Kitabı oku: «Warum der stille Salvatore eine Rede hielt», sayfa 6
Dem seltsamen Salvatore kommt in der Welt alles seltsam vor, und er hingegen der Welt auch
Die Heimkehr in seine Eigentumswohnung gelang Salvatore nur im Schutz der Nacht und eines Scharmützels, das sich Bovniker Einheiten in der Nähe der Universitätsklinik mit den Thunakis lieferten. Die wenigen geduldigen Reporter, die, Wochen nach Salvatores Unfall, um die späte Stunde noch vor der Klinik ausharrten, richteten ihre Aufmerksamkeit auf die in Sichtweite gegeneinander anstürmenden Soldaten und das medizinische Personal der Notaufnahme, das die Verwundeten sogleich auf der anderen Seite des mobilen Signaturgenerators, durch den sie erst geschoben und designiert werden mussten, von den Armeesanitätern in Empfang nahm, während der begehrteste Mann Bovniks das Klinikum durch einen Seitenausgang verließ und in ein bereitstehendes Taxi stieg. Selbstverständlich hätte er auch tagsüber und unter gewaltigem Presseandrang gehen können, doch glaubte er immer noch, seine gewohnte, zurückgezogene Existenz wieder aufnehmen zu können, wenn er nur bald zu Hause in seiner Wohnung war, ohne Aufsehen zu erregen. Diese Illusion hatte exakt bis zu dem Moment Bestand, als er am folgenden Morgen nach dem Erwachen aus dem Fenster seiner Wohnung blickte und die Straße vor dem Haus voller Fernseh-Übertragungswagen und Reporterteams sah. Sein Taxifahrer war in der Nacht, unmittelbar nachdem er Salvatore vor seiner Wohnung abgesetzt und sich freundlich von ihm verabschiedet hatte (auch außerhalb des Krankenhauses schien seine Berühmtheit diesen seltsamen Effekt auf die grimmigen Bovniker zu haben, dachte Salvatore), zum Fernsehsender gefahren und hatte ihn gegen eine gute Summe verpfiffen. Dass die exklusive Information danach aus dem Sender leckte wie Wasser aus einem zerschossenen Blecheimer, lag nicht an ihm. Das Ergebnis jedenfalls war die Reportermenge vor Salvatores Fenster und das endgültige Ende seines ungestörten Einsiedlerlebens.
Als Salvatore es fast zwei Stunden nach seinem Blick aus dem Fenster wagte, seine Wohnung zu verlassen, kannten die Fernsehzuschauer nicht nur in Bovnik bereits sein schläfriges, dann überraschtes, dann erschrockenes Gesicht, das die einsatzbereiten Kameras in diesem Moment am Fenster unbarmherzig von der Straße aus eingefangen hatten. Seit diesem Schreck war er immer wieder in Gedanken alle Möglichkeiten durchgegangen, wie er der gierigen Menge vor seinem Haus aus dem Weg gehen konnte. Besser gesagt, er kannte überhaupt keine Möglichkeiten, die er hätte durchgehen können, und das war es, was ihn, als er sich das endlich klargemacht hatte, zum Aufgeben bewegte. Er musste seine Wohnung irgendwann verlassen, das stand fest. Er sollte sie besser noch an diesem Morgen mindestens kurzzeitig verlassen, das musste er sich leider auch eingestehen, denn in den ganzen Wochen, die er im Krankenhaus zugebracht hatte, war keine Menschenseele in seiner Wohnung gewesen, um zum Beispiel die spärlichen, aber vorhandenen Lebensmittel aus dem Kühlschrank, das Obst aus der Schale und die Kartoffeln aus dem Schrank zu nehmen. Einen Müllschlucker für die schimmligen, verschrumpelten, stinkenden Reste gab es ja im Flur direkt vor seiner Wohnungstür, aber dort gab es keinen Lebensmittelladen. Seinen gewohnten, morgendlichen Espresso konnte er sich mit dem vorhandenen Kaffeepulver noch kochen, aber dann? Für Unruhe sorgte auch Salvatores für ihn selbst überraschende Erkenntnis, dass seine Wohnung über keine Badewanne verfügte, sondern nur über eine Dusche; eine Enttäuschung, die er sich überhaupt nicht erklären konnte, denn er lebte ja nicht erst seit dem gestrigen Tag hier. Eine Badewanne würde ihm auf jeden Fall die Eingewöhnung erleichtern, dachte Salvatore. Außerdem, und das gab den Ausschlag dafür, diesen Morgen aus dem Haus zu gehen, musste er sich um seinen Motorroller kümmern. Ohne seinen Motorroller konnte er sich sein Leben, ob berühmt oder nicht, gar nicht vorstellen. Das Krankenhaus war eine Ausnahmesituation gewesen. Er hatte sich dort erst langsam an sich selbst erinnern, hatte mit der irritierenden Freundlichkeit des Personals zurechtkommen müssen, erst dann, ganz allmählich, war auch seine Erinnerung, seine Gewohnheits-Erinnerung wiedergekehrt, morgens, nach seinem Espresso auf seinen Roller zu steigen und durch Bovnik zu knattern. Sein Motorroller, so stand es auf dem Formular der Polizei, das er jetzt in seiner Jackentasche verstaut hatte, sei auf einem kommunalen Abstellplatz für gestohlene, aufgegebene und falsch geparkte Fahrzeuge untergestellt, ebenso für Unfallfahrzeuge, deren Halter oder Angehörige der Halter nicht in der Lage waren, sich um die Verwahrung oder Entsorgung des Fahrzeugs zu kümmern. Salvatore rechnete sich, bis heute jedenfalls, zu dieser letzten Gruppe, aber keinen Tag länger. Denn sein Roller gehörte zu seinem Leben, das er, auch wenn es auf der Straße vor seinem Haus nicht danach aussah, wiederhaben wollte. Wie viele Wochen hatte der Roller unbeachtet dort auf diesem Abstellplatz gestanden? Sicher hatte sich niemand um ihn gekümmert, ihn gepflegt, ihn liebevoll angesehen, seine Chromleisten und seinen Rückspiegel poliert. Es war höchste Zeit, den Roller wieder nach Hause zu holen, dort, wo er hingehörte. Eigentlich nur aus diesem Grund brachte Salvatore den Mut auf, gleich am Morgen seine Wohnung zu verlassen und sich zum ersten, aber bei weitem nicht zum letzten Mal in das Blitzlichtgewitter zu begeben, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was er tun oder sagen sollte, um sein einmal gewohnt gewesenes, verschlossenes Leben zu beschützen, denn das konnte er nicht.
Hinter seiner Wohnungstür warteten zwei Überraschungen auf Salvatore. Die Erste war der Blick seines Nachbarn, dessen Namen er nicht kannte, obwohl er als Einziger schon länger als Salvatore hier wohnte. Salvatore stopfte gerade zwei Tüten des grauenhaften Abfalls von Monaten in den Schlund des Müllschluckers, als sich die Tür seines Nachbarn öffnete und dieser ihm in die Augen sah. Noch niemals zuvor hatte sein Nachbar Salvatore in die Augen gesehen, und dieser Moment war für ihn selbst wohl noch überraschender als für Salvatore, der vor Erstaunen zusammenzuckte und die Klappe des Müllschluckers losließ, was erfahrungsgemäß zu einem markerschütternden Knall im ganzen Treppenhaus führte und deshalb von allen Hausbewohnern vermieden wurde. Salvatores Nachbar zeigte wegen des Knalls jedoch keine besondere Regung, sein Blick veränderte sich kein bisschen. Es war, das fiel Salvatore nur auf, weil er seit Monaten nur das Gegenteil kannte, kein freundlicher Blick. Der Mann, der zu niemandem je ein Wort sprach – jedenfalls vermutete Salvatore dies, weil er ihn niemals sprechen gehört hatte – blickte ihn mit eindeutiger und in ihrer Schärfe erschreckender Verärgerung an. Ja, er ärgerte sich über Salvatore, das war unübersehbar, er war beinahe zornig. Nichts an ihm unterschied sich von dem Mann, den Salvatore in Erinnerung hatte, nur sein Blick jagte ihm einen Schrecken ein. Nicht, dass Salvatores Nachbar jemals einen beruhigenden oder zu Gleichgültigkeit verleitenden, einen unauffälligen Anblick geboten hätte, so wie Salvatore selbst. Nein, er war schon immer von einem Geheimnis umgeben, weil man von ihm noch weniger wusste als von Salvatore, weil er stets einen schmutzigen, verschwitzten, ungeheuer stark ausgebeulten Trenchcoat trug, egal zu welcher Jahreszeit, egal bei welchen Temperaturen, weil er den Blicken der Menschen auswich (sein grimmiger Gesichtsausdruck hinter den dicken Brillengläsern fiel in Bovnik allerdings so wenig auf wie eine Krähe in einem Krähenschwarm), weil er sich schwankend und mühsam bewegte wie ein Fischkutter bei schwerer See, weil er das Haus verließ und zurückkehrte zu den unmöglichsten Tageszeiten – und weil die kahle Oberseite seines Kopfes nicht einmal bis zur Türklinke seiner Wohnung reichte. Sein zorniger Ausdruck bekam dadurch etwas noch Bedrohlicheres für Salvatore. Er hatte den erschreckenden Blick seines Nachbarn noch nicht richtig verwunden, da stieg der seltsame Gnom bereits in den Aufzug.
Durch das Fenster im Treppenhaus konnte Salvatore sehen, wie sich sein kleiner, geheimnisvoller Nachbar ärgerlich, aber entschlossen und ohne ein Wort zu sagen oder einen der Presseleute anzusehen, einen Weg durch die Reportermasse bahnte und hinter den parkenden Autos der TV-Sender verschwand, wie er immer verschwand – spurlos.
Als Salvatore dann seinen Mut zusammennahm, die Treppe zum Erdgeschoss hinabstieg und den Ausgang ansteuerte, sah es zunächst nicht nach einer weiteren Überraschung aus. Erwartungsgemäß setzte ein unablässiges Prasseln und Aufblitzen der Fotoapparate ein, noch bevor Salvatore das Haus überhaupt verlassen hatte, denn die Reporter konnten ihn durch die gläserne Eingangstür sehen. Wenig überraschend blieb der im Umgang mit solcher Aufmerksamkeit ungeübte Mann lieber erst einmal vor der Tür stehen, sodass er sich im Notfall schnell wieder ins Haus würde flüchten können. Ein wenig seltsamer mag es erfahreneren Zeitgenossen erschienen sein, dass sich die Reportermenge nicht sogleich auf Salvatore stürzte, sondern auf dem Gehweg in einigen Metern Entfernung vom Eingang und von Salvatore verharrte und von dort aus knipste und filmte, was das Zeug hielt. Diejenigen, die ein Mikrofon oder Aufnahmegerät in der Hand hielten, riefen ihm vom Gehweg aus ihre Fragen zu, die so belanglos, unsinnig oder indiskret waren, wie solche Fragen immer sind, versuchten sich gegenseitig zu übertönen, Salvatores Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem sie mit dem Mikrofon winkten oder mit dem Mikrofon und der freien Hand zugleich. Doch bedrängte ihn niemand. Wäre das geschehen, hätte Salvatore sich sofort umgedreht und wäre wieder im Haus verschwunden. Nun aber machte die Meute auf dem Gehweg gar keinen so recht bedrohlichen Eindruck auf ihn, auch wenn er nicht vorhatte, auch nur auf eine Frage zu antworten oder vor den Kameras zu posieren. Unangenehm war es, aber nicht so unangenehm, wie er befürchtet hatte. Er erinnerte sich an seinen Motorroller und schritt auf die Reporter zu. Nun geschah die eigentliche zweite Überraschung: Alle Fotoapparate verstummten, alle Reporter hörten auf zu rufen, alle Kameraleute ließen ihre Fernsehkameras sinken. Als Salvatore, mit großer Anspannung, weil er nicht verstand, was vor sich ging und weiterhin etwas Unangenehmes erwartete, als Salvatore nun vor die Reporter trat und sich innerlich schon darauf vorbereitete, von all diesen Menschen bedrängt, gestoßen und überhaupt belästigt zu werden, breitete sich auf all diesen Gesichtern ein fröhliches Lächeln aus, die Menge machte ihm eine Gasse zur Bushaltestelle frei und – applaudierte ihm. Rufe wie „Hallo Herr Krig! Schön, Sie zu sehen!“, „Es freut uns so, Sie kennenzulernen!“ oder „Hey, haben Sie einen schönen Tag!“ brachten Salvatore beinahe aus der Fassung. „Danke, ich … wünsche Ihnen auch einen schönen Tag“, stammelte er, als er sich mit vorsichtigen Schritten Richtung Bushaltestelle tastete. Zwar folgte ihm die Reporterschar nun wie eine Wolke aus Mücken einer Kuh folgt, und die Kameras klickten hier und da, vereinzelte Fragen wurden ihm zugerufen, doch behielten die üblicherweise fürs Aufdringlichsein bekannten und bezahlten Berichterstatter den, ja, respektvollen Abstand zu Salvatore bei.
„Was unternehmen Sie heute Morgen?“, wollte eine Reporterin wissen. Die Frage schien wirklich nicht aufdringlich, sondern ehrlichem Interesse entsprungen, und Salvatore antwortete ganz selbstverständlich, wenn auch etwas leise:
„Ich hole meinen Motorroller.“
„Wie schön! Viel Spaß dabei!“
Der nahende Bus bewahrte Salvatore davor, über die Welt oder die Stadt, die gänzlich verändert schien, oder auch sich selbst in tiefes Grübeln zu verfallen, und als ihm beim Einsteigen drei Reporter in den Bus folgen wollten, empfand er dies nicht einmal so sehr als Belästigung, sondern wunderte sich nur darüber, dass sie ihn freundlich um Erlaubnis baten, ihn begleiten zu dürfen.
Die ganze Fahrt über lächelten die anderen Fahrgäste Salvatore an. Nicht permanent, nicht aufdringlich, aber wann immer ihn jemand anblickte, lächelte dieser Mensch voller Freundlichkeit. Mitten in Bovnik. Das, was geschehen war, war offensichtlich nicht nur im Klinikum geschehen. Und es gab keine Anzeichen dafür, dass Salvatores Annahme, nur seine Berühmtheit sei dafür verantwortlich, nicht zutraf.
Die schmale und sehr blasse Angestellte in der Personalbaracke des Abstellplatzes verlor zwar nicht ihre gerade erst erstrahlte Freundlichkeit, als Salvatore ihr das Formular hinlegte und erklärte, er wolle seinen Motorroller abholen, doch schaute sie einigermaßen irritiert. Das lag weniger an den Reportern, die ihn begleitet hatten und draußen vor der Baracke warteten, als daran, dass Salvatore voller Vorfreude sagte, er wolle mit dem Roller gleich nach Hause fahren.
„Vielleicht kommen Sie am besten mal mit, Herr Krig“, entschied die Frau und hielt ihm die Tür auf. Die trockene Brise wehte ihr ihre dünnen, leicht fettigen Haare ins Gesicht und sie wurde wegen der Kameras etwas verlegen. Mittlerweile waren auch zwei Fernsehteams, die dem Bus gefolgt waren, auf dem Platz angekommen und hatten zu drehen begonnen. Dies mochte dazu beigetragen haben, dass sie kein Wort mit Salvatore sprach, während sie ihn über den staubigen Platz voller mehr oder weniger intakter Autos zu einer Fläche führte, die Salvatore von Weitem eher wie ein großer Haufen Alteisen erschien. Doch je näher sie herankamen, umso deutlicher erkannte er verrostete, verbogene alte Fahrräder, Mofas ohne Vorder- oder Hinterrad, ineinandergeschobene, mit Staub bedeckte Motorräder und einige Motorroller, die nicht so aussahen, als interessiere sich ihr Besitzer auch nur annähernd noch so für sie wie Salvatore für seinen guten, alten Gefährten, der aber hier nirgends zu sehen war. Er schaute die Abstellplatzangestellte erwartungsvoll an:
„Und wo steht mein Roller?“
Nun bekam ihr Lächeln unverkennbar mitleidige Züge. Er hatte „steht“ gesagt, und sie wusste sich nicht anders zu helfen, als mit dem Kopf zu schütteln, wie ein Arzt mit dem Kopf schüttelt, wenn ihn ein Angehöriger des gerade Verstorbenen fragend ansieht – tut mir leid, ich konnte nichts mehr für ihn tun. Dazu zeigte sie mit dem Finger in Richtung des Schrottberges, von dem sich Salvatore gerade abgewandt hatte. Jetzt sah Salvatore seinen Roller, vielmehr das, was sein Roller sein musste, gewesen sein musste. Und mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er ja einen Unfall gehabt hatte, einen schweren Unfall. Nicht nur er selbst, sondern natürlich auch sein Motorroller, wie hatte er das bloß vergessen können? Und was er dort sah, erinnerte ihn auch wieder daran, welcher Art dieser Unfall gewesen war. Auf dem Boden zwischen lauter anderen Unfallwracks lag sein Roller, die Lenkung verdreht, der Spiegel abgebrochen, der Vorderreifen von der Felge gerutscht, die Seitenverkleidung komplett eingedrückt und zerkratzt, der Ständer verbogen, der Sitz fast komplett abgerissen. Doch das alles war selbst für Salvatore, der seinen Motorroller aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können, kaum zu erkennen, denn sein Gefährt war nach dem Unfall von der Polizei zwar vor Souvenirjägern in Sicherheit gebracht worden, aber gesäubert hatte ihn niemand. So waren auf dem Abstellplatz dicke Klumpen Blut und Innereien des Wals wochenlang an dem Roller verwest und in der Sonne festgebacken. Überall auf dem Blech, unter dem zerrissenen Sitz, zwischen den Rädern und den Schutzblechen, im Motorraum am Hinterrad, auf den Handgriffen und sogar in dem zerschmetterten Scheinwerfer über dem vorderen Schutzblech, kein Fleck auf seinem Roller war ohne verwestes, von der Sonne und der Seeluft eingebranntes Blut und Gewebe. Niemand auf der Welt würde diesen Roller je wieder instand setzen können. Zum ersten Mal seit jenem Morgen vor vielen Wochen verstand Salvatore, dass er eigentlich einen tödlichen Unfall gehabt hatte.
Die Reporter ließen ihn in Frieden, nachdem sie die Szene aus einiger Entfernung gefilmt, fotografiert und beobachtet hatten. Tief verstört verließ er den Abstellplatz und wanderte allein die Straße hinunter Richtung Innenstadt, während die Berichterstatter zu ihren Redaktionen hetzten und die erschütternde Szene für die Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser aufbereiteten. Erst am späten Nachmittag kam Salvatore wieder in seiner Wohnung an. Die Reporter, die vor dem Haus auf ihn warteten, ignorierte er, und sie machten nur ein paar Fotos und Fernsehaufnahmen davon, wie er das Haus betrat. Er hatte niemanden unterwegs angesehen, war niemandem aufgefallen, hatte die ganze Zeit zu ergründen versucht, was er doch nie würde ergründen können. Immerhin eines wusste er, als er seine Wohnungstür hinter sich schloss, und das gab ihm tatsächlich einigen Halt und für den nächsten Tag eine wichtige Aufgabe: Er brauchte dringend einen neuen Motorroller.
Auch wenn Salvatore weder ein Fernsehgerät besaß noch jemals eine Zeitung gekauft hatte, hielt er sich doch aus langer Gewohnheit in gewissem Umfang informiert über die Geschehnisse in Bovnik und auf der Welt. Auf einem Bord zwischen seiner Kochnische und seinem Wohnraum stand ein Transistorradio, das er morgens nach dem Aufstehen einschaltete und nur wieder ausschaltete, wenn er schlafen ging oder die Wohnung verließ. Meist spielte der eingestellte Bovniker Sender leichte, etwas altmodische Unterhaltungsmusik, aber zur vollen Stunde auch Nachrichten, die Salvatore mal aufmerksam verfolgte, mal überhörte, weil er gerade etwas anderes zu tun hatte. Ihm war klar, dass die Nachrichten aller Bovniker Sender pure Propaganda verbreiteten, aber das störte ihn nicht. Welchen Sender auf der von Rissen durchzogenen Skala seines Radios hätte er denn einstellen können, ohne auf Propaganda irgendeiner Seite zu stoßen? Die „Informationen“ dieses Senders konnte er einschätzen und sich seinen Teil dabei denken, aber eigentlich interessierte ihn nicht sonderlich, was da draußen vorging. Im Krankenhaus hatte er denselben Sender gehört, nachdem er um ein kleines Radio gebeten hatte, dem er mit einem Knopf-Ohrhörer bequem im Bett lauschen konnte. Dort hatte er auch zum ersten Mal seinen Namen in den Nachrichten zu hören bekommen, was ihn im ersten Moment erschreckte, obwohl ihn die Schwestern auf diesen Moment vorbereitet hatten. Doch ein, zwei Sätze in den Radionachrichten vermittelten keine Vorstellung davon, welche Präsenz Salvatore in den anderen populären Medien genoss, vor allem in den Boulevardzeitungen und dem Fernsehen. Er war nicht dumm, er konnte sich denken, dass die vielen Reporter, die am ersten Morgen nach seiner Heimkehr vor seinem Haus gestanden hatten, ihn nicht zum Spaß fotografiert und gefilmt hatten. Irgendwohin mussten die ganzen Bilder gelangt sein, sie waren den Bovnikern am selben Tag im Fernsehen und an diesem, dem folgenden Morgen, in den Zeitungen präsentiert worden. Der Gedanke war Salvatore nicht besonders angenehm. Doch er wollte sich davon nicht von seiner zugleich traurigen wie aufregenden Aufgabe abbringen lassen, seinen geliebten alten Motorroller durch einen neuen zu ersetzen. An diesem Morgen hatte er es bislang vermieden, aus dem Fenster zu schauen. Solange er keine Reporter da draußen sah, konnte er sich einbilden, es seien keine vorhanden. Das Radio hatte er ausgeschaltet, als in den Nachrichten über seinen Besuch auf dem Abstellplatz berichtet worden war. Die Stille, die seitdem in seiner Wohnung herrschte, war ungewohnt und machte ihn nervös. Der Lärm, der nun von der Straße zu ihm hinauf drang, konnte aber nicht der gewöhnliche Straßenlärm sein. Auch ein Gefecht zwischen Soldaten schied aus, denn es waren keine Waffen zu hören. Nein, da schien ein heftiger Streit vor sich zu gehen, und wenn er sich nicht verhörte, stritten sich dort irgendwelche Leute um ihn, um Salvatore. Er näherte sich der Tür zum Balkon, den er seit vielen Jahren nicht mehr benutzt hatte, weil die Schießereien und Granateneinschläge, die zu jeder Zeit unvermittelt hereinbrechen konnten, dem Balkon jeden Sinn nahmen. Das zertrümmerte Schaukelpferd, das dort zwischen Schutt und Granatsplittern verrottete, hatte irgendein entnervter Hausbewohner vor Jahren von einem der oberen Stockwerke nach einer Gruppe Soldaten geworfen, die diese Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen wollten und das Pferd zurückwarfen. Sie schafften es allerdings nur bis zu Salvatores Balkon im ersten Stock, und zwar erst beim dritten Versuch. Wenigstens war Salvatores Balkontür dabei nicht zu Bruch gegangen. Ob es Soldaten aus Bovnik oder aus Thunak gewesen waren, Salvatore wusste es nicht. Es musste aber schon in der Zeit der neuen Kriegführung gewesen sein, denn früher hätten die Soldaten nach einem derartigen „Angriff“ das ganze Haus in Schutt und Asche gelegt, „den ganzen Laden vollgerotzt“, wie sie sich ausdrückten. Die Beschimpfungen, die damals vor dem Balkon ausgestoßen worden waren, hatten ähnlich geklungen wie jene, welche er jetzt unter dem Balkon vernahm. Er reckte den Hals näher an die Gardine und traute seinen Augen nicht. Noch mehr Reporter als gestern standen dort unten. Viel mehr. Und vor den Reportern standen fünf nagelneue Motorroller, deren Besitzer – allesamt Bovniker Motorrollerhändler – sich darum stritten, wer von ihnen Salvatore seinen besten, schönsten und modernsten Roller schenken durfte.
Der Streit erstarb in dem Moment, als Salvatore vor dem Haus erschien, und nachdem der berühmteste Bovniker den freundlichen Motorrollerhändlern für ihre Großzügigkeit gedankt, ihre Angebote höflich abgelehnt hatte und in respektvoller Begleitung einiger Reporter seiner Wege gegangen war, schoben die Händler in eisiger Stimmung ihre Schmuckstücke auf die Transportanhänger zurück, mit denen sie sie hergeschafft hatten. Wie schnell sich die versöhnliche Stimmung vor seinem Haus in Luft auflöste, entging Salvatore, der zwar nichts lieber getan hätte, als sich einfach auf einen der Roller zu setzen und abzuhauen, aber irgendwie ahnte, seine Chancen auf Privatsphäre auf zwei Rädern würden größer sein, wenn er nicht auch noch als Reklamefigur durch Bovnik zöge. Tatsächlich wollte er auch deswegen möglichst schnell ein Ersatzfahrzeug. Auf einem Motorroller konnte er den Reportern bestimmt entkommen und seine gewohnte Einsamkeit genießen.
„Nein, einsitzige Modelle gibts nicht mehr, Herr Krig. Tut mir leid“, sagte Leroy, Salvatores Werkstattbesitzer. „Auch keine Gebrauchten.“
Die kleine, schnapsdunstige Zweiradwerkstatt, die Salvatore seit Ewigkeiten aufsuchte, wenn seinem Roller etwas fehlte, drohte jeden Moment zu platzen. Die Presse wollte sich einen weiteren berührenden Motorroller-Moment mit ihrem Star auf keinen Fall entgehen lassen und ihre Präsenz wirkte auf den ölverschmierten, zahnlosen Mechaniker einigermaßen einschüchternd. Dass sein Stammkunde jetzt ein so bekannter Mann war, wusste der trinkfeste Kerl schon lange und es war ihm egal. Aber jetzt, wo er Salvatore gegenüberstand, musste er die ganze Zeit grinsen. Salvatore bemerkte die Verunsicherung, denn er hatte Leroy noch niemals anders als mürrisch erlebt, und „mürrisch“ war in diesem Fall eine ausgesprochen wohlwollende Umschreibung. Er hatte seinen alten Roller vor vielen Jahren bei Leroy gekauft und war immer wieder zu ihm gegangen, gerade weil er nie mehr sprach als das unbedingt Notwendige – meistens nicht einmal das. Es war sogar schon mehrmals vorgekommen, dass kein einziges Wort gewechselt wurde, wenn Salvatore seinen Roller in Leroys Werkstatt schob. Der Mechaniker schwankte dann einmal um das Gefährt herum, tippte mit seinem ölschwarzen Finger auf den Tag seines großen Jahres-Wandkalenders, an dem Salvatore den Roller wieder würde abholen können und fuhr mit der Arbeit fort, bei der sein Kunde ihn unterbrochen hatte – meistens dem Leeren einer Flasche Selbstgebranntem. Der Kalender wies zahllose ölige Fingerabdrücke auf, sodass Salvatore sich niemals besonders unfreundlich behandelt fühlte, denn offensichtlich sprang Leroy mit allen Kunden so um. Und jetzt redete er mit Salvatore, nannte ihn „Herr Krig“ und lächelte. Und versuchte ihm beizubringen, dass er ihm keinen Motorroller verkaufen könne, der, wie sein Alter, nur einen einzigen Sitz hatte.
„Sitzbank ist schon lange Mode“, sagte Leroy, was ohne Zweifel eine Erklärung darstellte. Noch nie hatte Leroy Salvatore irgendetwas erklärt. Er hatte den Roller repariert und gewartet und das warʼs.
„Der hier ist fahrbereit.“ Der sanfte Druck zur Kaufentscheidung entsprang mehr der ungewohnten Situation mit den ganzen Reportern, die stumm, aber konzentriert filmten, knipsten, Mikrofone in Salvatores Richtung reckten, als dem gewohnten Verhalten Leroys. Da der bereitstehende Motorroller sowieso der einzige war, den der Werkstattbesitzer gerade zu verkaufen hatte, suchte Salvatore – auch er vergaß alte Gewohnheiten – kurz entschlossen nach seinem Portemonnaie, das sich wie immer in seiner linken Jackeninnentasche befand, und öffnete es.
„Sechsfünfzig“, brummte Leroy, Salvatore nahm sechs Hunderter und einen Fünfziger aus seinem Geldbeutel und tauchte sie in die dunkle Ölgrube von Leroys rechter Hand. Ein Blitzlichtgewitter konservierte den Bezahlvorgang mit nachfolgender Schlüsselübergabe für die Hauptmeldung der Bovniker Zeitungen des folgenden Tages.
Dass der seltsame, eigentlich völlig unbedeutende Salvatore Krig die Aufmerksamkeit der Bovniker derart auf sich zog, auch wenn er das gar nicht beabsichtigte, wurde natürlich auch von der politischen Führung registriert. Während der Wochen seit seinem Unfall, der in der Tat den von Mme. Altimer erhofften Effekt gehabt und die Bovniker von der wiederholten Blamage ihrer Regierung abgelenkt hatte, nutzte der an Hysterie grenzende Wissensdurst der Bevölkerung bezüglich des Wal-Opfers der Führung durchaus, denn sie konnte sich ohne großes Aufsehen von der Demütigung erholen, jene Geschäfte, die keine Öffentlichkeit vertrugen, konsolidieren und die Fahndung nach der Attentäterin und ihrer Organisation ausweiten. Doch allmählich sah es so aus, als interessierten sich die Bovniker überhaupt nicht mehr für die Sache, ihre Sache, den Krieg, die Bedrohung durch Thunak, die Unabhängigkeit, und die Regierung hatte Salvatore deshalb schon längst unter Beobachtung gestellt. Sein Rollerkauf wurde daher nicht nur von Vertretern der Presse dokumentiert, der eine oder andere Reporter lieferte sein Material nicht nur bei seiner Redaktion ab, sondern auch im Vorzimmer von Mme. Altimer.
Salvatores Kalkül ging auf. Er musste mit seinem neu erstandenen Motorroller nur in ein paar schmale Gassen biegen, und schon hatte er die wenigen Reporter abgehängt, die so vorausschauend gewesen waren, dass sie versuchten, ihn mit Autos zu verfolgen. Er hielt bei laufendem Motor an, um sich zu vergewissern, dass er ungestört weiterfahren konnte, blickte durch die Gasse zurück und wartete ab. Da kam niemand. Erleichtert wandte er sich wieder nach vorn und wollte Gas geben, als sich einige Soldaten direkt vor ihn auf der Straße hinwarfen und mit ihren Maschinenpistolen zwischen zwei Häuser schräg gegenüber feuerten, was sie konnten. Salvatore seufzte, stellte den Motor ab – zurück durch die Gasse und der Presse in die Arme wollte er nun doch nicht – und hielt sich die Ohren zu. Es würde laut werden, das wusste er aus Erfahrung, noch lauter, als es bereits war. Die meisten der Leute, die gerade vorbeikamen oder vor dem Café an der Straßenecke ein Stück weiter saßen, taten dasselbe. Kaum jemand entfernte sich oder beeilte sich gar, wegzukommen. Einer der Soldaten rief den Passanten zu, als ob er sie warnen wollte, was natürlich überflüssig war, ihn aber gut aussehen ließ:
„Achtung, Heckenschützen! Diese Thunak-Schweine, schleichen sich immer wieder in die Stadt!“
Dann lachte er. „Fick dich! Thunakaka!“
Er warf eine Handgranate, die irgendwo zwischen den Häusern mit dem bekannten Summen und Vibrieren explodierte. Einer der anderen Soldaten raunzte ihn an:
„Scheiße, Madina! Spiel nicht wieder den Alleinunterhalter!“
In dem Moment wurde Soldat Madina von einem Schuss in Kiefer und Hals getroffen, seine untere Gesichtshälfte flog quer über die Straße und blieb im Rinnstein liegen. Während die anderen auf den Schützen feuerten, kroch Madina auf einem Schwall seines eigenen Blutes hinter seinem Kiefer her und brach vor Salvatore zusammen. Schon wieder Blut auf dem Motorroller, dachte Salvatore.
„Scheiße. Das hat er davon!“, brüllte der Erste und feuerte weiter, während sich der Sanitäter des Trupps um den Sterbenden kümmerte. Sanitäter waren die einzigen Militärs, die nicht signiert wurden und deshalb ihrer Arbeit ungestört nachgehen konnten, aber natürlich auch nicht bewaffnet sein durften. Der wütende Soldat jedoch schien unter den „Zuschauern“ einen Kollegen entdeckt zu haben:
„He, Brunetzky, Vollidiot auf Urlaub, was sagt man dazu!“ Seine schießenden Kameraden grüßten den Kollegen Brunetzky mit der üblichen Geste, die für Soldaten reserviert war, welche sich gerade außer Dienst befanden, dem hochgestreckten Daumen. Der grüßte vom Caféhaustisch zurück, offensichtlich war es ihm unangenehm, dass ihn seine Arbeit einholte, aber er war nun mal nicht im Dienst und wollte seinen freien Tag genießen. Also nahm er einen Finger aus dem Ohr und hob den Daumen. Dann steckte er den Finger wieder zurück ins Ohr. Lieber wäre er gegangen.
„Dieser Mongo hätte in einer halben Stunde Feierabend gehabt!“, schrie der Anführer zu Brunetzky hinüber, der ihn nicht verstehen konnte, feuerte eine weitere Salve und duckte sich wieder in seine Deckung, einen Verteilerkasten. „Aber immer sein dummes Maul aufreißen!“ Er schien zu kapieren, dass seine letzte Bemerkung vielleicht doch etwas unpassend gewesen war, angesichts von Madinas Unterkiefer, der ein paar Meter weiter im Rinnstein lag, und wechselte, immer zwischen Feuerstößen und Nachladen, das Thema: „Wann darfst du wieder?“
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