichnungen und Karten brüten konnten. Dort küssten wir uns ein wenig länger.
„Können wir die Tür abschließen?“, fragte ich.
„Nein.“
„Mist.“
Sie grinste. „Sollen wir nach Hause gehen?“
„Nichts lieber als das.“
„Aber dann verpassen wir die Feier.“
„Was?“ Die Müdigkeit des Marsches fiel auf mich wie ein großer, schwerer Sack. „Schon wieder ’ne Feier?“
Esther lachte laut auf, als sie mein entsetztes Gesicht sah. „Die Lotterkommune hat ihr Haus fertig eingerichtet. Einweihung.“
„Nicht schon wieder.“
Sie streichelte mich zärtlich. „Armer Schatz. Zu viele Menschen?“
„Nein. Ja. Was weiß ich. Aber müssen wir denn dauernd irgendwas feiern?“
„Die meisten freuen sich einfach, dass wir noch da sind, Daniel.“
„Ich freue mich doch auch, Esther. Aber wir sind doch den ganzen Tag alle zusammen. Wir arbeiten zusammen oder wir ziehen zusammen durch die Gegend, und abends müssen wir dann auch noch zusammen feiern?“
„Ich verstehe ja, was du meinst. Aber andererseits … immerhin ist es auch Simones Feier. Ich mag sie echt gerne.“
„Sind Ben und Carmen auch da?“
„Nein, die sind noch auf der Jagd.“ Sie zwinkerte. „Christos weiht ja auch mit ein, also machen sie den Jagdausflug alleine. Zu zweit. Im Wald. Unter den Sternen …“
„Heute wird’s regnen.“
„Dann im Zelt. Auch schön …“
„Verräterpack. Überlässt mich alleine den Feiermeiern.“
Sie drückte mich zärtlich. „Ist es so schlimm?“
„Echt, Esther … ich kann nicht mehr.“
„Erschöpft?“
„Nein, das nicht, aber …“
„Erschöpfung ist ’ne ernste Sache. Da muss man zu Hause bleiben.“
„Ich bin ja gar nicht so kaputt. Es ist nur …“
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Komm. Wir gehen eben nach Hause. Und wenn ich mit dir fertig bin, bist du erschöpft. Versprochen.“
Damit behielt sie Recht. Ich blieb auf unserem Lager liegen, während sie sich wieder anzog, und merkte eben noch, wie sie sich verabschiedete. Dann döste ich weg – und eine gefühlte Minute später saß sie wieder neben mir. Ich setzte mich auf.
„Willst du nicht auf die Party?“
Sie lachte. „Ich war auf der Party, Daniel. Ich bin gerade zurück. Du hast vier oder fünf Stunden geschlafen.“
„Echt?“
„Guck mal, was ich habe.“ Sie hielt mir etwas vor die Augen und ich erkannte unsere kleine Thermosflasche.
„Was ist das?“
„Wart’s ab.“
Sie stand auf, klapperte ein wenig mit Geschirr und kam dann mit zwei Tassen, einer brennenden Kerze und Löffeln zurück. Aus der Tasche ihres Kleides zog sie ein zusammengerolltes Plastikbeutelchen und wedelte damit in der Luft.
„Zucker.“
Eine Hoffnung keimte in mir auf. „Ist das etwa Kaffee, in der Thermoskanne?“
„That’s a Bingooooo.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Simone hat welchen für die Party gemacht und uns extra was übrig gelassen. War nicht einfach.“
„Wow.“
Sie öffnete die Thermosflasche und wir schnupperten erst einmal ausgiebig. Kaffee war eine sehr seltene Köstlichkeit geworden, da er ziemlich aufwändig zuzubereiten war und wir uns bei den Sammeltouren selten mit ihm belasteten – es gab so viel Wichtigeres. Dafür hielten wir uns aber auch nicht mit schlechtem Stoff auf. WENN wir mal Kaffeepulver oder Bohnen mitnahmen, dann nur vom Feinsten. Selbst ich, als eingeschworener Teetrinker, hatte begonnen, die wenigen Gelegenheiten, wenn es Kaffee gab, hoch zu schätzen. Tee hingegen war einfach zu transportieren und einfach zu machen – er war eines unserer Standardgetränke geworden, neben Wasser.
Wir genossen schweigend jeder eine Tasse herrlich heißen, schwarzen Kaffees, verbrachten dann eine Weile damit, uns verliebt darüber zu streiten, wer auf die dritte Tasse verzichten durfte, bis wir sie schließlich gemeinsam tranken. Danach ließ ich mich zufrieden auf den Schlafsack zurückfallen.
„Mmmmh. Das war lecker.“
Esther legte sich neben mich, den Kopf an meiner Schulter, und schnurrte zufrieden.
„Ja.“
„Wie war die Feier?“
„Schön. Ruhig, mal zur Abwechslung. Simone hat nach dir gefragt. Und Danni und Mark.“
„Hm. Was hast du gesagt.“
„Dass du k. o. warst. War in Ordnung, denke ich.“
„War ich der Einzige, der nicht da war?“
„Nein, Micha auch nicht, und Gina. Carmen und Ben natürlich. Und Lars war auch nicht da.“
„Wieso?“
„Ich hab ihm heute Mittag ’nen Zahn gezogen. Tut wohl noch weh.“
Ich schaute sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Grauen an. „Du hast was?“
„Ihm ’nen Backenzahn gezogen. Mit der Kneifzange.“ Sie sah sehr zufrieden aus.
„Wieso das?“
„Na ja, er hatte ein Riesenloch drin und Schmerzen. Seit Tagen. Und er hat nichts gesagt, der blöde Idiot. Die hätte er sich sparen können.“
„Und da musstest du ziehen?“
„Was soll ich tun? Füllen kann ich nicht. Ziehen ist einfach. Simone und ich haben das vor zwei Wochen sogar geübt. Also … den Ansatz. Sie hatte ja so’n Buch gefunden, als ihr in Ennepetal wart.“ Sie grinste. „Mark wollte nicht, der Feigling.“
„Und … tat Lars das nicht weh?“
„Doch, klar, ein wenig. Aber ich habe ihm eine halbe Stunde vorher vier Gläser Cognac verabreicht. Der hat nicht mehr viel gemerkt.“
„Wie fürsorglich.“
„Wir tun unser Bestes.“ Esther seufzte. „Ich hoffe, es bleibt bei sowas. Ein Blinddarm oder so würde uns drei ziemlich sicher überfordern. Mark hat bei ein paar Operationen assistiert, ich auch, vor Jahren, aber trotzdem …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich will es lieber nicht ausprobieren:“
„Ja.“
Sie schüttelte den Gedanken ab und lehnte sich wieder an mich. „Und? Wie war dein Tag?“
„Wie immer. Wandern. Sammeln. Mark hat Insulinpräparat gefunden, Danni eine Herde Pferde. Ich hab ein paar Packungen Salz mitgebracht.“
„Salz ist gut. Und Insulin. Puh.“
„Mark hatte eine interessante Idee, was das betrifft.“
„Welche?“
„Dass einer von uns hauptberuflicher Sammler wird und auch größere Touren macht. In die großen Städte, nach Wuppertal und Solingen. Köln vielleicht auch, Essen … da gibt es mehr zu finden.“
Sie lächelte mich zärtlich an und strich mir über die Wange. „Und darf ich mal raten, wen du dafür im Sinn hast? Vielleicht jemanden, der mit Gemeinschaftsherrlichkeit und Gruppendynamik sowieso nicht so viel am Hut hat?“
„Na ja …“
„Aber Wuppertal und Köln … also, Köln ist schon verdammt weit weg.“
„Geht so. Ich dachte, wenn ich reite und nicht die ganze Zeit zu Fuß gehe … ich habe mal mit Danni gesprochen, die meint, dass ich das drauf hätte, reiterisch. Wenn ich Fog nehme.“
Sie kuschelte sich an mich. „Und wer wärmt mich dann?“
„Esther …“
„Nein, nein …“ Sie setzte sich auf und schaute mir offen in die Augen. „Das war ein Scherz. Marks Idee ist gut. Und du bist der Richtige dafür. Und es wäre auch gut für dich, ich fände es gut, wenn du das machen würdest.“
„Echt?“
„Ja.“ Sie legte den Kopf wieder auf meine Brust. „Du musst mir nur versprechen, dass du nicht eines Tages einfach da draußen bleibst.“ Ich küsste ihr Haar. „Versprochen. Ich komme immer zurück.“
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