Kitabı oku: «Funkensommer», sayfa 2

Yazı tipi:

Finn liegt neben mir unter der Birke. Seine Augen sind geschlossen. Schläft er? Sein Atem geht gleichmäßig und riecht nach Alkohol. Ich beuge mich über ihn und betrachte sein Gesicht. Sein Mund ist leicht geöffnet. Die nassen Haare kleben an der Stirn. Dazwischen spiegeln sich kleine Wassertropfen im Sonnenlicht.

«Lass ihn schlafen!», ruft Tobias, als er mit Jelly aus dem Wasser kommt. Händchen haltend. Jelly lächelt versonnen.

«Der hat gestern noch ziemlich viel gebechert», sagt Tobias und schüttelt sich das Wasser aus den schwarzen Haaren.

Jelly wirft Tobias einen fragenden Blick zu. «Aber Finn ist doch vom Fest so früh verschwunden ...»

«Ja, eben», meint Tobias. «Zuerst lässt derKerl uns einfach stehen. Und dann taucht er Stunden später wieder auf und knallt sich ein Whiskey-Red Bull nach dem anderen rein. Ohne ein Wort zu sagen.» Tobias zuckt mit den Schultern. «Keine Ahnung, was gestern mit ihm los war.»

Also ist Finn zum Fest zurück, überlege ich still. Und weil er dort so viel getrunken hat, ist er nun völlig erledigt. Deshalb habe ich ihn auf dem Handy nicht erreichen können ...

Und schon ist sie wieder da, die quälende Frage, die sich langsam in meinem Hirn ausbreitet und es erlahmen lässt. Diese eine Frage: War es wegen der Schweinehand?

Gedanklich spule ich zum Anfang zurück, während Finn neben mir seinen Rausch ausschläft. Von Weitem höre ich Jellys helles Lachen. Tobias scheint ziemlich verrückt nach ihr zu sein. Und sie nach ihm. Wie die beiden da so auf der Decke liegen und herumknutschen ... als ob sie sich seit einer Ewigkeit kennen würden. Dabei kennen sie einander erst seit ein paar Tagen. Durch Finn. Und mich. Und jetzt haben sie den größten Spaß miteinander, und alles an ihnen sieht leicht und unbeschwert aus. Typisch Jelly! Sie ist wie eine von diesen geleeartigen Bohnen, die es in allerlei Farben und Geschmacksrichtungen gibt. Die sind außen süß und innen auch. Und immer für eine Überraschung gut. Und so ist auch Jellena. Wie eine Jelly-Bean.

Bei mir hingegen ist alles anders. Viel schwieriger.

Dass Finn mich vor ein paar Wochen an der Bushaltestelle angesprochen hat, wundert mich immer noch. Zuerst dachte ich, er wolle sich nach Lena erkundigen. Wie es ansonsten der Fall ist, wenn mich Jungs von der Schule ansprechen. Weil sie durch mich an Lena herankommen wollen. Oder an Jelly. Manchmal holt Jelly mich nämlich von der Schule ab, wenn wir in die Stadt ins Kino wollen oder shoppen gehen. Da können sich die Jungs das Gaffen auch nicht verkneifen, wenn Jelly mich abholt.

Bei Finn aber war das anders. Ich kannte ihn nur flüchtig. Ich wusste, dass er zwei Schulklassen über mir ist und in die 7e geht. Mehr nicht. Man kann nicht alle kennen. Ist ja eine Riesenschule. Über tausend Schüler mindestens. Und trotzdem ist er mir aufgefallen. Mit seiner ruhigen Art. Und dem klaren Blick. Dass ich ihm aber auch aufgefallen bin ...?

Jedenfalls stand ich an dem Tag an der Haltestelle und wartete auf den letzten Bus des Tages, der die große Runde um den See drehen und im Dorf halten würde. Die meisten Schüler waren längst zu Hause. Fast alle wohnen in der Stadt. Oder ihre Busverbindung ist günstiger als die nach Tieglitz. Irgendwann hörte ich, wie das schwere Schultor ins Schloss fiel. Und als ich mich fragte, wer um diese Zeit in der Schule noch herumgeistern würde, stand er plötzlich vor mir: Finn. Und lächelte mich an. Wir quatschten eine Weile. Ganz locker. Einfach so. Dies und das. Über die Schule. Und über die Lehrer. Welche cool und welche uncool sind. Dann kam der Bus. Tieglitzer Moorsee – Große Runde stand in roten Lettern auf dem Anzeigenblatt.

«Das ist meiner», sagte ich und schulterte meine Tasche. Finns Antwort darauf überraschte mich. «Meiner auch», sagte er und ließ mir den Vortritt, als er mit mir in den Bus einstieg.

Erst einige Zeit später begriff ich, wer Finn überhaupt war. Nämlich der Sohn von Raphaels Chef. Also der Sohn vom neuen Elektrocenterbesitzer, dessen Familie erst kürzlich hierher gezogen ist. Ab da fing die Sache an kompliziert zu werden.

Wieder höre ich, wie Jelly lacht. Ganz dicht neben mir. «He, wo bist du denn mit deinen Gedanken», flötet sie und stupst mich an. «Wir gehen zum Imbissstand und holen uns was zu trinken. Kommst du mit?»

Ich schüttle den Kopf. Da beginnt sich neben mir etwas zu regen. Es ist Finn, der zum Leben erwacht. «Habt Erbarmen und bringt dem halb Verdursteten eine Cola mit, ja?», krächzt er mit belegter Stimme. «Oder noch besser, zwei!» Er kramt einen Fünfeuroschein aus der Hosentasche und drückt ihn Tobias in die Hand.

«Geht klar, Alter», grinst Tobias und macht sich mit Jellena in Richtung Imbissbude davon. Händchen haltend.

Als die beiden im Unterholz verschwinden, dreht sich Finn auf meine Seite. Dabei streift seine Hand mein Knie. Ein Schauer rieselt mir über den Rücken.

«Wie geht’s?»

«Gut», sage ich.

«Und Brummer?»

Oh! Er hat es nicht vergessen! Tomatensuppenfarbe schießt mir ins Gesicht. «Auch gut. Glaube ich zumindest. Ich war heute noch nicht im Stall!»

Finn sieht mich mit gespielt entgeisterter Miene an. «Was?», raunt er heiser. «Du kannst unseren Brummer doch nicht so vernachlässigen. Wofür haben wir ihm schließlich das Leben gerettet?»

«Wegen zukünftiger Schnitzel?», rutscht es mir heraus. Finn aber lacht mich an und drückt mir einen sanften Kuss auf die Lippen. Mein Herz schlägt einen Purzelbaum und alle Zweifel sind mit einem Mal wie weggeblasen.

Als ich wieder die Augen aufschlage, fragt er: «Kommst du mit? Ich brauche Abkühlung.» Er greift nach meiner Hand und zieht mich in Richtung Seeufer. Als wir auf den Felsen klettern, halten wir uns immer noch an den Händen. So springen wir auch. Gemeinsam. Händchen haltend ins tiefe schwarze Loch.

Als wir auftauchen, lacht Finn: «Außer dir kenne ich kein einziges Mädchen, das sich traut, von diesem Felsen zu springen!» Er zieht mich zu sich rüber und schaut mir dabei ruhig in die Augen. «Ganz schön cool, finde ich!»

«Hab ich bei meinem Bruder gelernt. Mehr oder weniger freiwillig.» Ich muss ebenfalls lachen. «Irgendwann bin ich dann von selbst gesprungen. Ab da fand ich es auch gut. Vorher nicht so ...»

Finn legt seinen Arm um mich. Dann küssen wir uns noch einmal. Und noch einmal. Und erst als wir ganz schrumpelige Fingerspitzen haben, beschließen wir, aus dem Wasser zu gehen.

Inzwischen sind Tobias und Jelly mit zwei eiskalten Colas zurückgekommen. Finn drückt mir eine davon in die Hand. Dabei sieht mich Jelly triumphierend an. «Also doch», flüstert sie mir ins Ohr.

Ich runzle die Stirn und weiß nicht, was ich sagen soll. Der Nachmittag ist einfach zu schön! Zu schön, um kaputt gemacht zu werden. Nur damit ich die Fassade aufrechterhalten kann. Meine Fassade. Und während wir am Seeufer sitzen, Jelly mit Tobias, und ich mit Finn, verschwende ich nur flüchtig einen Gedanken daran, was wäre, wenn jeder wüsste, dass ich in Finn verliebt bin. Denn ich, Hannah Seibner, bin in Finn Delorn verliebt. Das ist so klar wie Papas Birnenmost. So klar wie eine seiner beschissenen Bauernregeln, die besagt: Ist der Johannihimmel hell und klar, wird es wohl ein heißes Jahr. Und ist der Himmel über unseren Köpfen nicht gerade hell und klar, und vor allem blau? Ja, blau ist er. So blau wie selten.

Auch nach zwei Wochen will die Hitzewelle nicht nachlassen. Die Getreidefelder sind mittlerweile zu goldgelben Teppichen herangereift. Daneben strotzen grüne Maisäcker. Wie ein buntes Mosaik sieht das aus. Besonders, wenn der Bus an ihnen vorüberzieht. Gelb, Grün, Gelb, Grün ... und hie und da ein Sprenkel Rot von den Mohnblumen, die am Straßenrand wachsen.

Die Hitze im Bus ist unerträglich. Auch Lena neben mir schwitzt. Ihre Locken kleben an der Stirn und lassen Lena irgendwie hässlich aussehen. Ein ungewohntes Bild. Lena ist ansonsten immer schön. Immer perfekt. Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, wischt sie sich über die Stirn und versucht, Ordnung in ihre Frisur zu bringen. «Wie gut, dass wir nur noch ein paar Tage Schule haben», stöhnt sie, und fängt an, am Fenster herumzunesteln. Vergeblich versucht sie, es einen Spaltbreit zu öffnen. «In einer Woche sitze ich schon auf Ibiza und trinke Cocktails am Strand.» Sie lacht kurz auf. Als sie aber merkt, dass sich das Fenster nicht öffnen lässt, verstummt sie. Griesgrämig wendet sie sich ab und zu mir hin. «Und was wirst du so in den Ferien machen?», will sie wissen.

«Was schon», murmle ich. «Bei der Ernte helfen und so. Was halt im Sommer auf einem Hof so anfällt. Da ist nix mit Urlaub.»

Lena verzieht ihren himbeerroten Glitzermund zu einem versöhnlichen Lächeln. «Ach ja, stimmt. Sorry, habe ich ganz vergessen.» Eilig hängt sie dran: «Dann schreibe ich dir eine Karte. Eine ganz schöne. Mit dem Meer darauf. Versprochen!»

«Super», antworte ich. Zum Glück biegt der Bus jetzt in die Dorfstraße ein. Schon tauchen die ersten Häuser auf. Als ich meine Tasche packe, sagt Lena noch: «Und Finn, dem schreibe ich auch eine.» Sie lächelt wieder. Dieses Mal richtig. «Ich hätte ihn noch so gerne vor den Ferien gesehen. Wie blöd, dass die Siebtklässler ausgerechnet in der letzten Schulwoche auf Klassenfahrt sind.»

Endlich öffnet sich die Tür. Ich kann die Hitze im Bus kaum noch ertragen. Mit einem Satz springe ich ins Freie. Meine Sandalen klappern auf dem Pflaster. Schon ist Lena hinter mir. «Vielleicht», sagt sie, «lernt Finn in der Zwischenzeit jemand anders kennen - während der Ferien. Da sollte ich vorsorgen ...»

Nervös fummele ich an meinem Fahrradschloss herum. «Du bist doch gar nicht mit ihm zusammen», sage ich leise und atme auf, als das Schloss nachgibt.

Lena dreht sich zu mir um. «Das ist nur eine Frage der Zeit», sagt sie und wirft gekonnt ihre goldene Lockenmähne in den Nacken. «Also, dann. Bis morgen!»

«Ja, bis morgen», flüstere ich, trete kräftig in die Pedale und bin froh, als Lena hinter mir am Horizont kleiner und kleiner wird.

Wie von selbst lenkt sich mein Fahrrad dann am Dorfbrunnen vorbei, die schmale Kirchengasse hinunter, in der es angenehm kühl ist, bis hin zum Friseurladen.

Fast täglich nehme ich diesen Weg, obwohl er für mich ein Umweg ist. Aber das macht mir nichts. Denn bei Jelly und Karolina ist es einfach viel gemütlicher als bei uns zu Hause. Überhaupt in letzter Zeit. Schon kommt das kleine Häuschen näher, und ich bremse ab. Karos Frisierstube steht über der Tür. Darunter ein kleines Schild: Mittags geschlossen.

Vorsichtig bugsiere ich das Rad an den Mülltonnen vorbei, stelle es im Hinterhof ab und hänge den Rucksack über die Lenkstange. Als ich die Tür öffne, höre ich laute Musik und schallendes Gelächter.

«Hallo?», rufe ich nach oben.

Jelly beugt ihre blonde Mähne über das Treppengeländer. «Hallo du! Hast du Hunger? Mama macht Spaghetti!»

Ich schüttle den Kopf. «Ich wollte nur kurz vorbeischauen», antworte ich, streife die Sandalen ab und laufe barfuß die Holztreppe hoch. In der Küche steht Karolina, Jellys Mutter, am Herd und singt den aktuellen Sommerhit mit, der aus dem Radio dröhnt. Ich nicke ihr kurz zu, worauf sie sich vom Kochtopf abwendet und auf mich zukommt. Sanft zupft sie an meinen Haaren. «Dein Pony nachgeschnitten gehört», meint sie und drückt mir ein Küsschen auf die Wange. Noch immer hört man ihr an, dass sie nicht von hier stammt.

Bei Jelly ist das anders. Sie hatte nur anfangs im Kindergarten Schwierigkeiten mit unserer Sprache gehabt. Nach einiger Zeit aber quatschte sie genauso wie wir anderen Kinder aus dem Dorf. Bei Karolina aber hört man es. Auch nach so langer Zeit noch. «Komm doch vorbei mal. Am besten ist abends. Dann machen wir Mädelsabend!», sagt sie.

Ich lächle ihr zu und atme den Duft ein, der Jellys Mutter umgibt. Karolina riecht nach Haarfärbemittel und Kräutershampoo. Und auch ein bisschen nach Knoblauch. Immer. Diesen Duft mag ich so gerne. Er ist anders als der Duft von zu Hause. Nicht besser oder schlechter. Einfach anders. Und trotzdem vertraut.

«Gerne», sage ich, «aber nicht heute.»

Daraufhin fängt Karolina laut zu lachen an. «Das war klar! Dich mit List muss man herkriegen, um an dir herumwerkeln zu dürfen. Du bist und bleibst eben Naturschönheit.» Dann wendet sie sich wieder den Nudeln zu.

Ich lasse mich neben Jelly auf die Couch fallen und flüstere: «Kann ich dir was sagen?»

Jelly nickt. «Ich muss sowieso die Tomaten auf dem Balkon gießen. Diese Woche bin ich dran ...» Sie verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Als wir auf dem Balkon sind, greift sie nach der Kanne und fängt an, die Pflänzchen zu wässern. «Und? Was gibt’s?», fragt sie neugierig.

«Ich weiß auch nicht», seufze ich und lasse mich auf die Liege plumpsen. Ein Sonnenschirm spendet mir Schatten. Richtig gemütlich ist das. «Da kann mir Ibiza gestohlen bleiben», denke ich laut.

Jelly taucht die Gießkanne ins Regenfass und sieht mich verwundert an. «Hä? Was meinst du?»

«Ach, es ist wegen Lena», rücke ich schließlich heraus und erzähle, was vorhin im Bus vorgefallen ist.

Jelly grinst. Wie auf Kommando wandert ihre linke Augenbraue hoch. «Du bist eifersüchtig.»

«Blödsinn! Auf was soll ich eifersüchtig sein ...»

Sie stellt die Gießkanne zur Seite und quetscht sich zu mir auf die Liege. «Ich frage mich die ganze Zeit, warum du mir nichts davon erzählen willst. Von dir und Finn, meine ich. Nach dem Nachmittag am See kannst du mir nichts mehr vormachen. Ich hab genau gesehen, wie ihr euch angeschaut habt!»

«Wie denn?»

«Na, so», sagt Jelly und beugt sich über mich. Dabei blickt sie mir tief in die Augen und lächelt mich dümmlich an.

«Du bist blöd», sage ich und muss lachen. «So habe ich bestimmt nicht ausgeschaut!»

«Aber Finn.» Sie nickt. «Und wie. Der ist so was von vernarrt in dich!»

«Und warum meldet er sich dann nicht?», rutscht es mir heraus.

Jellys Grinsen wird noch breiter. «Hat er nicht? Seit Sonntag nicht?»

«Doch», gebe ich brummend zu. «Sonntagabend. Aber nur kurz. Wollte Tschüss sagen, weil sie ja diese Woche auf Klassenfahrt sind.»

«Und warum», fragt sie, «machst du dann so ein Gesicht? Das ist doch gut!»

Ich seufze. Schon wieder. «Ich weiß auch nicht. Lenas Bemerkung vorhin war einfach scheußlich. Ob sie wirklich in ihn verknallt ist? So richtig, meine ich?»

Jellena fängt an, mit ihren Haaren zu spielen. «Glaub ich nicht», sagt sie schließlich. «Du weißt ja, wie Goldlöckchen ist. Sie ist Papas Liebling. Und wenn der sich eingebildet hat, dass der Sohn vom neuen Elektrocenterbesitzer eine gute Partie ist, dann findet sie es auch. So ist das wahrscheinlich, wenn man einen Bürgermeister zum Vater hat ...» Sie dreht ihren Kopf zur Seite und sieht mich an. «Und? Bist du in ihn verknallt? So richtig, meine ich?»

Ich sehe meiner Freundin in ihre blauen Augen. Kleine Sonnenpunkte spiegeln sich darin. So gerne würde ich ihr sagen, wie es in mir aussieht, aber ...

«... ich kann nicht», bringe ich schwach hervor.

«Wieso nicht?», fragt sie genervt. «Ist es wegen deinen Eltern? Glaubst du, dass sie durchdrehen, wenn du einen Freund hast? Du bist sechzehn. Wenn du mich fragst, bist du ohnehin schon überfällig!»

Ich schüttle den Kopf. «Nein, es ist nicht wegen Mama und Papa.»

Jellys Augen fangen plötzlich zu blitzen an. «Aber doch nicht wegen Raphael, oder?», ruft sie ungläubig. «Was hat dein Bruder mit der Sache zu tun? Dem kann es doch egal sein, welchen Freund du hast!!!»

«Pst!», zische ich. «Geht das nicht ein bisschen leiser? Oder willst du, dass es jeder hier im Dorf mitkriegt?»

Jelly sieht mich seltsam ausdruckslos an und sagt: «Das ist es also. Du willst mir nichts davon erzählen, weil du glaubst, ich könnte es weitertratschen!» Langsam steht sie von der Liege auf und dreht mir den Rücken zu. «Und ich dachte, du vertraust mir ...»

«Jelly...», flüstere ich.

Eine sprachlose Wand scheint sich inmitten der Julihitze zwischen uns aufzubauen, doch zum Glück kommt Karolina dazwischen.

«Hannah, deine Mama angerufen hat. Du hast wohl dein Handy unten in Rucksack gelassen. Sie sagt, heute kommt noch Mähdrescher und du musst helfen ...»

Hastig stehe ich von der Liege auf. «Ja, danke», rufe ich Karolina zu, die daraufhin wieder vom Balkon verschwindet.

Mein Blick wandert rüber zu Jelly. «Versteh doch ...»

Meine Freundin reagiert nicht.

«Jelly-Bean», bettle ich. «Sei nicht sauer!»

Immer noch keine Reaktion.

«Ich muss los», sage ich schließlich und verabschiede mich.

Als ich in die Pedale trete, ist es mittlerweile so heiß geworden, dass ich befürchte, der Asphalt könnte an den Rädern kleben bleiben. Mühsam kämpfe ich mich voran. Keine einzige Ähre bewegt sich auf den Getreidefeldern. Die Luft flirrt im Sonnenlicht. Und meine Tränen verdunsten, ehe sie die Nasenspitze erreicht haben.

Der Traktor steht auf dem abgedroschenen Feld. Ringsherum ist es heiß und staubig. Und gelb. Alles scheint heute gelb zu sein. Lenas Löckchen. Die Sonne. Unsere Felder. Der Mähdrescher. Die Wintergerste, die vom Inneren der Erntemaschine ausgespuckt und in den Kipper gefüllt wird. Sogar die Kappe von Hans, dem Mähdrescherfahrer, ist gelb. Als er zu mir herüberwinkt, sehe ich, wie mich die Kappe im Sonnenlicht angrinst. Nur Hans grinst nicht. Mürrischfuchtelt er mit der Hand. Voll, soll das bedeuten. Damit meint er den Kipper.

Ich nicke ihm zu. Der Mähdrescher heult auf und macht sich als überdimensionale Ameise an der nächsten Getreidereihe zu schaffen.

Ich weiß, was jetzt zu tun ist, und muss unwillkürlich an Papas heutige Bauernregel denken: Der Juli bringt die Sichel für Hans und für den Michel. Also für mich. Widerwillig atme ich die staubige Luft ein, die sich in der Traktorkabine gefangen hat, greife nach dem Zündschlüssel und drehe ihn um. Sogleich fängt der Motor zu ruckeln an. Ich lasse die Kupplung kommen und das Gefährt setzt sich langsam in Bewegung. Hintenan der sieben Tonnen schwere Kipper. Ob das gut geht?

«Bloß aufpassen», sage ich mir, als er zu schwanken beginnt. Der unebene Feldboden macht mir zu schaffen. Zum Glück ist die Straße schon in Sicht. Dort wird der Kipper nicht ganz so schlimm wackeln.

«Nur nicht zu viel einschlagen. Nur nicht zu viel Gas geben», pocht es in meinem Hirn, als sich die Feldausfahrt nähert. Meine Fingerknöchel sind schon ganz weiß vom krampfhaften Halten des Lenkrads. Im Kriechgang lenke ich das tonnenschwere Gefährt um die Kurve. Als die Traktorschnauze in Richtung Straße zeigt, atme ich auf. Nur noch ein kleines Stück, nur noch ein paar Meter. Geschafft. Ruhig rollt der Traktor auf dem Asphalt dahin. Jetzt kann nichts mehr passieren. Ich will schon einen Jubelschrei loslassen, da kommt Raphael in seinem Audi daher. Mit Lichthupe. Quietschend bleibt er neben mir stehen und kurbelt das Fenster einen Spaltbreit hinunter. Mehr traut er sich nicht, wegen des Staubs in der Luft.

«Wo bleibst du denn?», brüllt er aus dem Fensterschlitz. «Mama und Papa warten schon seit einer Ewigkeit auf dich. Du hältst die ganze Arbeit auf!»

Ich versuche Raphael zu ignorieren und ruckele weiter.

«Jetzt leg halt endlich den zweiten Gang ein», schreit mein Bruder. Dabei muss er sich den Hals verrenken, um aus dem Fensterspalt plärren zu können.

«Ich fahr ja schon», gebe ich zurück, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. «Was willst du überhaupt? Weiß Mama Bescheid, dass du hier bist? Auf dem Feld, meine ich?»

Raphael wirft mir einen gefährlichen Blick zu. «Halt bloß den Mund und fahr endlich», knurrt er. Dann kurbelt er die Fensterscheibe hoch und rast im Affentempo davon. Erst als er außer Sichtweite ist, schalte ich einen Gang höher. Keine Ahnung, was mit meinem Bruder schon wieder los ist. Auf alle Fälle hat er einen Vollknall. Dabei ist Raphael nicht immer so gewesen. Er wurde erst nach dem Anfall so. Das passierte ungefähr vor einem Jahr. Da war es auch heiß. Die Sommerferien standen unmittelbar bevor. Es war die Zeit der Getreideernte. So wie heute. Nur dass Raphael damals auf dem Traktor saß und die Gerstenfuhren nach Hause brachte. Und nicht ich.

Doch dann lag er auf einmal auf dem Stoppelfeld. Zwischen all dem Stroh. Sein Mund begann sich ganz komisch aufzureißen und er verdrehte dabei die Augen. Speichel lief aus seinem Mund. Der Körper zuckte wie verrückt. Und mein Bruder, der noch vor wenigen Augenblicken neben dem Traktor gestanden und mit Hans gealbert hatte, verwandelte sich mit einem Schlag in einen Fremden. Ich glaube, nicht nur ich spürte das. Auch Hans, den Mähdrescherfahrer, überkam dieses Gefühl der Ohnmacht, da niemand in dem Augenblick wusste, was zu tun war. Nicht einmal Mama oder Papa. Erst als sich Raphaels Körper entkrampfte und er ganz weiß im Gesicht wurde, brach Hektik aus. Während das Heulen der Sirenen die Ohnmacht zerriss.

Einige Zeit später, im Krankenhaus, erfuhren wir, dass Raphael einen epileptischen Anfall gehabt hatte. Grand mal nennt man so etwas. Mit den richtigen Antiepileptika könne man das gut behandeln, sagten die Ärzte.

Das stimmte auch. Raphael kriegte danach keine Anfälle mehr. Aber etwas anderes machte sich in seinem Leben breit. Und somit auch in unserem. Er bekam nämlich, wahrscheinlich ausgelöst von den Epi-Blockern, eine schwere Allergie gegen sämtlichen Heu- und Tierstaub. Die Ärzte waren ratlos. Meine Eltern auch. Was folgte, waren unzählige Behandlungen, Tests und Diäten. Allesamt mehr oder weniger erfolglos. Übrig blieb die Erkenntnis, dass Raphael in der Landwirtschaft plötzlich nicht mehr mithelfen konnte. Dass er wohl nie den Bauernhof würde übernehmen können. Dass ich an seiner Stelle diese Rolle zugeschoben bekam. Und niemand hatte mich jemals gefragt, ob ich das überhaupt wollte.

Und so begann sich das Leben zu verändern. Raphael wurde zum unberechenbaren Arschloch. Mama duldete es. Und Papa tat so, als ob nie etwas passiert wäre. Außer dass er seine ganze Aufmerksamkeit, die er vorher Raphael entgegengebracht hatte, nun auf mich übertrug …

Vielleicht, frage ich mich, als ich mit dem Traktor am Hof ankomme, hat Jelly recht, und ich sollte mir wirklich nicht mehr so viel gefallen lassen. In Gedanken versunken schiebe ich den Kipper zum Getreidesilo. Dort wird die Gerste übers Jahr gelagert. Aber wie soll ich das anstellen? Das mit dem Nicht-gefallen-Lassen, meine ich.

Da reißt Papa plötzlich die Traktortür auf und schreit: «Sag mal, wo bleibst du denn? Bist du unterm Fahren eingeschlafen, oder was?» Er kocht vor Wut. «Hast du überhaupt eine Ahnung, was Hans pro Stunde fürs Mähdreschen verlangt?» Er greift nach meiner Hand und zieht mich vom Traktorsitz.

«Was willst du?», rufe ich verärgert. «Ich bin das erste Mal mit dem Riesenkipper gefahren. Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ihn umgeschmissen?»

Papas Kopf wird rot vor Zorn. Aber auch vor Anstrengung. Und Stress. «Das hätte uns gerade noch gefehlt. Und jetzt schau endlich, dass du vom Traktor runterkommst. Der Hans wartet schon auf den nächsten Kipper. Oder soll er die Gerste am Feld abladen? Mach schon!»

Ich springe vom Traktor und schaue mich hilfesuchend um. Aber Mama steht nur da, mit der Schaufel in der Hand, und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

Da platzt mir der Kragen. «Wisst ihr was», schreie ich meine Eltern an. «Macht doch euren Scheiß selber!» Eine zornige Welle überrollt mich. Ich drehe mich um und verschwinde ins Haus. Was für ein beschissener Tag! Zuerst meint Lena, Finn anbaggern zu müssen. Dann ist Jelly sauer auf mich. Mein Bruder rastet wieder einmal ohne Grund aus, und meine Eltern … die sind ohnehin zum Kotzen. Glauben die wirklich, dass ich das hier aus Spaß mache?

Ich knalle die Hoftür hinter mir zu und schleudere meine Arbeitsschuhe in die Ecke, da kommt Mama herein.

«Hannah, so geht das nicht», sagt sie in strengem Ton. «Du weißt doch, wie eilig wir es zu den Erntezeiten haben. Da muss jeder mit anpacken … so ist das nun mal auf einem Bauernhof …» Sie kommt einen Schritt auf mich zu und legt die Hand auf meine Schulter. «Du kannst jetzt nicht einfach gehen. Papa muss mit dem Kipper fahren und ich muss beim Getreidesilo bleiben … das wird bis zum Abend dauern. Da können wir nicht auch noch die Stallarbeit machen …»

«Ach so ist das», lächle ich säuerlich.

Mamas Hand rutscht von meiner Schulter. Einen kurzen Augenblick glaube ich, dass sie mich verstehen kann. Wenigstens ein kleines bisschen. Doch dann kehrt die altgewohnte Strenge in ihr Gesicht zurück, und sie sagt: «Sei froh, dass es dir nicht so ergeht wie deinem Bruder!» Und als sie die Tür aufschwingt, hängt sie dran: «Ausmisten brauchst du nicht mehr. Nur füttern. Das geht eh schnell!» Dann dampft sie ab.

Es ist nach sieben, als ich mich aufs Rad schwinge. Mama und Papa sind noch am Ernten. Ich kann Hans’ Mähdrescher auf dem Feld brummen hören. Leise mache ich mich aus dem Staub. Ich will endlich meine Ruhe haben. Verschwinden.

Die Schweine sind gefüttert. Lanzelot auch. Und Brummer – der ist kugelrund, wie am Tag seiner Geburt.

Also, alles in Ordnung. Zumindest für meine Eltern.

Um nicht entdeckt zu werden, nehme ich die Straße durch den Wald. Ich habe mir nur ein Badetuch eingepackt. Den Bikini habe ich vorhin schon übergestreift. Die Sehnsucht nach dem tiefen schwarzen Loch treibt mich voran. Nach wenigen Kilometern bin ich da. Obwohl die Sonne schon die Baumwipfel streift, schwitze ich. Wie immer schlage ich mich durchs Unterholz und werfe meine Sachen unter die Birke. Hastig klettere ich auf den Felsen und springe …

Danach geht es mir besser. Die Stille tut gut. Auch das kalte Wasser, das auf der Haut prickelt. Endlich kommt mein Kopf zur Ruhe. Müde schlurfe ich aus dem Wasser und wickle mich in das Handtuch ein. So bleibe ich auf dem Felsen hocken und starre in den Sonnenuntergang, der sich auf der Wasseroberfläche zu spiegeln beginnt. Abends mag ich den See besonders gern. Abends, oder wenn es regnet. Da gehört er nur mir allein. Mit all den Geräuschen. Dem Schwappen. Dem Rascheln. Dem Gurgeln. Dann spüre ich die Kraft, die von diesem Ort ausgeht. Eine traurige Geschichte verbirgt sich hinter seinem Namen. Wahrscheinlich kommen deshalb kaum Leute hierher. Weil es ein verfluchter Ort ist. Und verfluchte Orte meidet man besser.

Ich meide ihn nicht. Hier habe ich wenigstens meine Ruhe …

«Ich wusste, dass du hier bist», schnauft es prompt hinter mir. Es ist Jelly. «Wenn man dich so sitzen sieht, könnte man Angst kriegen, weißt du das?»

«Hast du mich erschreckt», stöhne ich, nachdem ich mich einigermaßen vom Schock erholt habe. Ich glaube, mein Herz hat für den Bruchteil einer Sekunde zu schlagen aufgehört. Deshalb sage ich: «Wenn jemand Angst kriegen muss, dann bin ich es. Wie kannst du dich auch nur so an mich heranschleichen? Gib es zu, das hast du mit Absicht gemacht. Zur Strafe.» Ich suche Jellys Blick.

Sie grinst.

«Tut mir übrigens leid. Wegen heute», hänge ich dran.

Jelly grinst noch mehr. «Das soll es auch», sagt sie, und dann macht sie etwas, das sie bisher noch nie gemacht hat. Denn eigentlich hat Karolina es ihr verboten. Jellys Mama verbietet fast nie etwas, aber wenn es um den Jungfrauenfelsen geht, ist sie beinhart. Weil sie ziemlich abergläubisch ist.

Deshalb fällt mir auch fast die Kinnlade runter, als Jelly auf den Jungfrauenfelsen klettert und sich vorsichtig neben mich setzt. «Boah, ist das unheimlich», grummelt sie, als sie die Nase über die Felskante streckt. «Meine Mama hat schon recht, wenn sie sagt, dass man nicht auf den Felsen klettern soll! Dass du da freiwillig hineinspringst!? Ehrlich, du hast einen Vogel!»

«Ja, wahrscheinlich», sage ich und lege den Kopf auf ihre Schulter. «Es stimmt übrigens», füge ich verlegen hinzu.

«Was? Dass du einen Vogel hast? Oder dass der Ort gruselig ist?»

«Nein, wegen meinen Eltern», antworte ich. «Und … vor allem wegen Raphael. Und …» Ich gerate ins Stocken.

Jelly dreht den Kopf zu mir. «Und Finn?»

«Jaaa», gebe ich schließlich zu. «Und Finn. Aber du musst mir versprechen, dass du kein Sterbenswörtchen darüber verlieren wirst. Zu niemandem!»

Jelly sieht mich beleidigt an. «Na, hör mal, als ob ich so eine Tratschtante wäre …»

«Versprich es mir!»

«Ich sage nix. Du kannst dich auf mich verlassen. Ehrlich! Aber warum machst du so ein Drama daraus? Finn ist doch süß, oder nicht?»

«Und wie», seufze ich, woraufhin wir laut zu gackern anfangen, während die Sonne hinter dem Wald verschwindet und den See in dämmriges Licht hüllt.

«Dann verstehe ich dein Problem nicht», meint Jelly nach einer Weile. Ich hole tief Luft und fange mühsam zu erzählen an. Und weil Jelly halt doch meine allerbeste Freundin ist und ich sie nicht verärgern will, lasse ich auch nichts aus.

So erzähle ich ihr, wie mich Finn an der Bushaltestelle angesprochen hat. Wie wir uns bei der alten Eiche getroffen haben und was tatsächlich am Abend des Sonnenwendfestes passiert ist. Von unseren ersten Küssen im Obstgarten. Von Brummer. Und von meiner Angst, Raphael könnte ausrasten, wenn er erfahren würde, dass ich mich mit Finn treffe. Immerhin ist der Vater von Finn auch Raphaels Chef.

Um uns herum ist es mittlerweile so finster geworden, dass ich Jellys Gesicht kaum noch sehen kann. Trotzdem merke ich, wie sie es verzieht. «Glaubst du nicht, dass du ein bisschen überreagierst?»

Ich schüttle den Kopf. «Weißt du, Raphael hat sich seit dem letzten Jahr sehr verändert. Du würdest ihn nicht wiedererkennen», sage ich vorsichtig.

Jelly murrt. «Woher soll ich denn wissen, wie dein Bruder gerade drauf ist, wenn er mir seit dem Anfall ständig aus dem Weg geht? Dabei hab ich ihm nichts getan. Wenn ich daran denke, wie oft wir früher zusammen gespielt haben. Du und ich und dein Bruder auf dem Heuboden …» Jelly wird auf einmal still. «Das ist lange her», murmelt sie, greift nach ihrem Pulli und steht auf. «Brrr, ist mir kalt! Lass uns abhauen. Wenn es finster wird, ist es noch unheimlicher hier.»

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