Kitabı oku: «Kapitulation»
Michèle Minelli
Kapitulation
Roman
Verlag und Autorin danken für die Unterstützung
der Kulturstiftung des Kantons Thurgau und der Stadt Zürich.
Michèle Minelli
Kapitulation
Roman
lectorbooks GmbH, Zürich
Umschlagbild: Xu Ying, Confession 2
Umschlaggestaltung: André Gstettenhofer
Satz: Peter Löffelholz
Lektorat: Kristina Wengorz
Korrektorat: Patrick Schär
Gesamtherstellung: CPI Books GmbH, Leck
1. Auflage 2021
© 2021, lectorbooks GmbH
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-906913-25-4
eISBN 978-3-906913-26-1
Für Peter
Ich verlange keine Privilegien für mein Geschlecht.
Ich gebe meinen Anspruch auf Gleichheit nicht auf.
Alles, was ich von unsern Brüdern erwarte, ist,
dass sie ihre Füße von unseren Nacken nehmen (…)
Sarah Moore Grimké (1792–1873)
Wenn ihr wüsstet, dass ihr solidarisch seid für jedes
begangene Unrecht, das Lästern würde euch vergehen.
Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916)
Wer sind diese Barbaren?
Die brave Ehefrau, aus Nikki Gemmell (*1966): Bis auf die Haut
Wir sind entweder alle frei – oder gar nicht.
(Yvonne)
Inhalt
… DREI …
… ZWEI …
… EINS …
…
ZÜNDUNG!
Zur Autorin
… DREI …
Was, wenn es anders wäre? Aina hebt den Arm. Ich will, dass das hier gut ausgeht, denkt sie. Ein anderes Ende gibt es nicht.
Sie wedelt mit der Hand in der Luft. Ihr T-Shirt-Ärmel rutscht nach hinten. Piepegal. Mit einer flüchtigen Bewegung schiebt sie den Rocksaum über ihre Knie. Ein Reflex. Sie achtet darauf, ihre Knie nicht zu berühren, und merkt, wie ihre Hände noch in der Flüchtigkeit der Erinnerung zittern.
Lug und Betrug. Aina verschiebt die Hüfte und rückt ihren Po in eine angenehmere Position, das Skelett des Sessels sticht durch den Plüsch. Ich muss das alles loslassen, sonst drehe ich durch. Ihr Blick gleitet über das große Fenster hinab in die Halle des Zürcher Hauptbahnhofs. Ihre ausgetrockneten wasserstoffblonden Haare streifen ihr Kinn. Sie spürt ihren Hunger, ihren Durst. Und sie spürt etwas in ihrem Innern, das aufbegehrt, dem Pochen der Wunden an ihren Knien gleich.
Wenn das nächste Stück wieder Disco-Pop ist, dann gehe ich.
Erneut hebt sie ihren Arm. Der Regler wird aufgedreht, Lounge-Musik flutet die Kaffeebar. Jemand hat die Playlist gewechselt.
Der Kellner steht neben ihr. Diskret fragt er nach ihrem Wunsch.
Langsam wendet ihm Aina ihr Gesicht zu. Sie lässt ihren Arm länger erhoben als notwendig. Sie will, dass er es sieht.
Fast unmerklich hebt der Kellner seine Augenbrauen, auf seiner Stirn bildet sich ein zarter Wulst.
Sie grinst. Eine erwachsene Frau hat Haare unter den Armen. Daran muss sich ein Mann schon gewöhnen.
Der Kellner tippt ihre Bestellung in ein Gerät. Schaut sie an.
Aina hält seinem Blick stand. Als er sich umdreht und geht, lässt sie ihr Kinn und den Arm sinken.
Durch die immense Fensterscheibe glotzen sie Lokomotiven an. Eine rot-weiße lacht wie eine Eidechse – wie als Antwort auf Ainas Schneid. Gleis fünf und sechs sind leer. Schienen führen nach Nordwesten zur Halle hinaus.
Und jetzt schälen sich aus den Farben, Tupfen, Umrissen einzelne Gestalten, Ankommende und Abreisende. Sie tragen erste Frühlingskleider unter wattierten Jacken, sie tragen Minirock, Anzug, Anzug, Anzug, Anzug, Smartphone, Anzug, Pelzbesatz. Sehr, sehr viel Pelzbesatz. Fell flattert an Mantelkragen, an Ärmelsäumen, Stiefelschäften, in Weiß, Braun, Schwarz, Zuchtfuchs, Fangeisen, Käfigbatterie, Waschbär, materialschonend getötet mit analem Stromstoß, gepunktet, gestreift, Sumpfbiber, Chinchilla. Eine Frau in einem mauvefarbenen Kostüm und einer offenen Jacke mit Pelzkragen flaniert den Bahnsteig entlang. Die zarten Haare des Kojotenfells bewegen sich, als der Zug auf Gleis fünf einfährt. Menschen strömen aus dem Intercity-Express.
Eine Hand schiebt sich in Ainas Blickfeld, eine Tasse wird vor ihr platziert. Auf der ovalen Untertasse liegen ein gratis Gebäckstück und eine Zuckertüte in einer dafür vorgesehenen Mulde. Ainas Gedanken lösen sich nur widerwillig von der Menschenmenge unter ihr.
Sie bedankt sich mit einem Merci, Jean-Marie, und der Kellner lächelt überrascht, dass sie seinen Namen nennt. Sie weist auf das Schildchen, das auf seiner Brust prangt. Kleine Grübchen zeichnen sich in dunklen Wangen ab. Ich hoffe, er sieht in meinem Gesicht etwas ebenso Intimes, denkt Aina.
Neben ihr redet ein Mann auf eine Frau ein, die ihm gegenüber in einem Plüschthron sitzt: Afrikaner, Araber und Inder, die können untereinander nicht in Katar, die werden getrennt gehalten, arbeitsmäßig. Ein Aspekt, wie Kultur dort gelebt wird. Ich sag ja immer, man muss die Unterschiede achten, Herkunft wirkt sich aus, auch auf die Arbeitsleistung.
Der Mann nennt Begriffe wie Critical Incident Report System. Takeover Approach. Action Items. Real Achiever. Es hört sich an wie ein Bewerbungsgespräch. Sein Englisch klingt norddeutsch, ausgesprochen mit einer unangebrachten Festigkeit, als wollte der Mann mit einem Rammbock eine Tür aufbrechen.
Aina fragt sich, was ihn auf Afrikaner, Araber und Inder gebracht haben mag. In ihr Notizbuch für Ideen kritzelt sie die englischsprachigen Fachtermini. Dann schaut sie wieder zu dem ungleichen Paar.
Der Ausdruck der Frau im Thron verwandelt sich in den eines Kamels, während sie ihm, Croissant kauend, zuhört. Nach einem tiefen männlichen Schluck hat er Macchiatoschaum über seiner Oberlippe. Jetzt ist sie an der Reihe. Die Frau spricht breites Schweizer Hochdeutsch, umständlich und unkoordiniert. Ausdauernd. Der Mann nickt und nickt und zwingt seinen Blick vom Display seines Smartphones, das kurz aufgeleuchtet hat, zu ihr zurück. Er senkt das Kinn. Es ist offensichtlich, dass er die Stelle will. Wieso sonst sollte er die Frau so lange sprechen lassen?
Die Regionalbahn auf Gleis sechs fährt ein, durch die Bar geht jetzt ein Luftzug. Die Härchen auf Ainas Unterarmen stellen sich auf.
Sie wird bald sechsunddreißig. Sie sitzt zum ersten Mal in diesem Café, an dem sie sonst vorübereilt. Sie muss etwas anderes tun als immer nur das Gleiche. Sie muss einen Weg finden. Wieder schiebt sie den Rocksaum über die Knie, sechsunddreißig, das ist mehr als die Hälfte von siebzig, also tut sie es, zum ersten Mal in ihrem Leben auch das, in aller Öffentlichkeit: Sie kratzt sich mit der rechten Hand am Venushügel. Der Stoff ihres Rocks gibt ein flüsterndes Geräusch von sich. In Ainas Ohren klingt es wie ein Seufzer. Sie ist sich überhaupt nicht sicher, ob sie heute noch zur Arbeit gehen wird. Und wenn ja, weshalb.
Und doch. Es hat sich gut angefühlt. Kratzen. Öffentlich. Rammbockmann hat keinen Plan. Entgeistert schießt sein Blick zu ihr, jetzt schon zum zweiten Mal.
Nie wieder Intimrasur, sagt sie und holt das Bündel ungeöffneter Briefe aus ihrer Tasche.
Das hat sie letzte Nacht auch zu ihrem Freund gesagt. Nie wieder.
Was?, zischt der Bewerber in die Luft.
Aber Aina denkt nicht an ihn, sie denkt an ihren Freund, der – keiner verlangt, dass du immer glatt bist, wenn du zu mir kommst – sie umgedreht und in Position gebracht hat. Ihr Körper erinnert sich, ihre Brüste, ihr Bauch. Die Schulterblätter gestrafft wie in Erwartung, wie in Vorbereitung auf einen evolutionären Schritt.
Sie trinkt einen Schluck. Stiert auf den Packen Umschläge. Sie hat keine Ahnung, was sie mit so viel alter Post anfangen soll. Für einen Moment hat sie das Gefühl, sie falle.
In der Halle unter ihr schiebt ein Mann einhändig einen leeren Rollstuhl vor sich her, ein Bahnangestellter mit orangefarbener Weste. Sie denkt: Wenn er zur Kaffeebar aufschaut, dann gehe ich heute zur Arbeit.
Vorsorglich legt sie schon einmal das Geld für den Kellner auf dem kleinen Tisch vor ihren Knien bereit. Geschwätzigen Knien. Knien, die die dünne, bröckelig braune Haut offenbaren, deren Neubildung bei Aina so viel länger dauert als bei anderen Menschen; meine Wundheilung – ein undurchschaubarer Prozess.
Einmal hat sie ihre Blutkrusten akribisch genau dokumentiert, für ein Kunstprojekt. Die Topografie der Zeit. Mit Fotos, Skizzen, Zeichnungen. Materialproben. Als sie noch Studentin war. In Brüssel. Kurz nach Krk.
Der Aufprall ist dumpf.
Aina kann nicht sagen, was zuerst da war, das Geräusch oder das Bild des Raben, der blutig von der Fensterscheibe rutscht.
Als sie zutiefst erschrocken ihre Tasche schnappt, aufsteht und geht, eilt ihr der Kellner in drei Schritten hinterher: Mademoiselle – Sie haben etwas verloren!
Oh – danke, Jean-Marie, sagt sie und nimmt zerstreut den Brief entgegen, weiches, sahniges Papier, der ihr bei ihrer Flucht aus dem Stapel gerutscht sein muss.
Nur noch wenige Tage. Nur noch wenige Wochen. Nur noch wenige Monate. Bald ist alles überstanden, alles zu Ende, alles vorbei. Lärmdämpfende Kopfhörer halten Yvonne die Umwelt auf Abstand, Männer und Frauen, die mit ihr an der Tramhaltestelle des Zürcher Bahnhofplatzes stehen und darauf warten, dass die richtige Straßenbahn einfährt, Männer und Frauen, die mit ausgestellten Ellbogen Gratiszeitungen spreizen, auf Smartphonedisplays starren oder ins Leere reden.
Vier Minuten vor acht, Yvonne ist knapp dran, auch dieses Mal, auch heute. Die Tagesmutter fiel aus, sie wird das niemandem erklären können. Und die Liste der Angestellten, die Yvonne zu betreuen hat, ist endlos. Länger als alle Tage, Wochen, Monate und Jahre, die mir überhaupt noch zur Verfügung stehen, denkt sie.
Sie wechselt das Standbein. Ihr Herzschlag beruhigt sich. Fällt zurück in den Takt, der sie trägt. Auf keinen Fall wieder in einen Waxingsalon. Auf keinen Fall erneut Männern Rückenbehaarung oder Poborsten abrupfen. Ich werde das schaffen. Meine Tage als Kosmetikerin sind Geschichte.
Sie bewegt die Hände aus ihren Handgelenken im Kreis. Lockerungsübung am Morgen.
Yvonne verlagert das Gewicht. Mit ihren Umhängetaschen und dem großen Rucksack ist sie morgens auf jeder Tramplattform der Feind. Sie hat keine Lust, jemanden anzulächeln. Lächeln macht alles nur noch schlimmer. Ihre Kopfhörer erzeugen angenehme Distanz.
Warum hat man immer mich eingeteilt, wenn es um die Männer ging? Warum musste immer ich es ertragen, dass sie wie Frösche mit gespreizten Beinen vor mir lagen und wimmerten?
Die viel einfachere Gesichtsbehandlung von Frauen hatte ihr Chef Don Carlo anderen zugeteilt. Oder selbst erledigt.
Das ist bestimmt nicht sein richtiger Name, Don Carlo, wer heißt schon so? Mich nannte er: il donnone. Dachte, ich höre es nicht. Dachte, mir mache das nichts aus – scusa, deinen Namen kann sich nun wirklich keiner merken. Schulterzucken, Grimasse.
Christian hat zu Yvonne heute früh gesagt, sie leide an einer Mitgefühlserschöpfung, als sie den Kleinen doch bei ihm ließ.
Wieder wechselt sie das Standbein, ihr Herz macht einen Extraschlag, gefolgt von einer Pause.
Sein Pyjama hing ihm auf der Hüfte. Ich habe ihm versprochen auszuhalten. Wir schaffen das, so hat er damals zu mir gesagt, und heute sage ich zu mir: Für ihn und die Kinder halte ich diese Betriebswirtschaftler aus. Sie geht sie in Gedanken durch, jeden einzeln, ein Tag voller verspannter Büronacken und abends noch eine neue Kundin, privat. Es ist Routine geworden, eingeschliffener Alltag: Wir schaffen das. Auch wenn das seit Wochen, Monaten bedeutet: ich.
Aina sieht Grübchen und steckt den sahnefarbenen Umschlag zu den anderen. Sie weiß nicht, was der Kellner sieht, als er seine Hand zurückzieht, aber sie will, dass sich auch auf ihrem Gesicht etwas so Sanftes wie Grübchen zeigt, eine kleine Intimität, schwarze Augenbrauen unter blond gebleichten Strähnen.
Sie weiß, dass sie ungepflegt ist, ihre Haare hat sie seit gestern nicht mehr gebürstet, als sie in Brüssel in den Zug gestiegen ist, und ihr Atem stinkt nach Reise. Jean-Marie ist ein Fremder, und doch ist es ihr ungemein wichtig, dass dieser Fremde in ihr einen Menschen erkennt.
Wann habe ich das letzte Mal gelacht?
Zaghaft zeigt sie Zähne.
Interozeption ist eine Anomalie. Yvonne macht einen Schritt – weg von diesem Gedanken – und neigt den Kopf vor, es ist ihre Tram, die sich nähert.
Wer braucht das schon? Mitzuerleben, wie das eigene Herz aussetzt und wieder schlägt.
Mitzuerleben, wie es plötzlich nicht mehr schlägt.
Damals war Christian so verlässlich. Ein Hotelgast, der das Drama mitbekommen hat. Seine zusammengedrückte Haut in ihren Klauen. Er hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass es wehtat. Es tut weh, hatte er gesagt und sie gemeint, die nur drei Tage danach wieder zur Arbeit erschienen war und Touristennacken massierte. Es tut weh. Da erst war sie zusammengebrochen.
Seither spürt Yvonne ihr Herz schlagen, ihren Puls klopfen, Mal für Mal.
Warum hält die Tram so weit von der Haltestelle entfernt? Sie muss warten. Körperinterne Empfindungen werden in der anterioren Insula verarbeitet, in der Inselfront. Das kann sie sich gut merken.
In das Getümmel von Farben, Stimmen und Sprachen taucht Aina wie in eine klaglose Materie. Der Mann in der orangefarbenen Weste, sein Blick nach oben, zur großen Glasscheibe hin, hat es heute für sie entschieden: Sie geht zur Arbeit und weiß nicht, wie lange sie dieses Wenn-dann-Spiel noch spielen kann. Ihre Unterlippe ist vorgeschoben.
Sie will, dass das hier gut ausgeht, und keine Ahnung beflügelt sie, wie.
Die Straßenbahn blinkt jetzt. Yvonne strafft den Rücken, eine der Umhängetaschen rutscht bedrohlich. Die Feindschaft der Umstehenden verdichtet sich mit jedem Meter, den die Tram näher heranruckelt. Ablagerungen auf den Schienen, eingeschränkter Blutfluss, Arteriosklerose des öffentlichen Verkehrs. Die Tasche gleitet ihr von den Schultern und bleibt am Ellbogen hängen. Yvonne überkommt ein plötzlicher Fluchtimpuls. Ein Echo der Erinnerung, sagt sie sich und klemmt den Träger der Tasche zurück unter die anderen, die an ihrer Schulter zerren.
Der schrille Pfiff einer Trillerpfeife lässt Aina zusammenfahren. Die Gesamtmasse aus Farbe und Fell und Bewegung zuckt wie bei einem Stromschlag. Aina reißt beide Hände vor die Brust. Es folgen weitere Pfiffe, und mit einem Mal stolpert sie mitten in ein Ballett, in eine Choreografie von Händen und Armen und Fingern, die jetzt unmittelbar vor ihr eine riesengroße schimmernde Plane aufwerfen und zu Boden sinken lassen. Die harmonischen Bewegungen eines Mantarochens in seinem Element.
Sie tritt ein paar Schritte zur Seite, fasziniert von dem Spektakel.
Es folgen weitere Hände, die wiederum etwas in die Luft federn lassen, etwas, das aussieht wie Bälle, es sind aber keine Bälle, es sind PET-Flaschen, Tüten, Strohhalme, Plastik to go. Aina sieht Dutzende von Fingern, die sich jonglierend von Müll befreien und in vollkommener Stille Ding um Ding in Richtung Plane werfen, wo alles in weichem hohem Bogen auf einen Haufen segelt – Plastik in vielen Farben! Die Bahnhofdurchsagen treten in den Hintergrund. Keiner spricht, Schritte hasten vorbei, fotografierende Smartphones, Staunen ohne Geräusch, das neben Aina und rundherum ebenso wie sie stehen bleibt.
Die eine Hand an der Brust, während die zweite langsam an ihrem dünnen Körper entlang nach unten sinkt, spürt Aina, wie sich etwas in ihr löst, das sie nicht benennen kann. Ein erster Stein.
Yvonne, die in ihrem Leben schon zahllose nackte Männer- und Frauenkörper gesehen hat, reißt die Augen auf, als die meisten der Menschen an der Tramhaltestelle wie auf Kommando ihre Jacken abstreifen und ihre nackten Oberkörper, Brüste, Schultern dem eisigen Frühlingswind aussetzen.
Sie erkennt die Piloerektion, die Haut, wenn sie friert, und sie sieht die Buchstaben, die auf die Oberkörper gemalt sind in roter, ausfransender Schrift.
No Plastic!
Be real!
Live life without plastic!
Ausrufezeichen wie gereckte Fäuste.
Ein adoleszenter Junge, der neben ihr gewartet hat, stößt schrille Schreie aus wie ein Pfau. Mit seinem schiefen Mund und den unkoordinierten Bewegungen – nicht normal, würde ihre Schwiegermutter über ihn sagen – steht er genauso außerhalb der Mehrheitsgesellschaft wie sie.
Yvonne klettert in die Straßenbahn und sieht durch das rückwärtige Fenster, wie der Junge versucht, sich seiner Jacke zu entledigen. Die Tramtüren schließen sich, Yvonne presst sich, ihren Rucksack und die Taschen in die Ecke und beobachtet, wie die Halbnackten Trillerpfeifen aus ihren Hosentaschen ziehen und im Chor pfeifen, bevor sie davonrauschen, eine lange, bleiche, trillernde Welle, die Treppenstufen hinunter, Yvonne weiß nicht, wohin sie fließt.
Eine Frau mit blauem Kopftuch steht noch da, die Lippen geöffnet. Ein Mann mit Aktentasche gibt dem Sog seines Displays nach. Eine Mutter schiebt einen Buggy. Während sich die Straßenbahn mit einem Ruck langsam in Bewegung setzt, beobachtet Yvonne, wie der Junge weiter mit seiner Jacke kämpft, in seinem Gesicht wilde Entschlossenheit. Yvonne entgeht das Schuppige seiner Haut nicht, und unwillkürlich denkt sie an all die Peelings mit ihren Mikroplastikteilchen, Peelings, die sie an Kunden machen musste, weil ihr Diplom als Masseurin hier nichts zählte. Endlich vorbei.
Sie sieht, wie der Junge in seiner Not – es gelingt ihm nicht, die Jacke auszuziehen – Jacke und Pullover über den Bauch hebt und sich wenigstens so den umstehenden Passanten präsentiert. Viel zu spät, die Halbnackten sind schon fort, viel zu unwichtig als Einzelner, allein. Sie sieht neue Passanten neben ihm auf eine Tram warten. Wegschauen. Oder mit den Füßen scharren.
Dann biegt Yvonnes Tram um die Ecke.
Aina wird von einer Horde Männer und Frauen umspült, die von allen Eingängen in die große Bahnhofshalle fluten, rote Schrift auf wippenden Frauenbrüsten und enthaarten Männeroberkörpern.
Und während diejenigen, die Plastikbecher, Plastiktüten, Plastikbehälter to go aufgetürmt haben, sich nun anmutig umdrehen und in sternförmigen Zacken zurückziehen, als hätte das, was sie hinterlassen, nichts mit ihnen zu tun, als wäre es ein universales Gesetz, gruppieren sich die anderen um die Plane, schauen sich kurz in die Augen und heben das Tuch in perfekter Abstimmung an seinen Rändern hoch. In einer einzigen langen Fließbewegung entfernen sie sich.
Keiner von ihnen beachtet die Umstehenden, kein Blick trifft Ainas Augen, aber als sie zum Fenster der Bar hinaufschaut, sieht sie dort oben neben einem roten Fleck auf der Scheibe einen Kellner stehen, von dessen Wangen sie weiß, dass da Grübchen sind.
Dann ist der Spuk vorbei.
Sie geht einfach nicht ran, Julian. Adrienne blickt ihren Mann durch ihre markante Brille fragend an, weil ihr nichts anderes einfällt, was sie in so einer Situation tun könnte, und sie das schmerzt.
Er macht einen Schritt zu ihr hin und bindet sich die Krawatte mit einer Hand: Kommunisten halt.
Ihr Haar knistert, ihre Schulter zuckt, dann rafft sie sich auf und sitzt wieder gerade. Sie legt das Smartphone neben sich aufs Bett: Ich kann jetzt nicht losheulen, Julian. Sie wischt seine Hand weg.
JB, korrigiert er.
Adrienne blinzelt sich das Wasser aus den Augen, lacht nun doch. Wie wichtig es für ihren Mann plötzlich ist, sich mit Initialen hervorzutun.
Dann aber löst sie sich von diesem Gedanken und sagt: Ich mache mir ernsthaft Sorgen.
Ich weiß, ARB. Hast du denn wenigstens von den anderen eine Antwort?
Sie steht auf, streicht sich über die schwarze Businesshose, zieht am Bund ihrer Longweste, die über ihrer Taille etwas spannt. All das Winteressen, das auch, denkt sie. Dann dreht sie ihrem Mann den Rücken zu und hebt die dunklen Haare im Nacken an. Julian postiert sich mit zwei Schritten hinter ihr und lässt ihr die Perlenkette aufs Schlüsselbein sinken. Der Verschluss klackt.
Sie dreht sich zu ihm um, wie jemand, dem plötzlich etwas eingefallen ist: Magnus ist mittlerweile verstorben, sagt das Museum. Der war damals ja schon ein alter Mann und bildhauerte nur noch so zum Spaß, Salomon hat einen Fotoauftrag für GEO und befindet sich in Tschukotka, und was mit Bert Stein ist, weißt du besser als ich.
Tja, sagt Julian, der hat ja schon bei MeToo nicht so gut abgeschnitten.
Er wird sich nicht melden, und er wird auch nicht kommen – das ist, was ich damit sagen wollte, Julian. Vermutlich wird es eine reine Damenrunde.
Och, ARB.
Adrienne, korrigiert sie ihren Mann und führt seine Hände zurück an seinen eigenen Körper. Ich mag deinen neuen Spleen nicht. Du imitierst Quirin Rothe, der nennt sich jetzt auch überall QR.
Ochchen.
Ja, ach. Mein Name ist nun einmal Adrienne und nicht ARB.
Schön siehst du aus, sagt er.
Erneut schiebt sie seine Hände von ihren Brüsten.
Ist das da oben nicht etwas zu freizü…
Was?, ihre Stimme verknappt das Wort zu einem Zischen.
Ich sag ja nur: Die Waffen einer Frau. Aber er haucht es auch.
Adrienne beginnt, sich die Haare zu bürsten. Es knistert wieder. Julian zieht sich das Jackett über. Zupft an seiner Krawatte, während sein Gesicht hinter ihrem im Spiegel erscheint. Sie legt den Kopf schief, und ihre Mundwinkel drohen auseinanderzugleiten, so sehr strahlt er sie an.
Hand aufs Herz, sagt er versöhnlich und umfasst warm ihre linke Brust.
Ich weiß wirklich nicht, weshalb du in diesem Zusammenhang von Waffen sprichst, Jules.
Och – damit entmannst du mich jetzt aber, Chérie.
Ich dachte, französisch magst du’s?
Er steigt in ihr Grinsen ein, beugt sich vor und blickt auf seine Hose hinunter.
Jetzt schau, was du angerichtet hast.
Sie schaut, aber sie weiß nicht, ob ihr das richtige Schauen gelingt.
Förmlich wenden sich beide wieder dem Spiegel zu.
Adrienne probiert an ihrem obersten Knopf herum. Er schafft das immer wieder, sie in diesen Zustand zu versetzen – auch nach vierundzwanzig Jahren Ehe noch.
Für sie ist es die zweite Ehe, für ihn die erste, und es soll auch die letzte bleiben, wie er gern beteuert. Sie sei sein Ein und sein Alles, sein Hafen, sein Heim. Und wie sich seine Frau von achtundsechzig Jahren so schön, so umwerfend straff und schön und aufrecht halten könne, beteuert er, blase ihm jedes Mal von Neuem das Gehirn weg. Sie spürt seinen Blick ihren Körper entlangfahren, die kleinen Röllchen unter der Kleidung; er kennt jedes, und sie weiß das.
Was, meinst du, wird einer wie Bert Stein jetzt tun?
Der?, Julian saugt Luft ein, der sitzt das aus. Und dann schreitet er zurück aufs Parkett, kühn und selbstverliebt wie eh. Seit sich jeder Mann zum Schuldigen macht, wenn er ein Kompliment auch nur denkt – sie knöpft sich den obersten Knopf doch wieder auf, will, dass endlich Frühling wird –, ist es bloß eine Frage der Zeit, bis alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Revolutionen vollziehen sich nicht einfach so.
Hört, hört!
Auf Twitter und Co., mein ich, sagt er und geht voraus.
Vorne im Flur begegnen sie sich wieder. Adrienne bemerkt das Zusammenziehen seiner Augenbrauen, den kurzen Moment, als sie den Gurt ihres Bodybags über der Schulter straffzieht, ohne den sie die Wohnung nicht mehr verlässt.
Sie senkt ihren Kopf, um ohne Wasser in den Augen davonzukommen. Sie hat viel zu erledigen. Obwohl sie noch immer nicht weiß, wer von den ehemaligen Stipendiaten übermorgen tatsächlich kommen wird … Noch immer hat sie nicht von allen eine Antwort auf ihren Brief erhalten. Dass Künstler aber auch so schludrig sein müssen! Dabei will sie jetzt die Gästestudios richten, für die sie sich schon vor Monaten auf der Liste eingetragen hat. Extra Blumen hat sie bestellt, für jedes Studio zwei gebundene Sträuße. Das Wiedersehen soll schließlich Freude bereiten, von Anfang an. Und ein bisschen Eindruck schinden will sie auch. Sie ist stolz darauf, dass sie das jetzt zum ersten Mal tun kann, Gäste einquartieren in den Studios, dass ihr Konzept aufgeht und auch sie einen Nutzen davon hat.
Wie wollen wir wohnen? – wie viele dieser Symposien über alternative Wohnformen hat sie geleitet? Mit wie vielen Investoren, Architekten und Statikern gesprochen? Die typisch ignorante Art ihrer Auftritte über sich ergehen lassen während der langen Planungsphase, der Bauzeit? Adrienne war zwar schon immer gut im Nehmen, eine, wie sie selbst findet, gewinnende Erscheinung von knapp eins achtzig, mit hochhackigen Schuhen eins achtundachtzig, Stabilität bei jedem Schritt. Sie weiß instinktiv, welches Outfit ihr in der Arbeitswelt der Männer Aufmerksamkeit verschafft – und damit Gehör. Ihre Lieblingsgarderobe, Jogginghose mit Gummizug, Schlabbershirt und Mokassins, trägt sie nur zu Hause. Wenn sie gegen die Baumenschen ankommen wollte, musste sie so sein wie sie. Sie lernte deren Sprache rasch.
Es hat sich gezeigt, dass …
Es ist erwiesen, dass …
Fakt ist … – wenn sie etwas durchsetzen wollte – und: Wir wollen … – wenn sie Dinge versprach, die ihr schnurz waren.
Sie sprach nie von: Wir werden … – mit wir werden hätte man sie später belangen können. Locker bleiben. Immer schön Zähne zeigen. Brüste höchstens im Ansatz, und wenn dann gar nichts mehr ging, sagte sie einvernehmlich: Kommt, Jungs, geschenkt!
Das brachte jede Pattsituation in Bewegung. Geschenkt!
Seilschaften, Redeanteil, Status, Präsenz. Ja.
Sacharbeit? Geschenkt.
Sie hatte früh gelernt, wie man sich zu verhalten hat, schon von ihrem Vater, der aus einer altehrwürdigen Schweizer Kaufmannsfamilie stammte. Und sie findet, nichts hat sich geändert, nicht, als sie Wirtschaft studierte, nicht, als sie promovierte, nicht, als sie bei Sotheby’s ein Praktikum absolvierte, und auch nicht, als sie vor fünf Jahren mit ihrer Idee an Investoren herantrat, eine altersdurchmischte, autofreie, energieautarke Siedlung auf einer Industriebrache in Zürich zu bauen, acht zueinandergehörende Wohnblöcke mit Gemeinschaftsgärten, Gemeinschaftsräumen und eben auch mit den Studios, die die Bewohner für ihre Gäste mieten können. Ein Dorf mitten in der Stadt, als Fundament der Kollektivgedanke.
Wie viele Kämpfe.
Wie viele Blessuren.
Am freiesten gefühlt hat sie sich als Stiftungsratspräsidentin, ihrer letzten offiziellen beruflichen Tätigkeit. Einem Gremium von zwölf Aposteln vorstehend stellte sie sicher, dass die Konzentration der Männer nie einbrach, wenn sie zu reden begann. Nie rauschte der Geräuschpegel nach oben, wenn sie das Wort ergriff, und langweilig war keine einzige der Sitzungen, die sie leitete, frei sprechend, ganz so, wie es spontan aus ihr heraussprudelte, sie war ja am Ruder, endlich, doch.
Als Stiftungsratspräsidentin konnte sie das Stipendienkonzept der Villa de Artium auf Krk aktiv mitgestalten. Sie stellte die interdisziplinären Gruppen zusammen, die sie zu einem schöpferischen Aufenthalt auf die Insel lud. Musiker, Maler, Schauspielerinnen, Schriftstellerinnen, Töpfer, Filmerinnen, Regisseure, Verleger, Bildhauerinnen.
Druck auf den Augäpfeln, jedes Mal, wenn sie ans Ende denkt. Ein Wunder, dass sie ihre Präsidentschaft überhaupt so lange hatte ausdehnen können, zwei Jahre über ihr Pensionsalter hinaus, aber dann …
Aber dann! Wie war sie aufgeregt, als sie den Schlüssel ihres Grand Cherokees an ihre Tochter übergab, sie brauchte ihn nicht mehr, und endlich in ihren Sichtbeton gewordenen Traum einzog! Was für ein Gefühl die Vertikalbegrünung in ihr auslöste! Die schwebenden Balkone! Eine Siedlung! Mitgeplant, mitgebaut zu haben, das war etwas, das konnte ihr keiner mehr nehmen.
Und all das parallel zu ihrer Stabübergabe auf Krk.
Julian hält ihr die Tür auf. Sie klappert auf ihren hohen Schuhen an ihm vorbei, ihre Hand streift seine.
Willst du nicht doch lieber einen kleinen Rollkoffer …?
Das sieht doch bescheuert aus. Wie soll ich bitte mit einem Rollkoffer aufs Klo, Julian? Ein Bodybag ist praktischer.
Julian hebt beide Hände neben sein Gesicht: Ich ergebe mich.
Adrienne wendet den Kopf.
Kein Kuss?, ruft er ihr nach.
Sie dreht sich auf der ersten Treppenstufe nach ihm um und hebt das Kinn. Seine Zunge in ihrem Mund fühlt sich deplatziert an. Wie eine Echse, die sich in der Höhle geirrt hat. Ein Gemisch aus Kaffee und Zahnpasta. Als sie zu ihm aufblickt, zeigt auch sein Gesicht die Konzentration auf den Tag, der ihm in der Anwaltskanzlei bevorsteht.
Aber ihr Kopf ist so voll, sie hat keine Ahnung, was ihr Mann heute macht. Und da drängt ein unbestimmtes Gefühl der Freude hoch, vielleicht wegen der Masseurin, die heute Abend vorbeikommen wird, die Frau, deren Namen sie sich auf einem Zettel in der Küche notiert hat und die ihr den Nacken zur Belohnung für alles entspannen wird. Ein Moment nur für sie inmitten der großen Anstrengung vor dem Fest, diesem Wiedersehen mit ihren ehemaligen Stipendiatinnen nach so langer Zeit.
Adrienne hat heute keine Geduld für Julians Zungenspiele.
Als Yvonne bei VinatzerMantellJoergensen ankommt, einem international tätigen Haus selbstständiger und unabhängiger Partner in den Bereichen Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung und Unternehmensentwicklung, sind ihre Achseln verschwitzt. Sie wird sich etwas Geschickteres überlegen müssen, als diese Taschen, die sie jetzt nacheinander auf das Band legt, Tag für Tag zu schleppen. Sie wartet, bis die Schleuse frei ist, dann stellt sie sich in das Scanfeld für Besucherinnen und Besucher. Zum Glück trägt sie heute die flachen Schuhe, die mit den verstärkten Sohlen lösten letztes Mal prompt Alarm aus. Dabei geht sie hier schon seit drei Wochen ein und aus. Sie fühlt sich noch nicht sicher. Und wer weiß, ob es hier besser läuft als bei KTNA&P. Vielleicht kann sie Christian darum bitten, ihr einen seiner Businesstrolleys auszuleihen. Der würde auch eher in dieses Umfeld passen als ihre ausgebeulten Umhängetaschen. Und Christian, der braucht die Trolleys jetzt ja nicht.