Kitabı oku: «Wenn Löwen weinen», sayfa 2

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Das klang nicht gerade Erfolg versprechend, aber sie musste jeden verfügbaren Mitarbeiter einbinden. »Haben Sie eine Idee, wie wir mit der Szene Kontakt aufnehmen könnten?«

»Was die machen, ist nicht immer legal, deshalb ist keiner scharf darauf, es mit der Polizei zu tun zu haben.«

»Aber es ist eine Chance herauszufinden, wer der Tote ist. Sie müssen mir helfen.«

Sie ahnte, dass Fischbach ein Frauenversteher war. Und er reagierte prompt: »Wir könnten es anders versuchen, Hella. Es gibt ja nicht nur den Underground. Einige machen das ganz seriös und beruflich. Aber die wissen natürlich voneinander. Vielleicht findet sich auch etwas im Internet …«

»Dann mal los!«

»Das hat Ihr Vater auch immer gesagt.«

»Ich bin jederzeit erreichbar. Und bitte, tu mir einen Gefallen, Kai. Nenn die Straßenkünstler in meiner Gegenwart nie wieder Schmierfinken.«

Seit über einer Stunde keine Rückmeldung. Auch von Tom keine Nachricht. Hella saß an ihrem Schreibtisch, vor sich die Galerie der gesammelten Werke von Straßenherz, soweit sie das Internet hergab. Was der Mitarbeiter der Spurensicherung darüber erzählt hatte, ging ihr im Kopf herum. Von Kunst verstand sie nicht viel, aber sie wusste, dass jeder Maler von Format einen persönlichen Stil hatte, und die Art, wie dieser Straßenherz seine Botschaften darstellte, passte auch zu dem Graffiti in der Weststadt. Für sie bestand kaum noch Zweifel, dass es sich um ihn handelte. Offenbar hatte ihn einer seiner Feinde aufgespürt. Der »Miethai« auf der Hauswand hätte ihm zumindest neue beschert …

Solange seine Identität unklar blieb, war alles Spekulation, und Hella hatte kaum Anhaltspunkte. Die Tat konnte geplant, aber auch das Ergebnis einer zufälligen nächtlichen Begegnung sein: jugendliche Schläger, die ein Opfer suchten, oder einer dieser Gewalttäter, die von gleich auf jetzt einfach durchknallten. Sie griff zu ihrem Handy, um Tom anzurufen, als das Display aufleuchtete.

»Hella Budde.«

»Dr. Weinreb hier, Gerichtsmedizin. Sind Sie die neue Kommissarin?«

»Ja«, antwortete Hella der tiefen weiblichen Stimme, im Hintergrund klirrte Besteck wie in einer Restaurantküche.

»Vor mir auf dem Tisch liegt der Leichnam des Mannes, den Ihre Leute in der Weststadt aufgefunden haben: circa achtundvierzig Jahre alt, eins siebenundsiebzig groß, bringt knapp dreiundachtzig Kilo auf die Waage. Identität unbekannt …«

»Gibt es bereits Befunde?«, unterbrach Hella.

»Sie haben Humor, ich fange gerade an. Aber unabhängig von der Obduktion kann ich Ihnen einen Tipp geben: Ich glaube, den Mann zu kennen. Aus dem Kunstverein. Der Tote hat starke Ähnlichkeit mit Bernhard Jelinski, dem Direktor vom Herzog Anton Ulrich-Museum. Ich bin mir allerdings nicht sicher, denn ich komme nur selten unter Leute und schwänze regelmäßig die Jahreshauptversammlungen …«

»Danke Ihnen …«

»Viel Glück. Ich melde mich, wenn der Bericht fertig ist.«

Dr. Weinreb hatte aufgelegt, als sich Fischbach am Dienstapparat meldete.

»Wir haben den ersten Hinweis. Der Mann ist angeblich vorgestern auf einem Rummelplatz in Rüningen gesehen worden …«

»Sehr gut, Kai, weitermachen!« Schließlich konnte auch eine Gerichtsmedizinerin irren. Solange nicht unumstößlich feststand, dass der Straßenmaler, den Hella für Straßenherz hielt, in seinem bürgerlichen Leben Museumsdirektor war, würde sie Fischbach nicht zurückpfeifen. Wo blieben nur die Nachrichten von Tom?

Ein Vergleich der Fotos aus der Gerichtsmedizin mit denen im Internet, die Jelinski in der Öffentlichkeit und als Leiter des Museums zeigten, ergab eine starke Ähnlichkeit. Der nächste Schritt war, zu überprüfen, ob es sich um einen Zufall handelte. Die Jelinskis standen sogar im Telefonbuch – mit Adresse. Noble Gegend. An der Herzogin-Elisabeth-Straße gegenüber vom Prinzenpark reihten sich die alten Gründerzeitvillen aneinander. Hohe Sonnenfenster, glänzendes Parkett, stuckverzierte Decken …

Hella ließ es zweimal durchklingeln, ohne Erfolg. Auf dem Anrufbeantworter bat sie um Rückruf, hielt es aber keine zehn Minuten untätig aus. Jelinskis Frau hieß Désirée, und wenn die Infos stimmten, die Hella mit ein paar Klicks aus dem Internet zog, dann arbeitete sie als Professorin für Kunstwissenschaft an der hiesigen Hochschule. Zwei Anrufe später brachte ihr die Sekretärin in der Verwaltung der Hochschule zur Kenntnis, dass die Frau Professor gerade eine Vorlesung halte und nicht zu sprechen sei. Bei einem Tötungsdelikt gab es keine Extratouren, dachte Hella und beschloss, der Dame persönlich einen Besuch abzustatten.

Die Vorlesung war offenbar gerade beendet, alle Studierenden strebten gleichzeitig dem Ausgang zu. Hella betrat den Raum, als sich die Professorin nur noch im Gespräch mit einem jungen Mann befand, athletisch gebaut, mit einem gewissen verwegenen Lächeln – bei dem Anblick durchfuhr es Hella. Der Typ Mann, der einmal das Gesetz der Schwerkraft in ihrem Leben ausgehebelt hatte und nie mehr eine Rolle darin spielen durfte. Aber die Erinnerung an Billy wurde sie einfach nicht los.

»Jelinski, kann ich etwas für Sie tun?« Allein die Erscheinung der Frau zog Aufmerksamkeit auf sich, ihr modisches Outfit zusammen mit der krebsroten Haarsträhne über der Stirn erweckten einen selbstbewussten Eindruck. Ihre tadellose Figur ließ auf den ersten Blick glauben, dass die Professorin selbst zu den Studierenden gehörte. Erst beim zweiten Hinsehen verriet sich, dass sie die fünfzig überschritten hatte. Auch lag in ihrem Blick etwas Erfahrenes, vielleicht auch Müdes, das Reife voraussetzte.

»Budde, Kriminalhauptkommissarin«, erwiderte Hella.

»Kommissarin? – Ist etwas passiert?«

»Leider ja, wir haben eine Leiche gefunden.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Das wissen wir noch nicht. Alles, was wir wissen, ist, dass es sich um einen Straßenmaler, einen Street-Art-Künstler handelt.« Wenn Désirée Jelinski etwas Neugier gezeigt hatte, entspannte sie jetzt völlig.

»Entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Inwiefern betrifft das mich?«

»Gegenfrage: Haben Sie Ihren Mann heute Morgen bereits gesehen?«

»Sie meinen, es könnte … mein Mann … ein Straßenmaler? – Ausgeschlossen!«

Klang da etwa akademische Borniertheit an?

»Möchten Sie meine Frage beantworten? Wir haben gute Gründe …« Anscheinend imponierte Hellas bestimmter Tonfall der Professorin.

»Also gut: Am Montag, wenn die Museen geschlossen haben, halten wir gewöhnlich ein ausführliches gemeinsames Frühstück ab. Das kann bis nach elf dauern. Wir erzählen uns dann, was die vergangene Woche so gebracht hat. Ansonsten begegnen wir uns allerdings kaum beim Frühstück. Mein Mann ist Frühaufsteher, wissen Sie. Heute habe ich ihn noch nicht gesehen. Manchmal übernachtet er auch bei Freunden und frühstückt dort.«

»Wo könnte er sich jetzt aufhalten?«

Geduld schien nicht die Stärke der Professorin zu sein. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, seufzte und griff nach ihrer Handtasche, die noch auf dem Tisch lag. Doch diese Frage musste sie noch beantworten, dachte Hella, bevor sie die nächste Stufe zündete.

»Na, im Museum. Soviel ich weiß, bereitet er gerade eine neue Ausstellung vor. In diesen Tagen sollten die Leihgaben aus Zürich angeliefert werden. Ich gebe Ihnen gerne Bernhards Durchwahl. Auf mich wartet ein wichtiger Termin. Eine unaufschiebbare Projektbesprechung.«

Hella blieb, wo sie war. »Bitte rufen Sie in meiner Gegenwart selbst kurz durch, dann ist die Angelegenheit geklärt.«

»Also gut«, klang es beinahe zickig. Offenbar war die Professorin es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach. Sie drückte die eingespeicherte Nummer. Doch es meldete sich niemand. »Hören Sie, Frau … Budde. Auch wenn ich ihn jetzt nicht erreiche. Mein Mann ist Museumsdirektor und kein Straßenmaler.«

Der Zeitpunkt war gekommen. Hella zeigte ihr die Fotos aus der Gerichtsmedizin: das bleiche, aber unversehrte Gesicht des Toten frontal, von oben und von allen Seiten.

Der Blick der Professorin prallte davon ab wie ein Gummiball. »Er ist es nicht. Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt. Und jetzt lassen Sie mich …«

»Es tut mir leid. Ich muss Sie bitten, mich in die Gerichtsmedizin zu begleiten.«

Während der kurzen Fahrt schwiegen sie. Die angespannten Züge der Professorin verrieten ihren äußersten Unmut darüber, dass eine kleine, übergewichtige Polizistin sie so einfach abkommandieren durfte, und er klang noch in dem Klacken ihrer Absätze nach, als sie den Gang zum Obduktionssaal betraten.

Hella wusste, was auf sie zukam, für sie war es nicht das erste Mal. Fast unmerklich würde sich ein mit nichts zu vergleichender Geruch ihrer Atemluft beimischen, der immer intensiver wurde und ein beängstigendes Gefühl hervorrief: der Geruch der Verwesung. Dumpfe Noten von Desinfektionsmitteln, Formaldehyd und menschlichen Ausscheidungen drangen durch die Nase bis ins Gehirn. Als die Wirkung bei Désirée Jelinski eintrat, verlangsamte sie ihren Schritt. Ihr Gesicht verfiel in Sekunden. Sie hielt sich die feingliedrige rechte Hand vor Mund und Nase und vermied es, Hella in die Augen zu sehen.

Sie waren am Ziel. Ein von Edelstahl blinkender, vom Boden bis zur Decke weiß gefliester Raum, der auf den ersten Blick an eine Großküche erinnerte, lag vor ihnen, mehrere Obduktionstische standen in Reihe. Am Ende des Saals unterbrach eine hoch gewachsene Person in grüner Berufskleidung ihre Arbeit.

»Kommissarin Budde?«, hallte es zu ihnen herüber.

»Ja. Ich bringe Ihnen …«

»Frau Jelinski?«

Désirée Jelinski hatte es die Sprache verschlagen.

»Ja«, übernahm Hella.

»Einen Moment, bitte. Bleiben Sie da stehen, wo Sie sind.«

Der Geruch nach Desinfektionsmittel überflutete alle anderen Eindrücke. Als sie vortreten durften, war die Leiche mit einem weißen Tuch bedeckt, ringsherum befanden sich noch blutverschmiertes Schneidewerkzeug und Organschalen.

»Warum haben Sie sich nicht vorher gemeldet?«, murrte die Ärztin. »Wir können schließlich nicht zaubern.« Sie hatte sich an das Kopfende des Tisches begeben und zog jetzt langsam das Tuch von der Leiche.

Hella blieb aus gutem Grund an der Seite der Professorin, schließlich konnte man nie wissen.

»Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, das ist nicht mein Mann«, fuhr die jedoch gleich gereizt auf. »Wir können gehen!« Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie los, an den Stahlregalen vorbei in Richtung Ausgang. Dr. Weinreb hielt Hella an der Schulter zurück und drückte ihr etwas Rundes, Hartes in die Hand.

Kurz bevor Désirée Jelinski die Schwingtür erreicht hatte, holte Hella sie ein. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie ganz ruhig und zeigte ihr, was die Ärztin ihr mitgegeben hatte. »Er steckte am Mittelfinger des Toten. Darin ist eine Gravur.«

Der bestürzte Blick der Frau verriet, dass sie begriffen hatte. Den Ehering ihres Mannes mit zitternden Händen umfassend, gab sie ihren inneren Widerstand auf: »Ja, er ist es, Bernhard Jelinski, mein Mann.«

3. Versteckspiel

Die Frau, die Hella noch vor einer halben Stunde so selbstbewusst gegenübergetreten war, kauerte jetzt wie ein verstörtes Kind auf dem Beifahrersitz ihres Einsatzwagens. Medizinische und psychologische Hilfe hatte sie abgelehnt, sie wolle jetzt nur noch nach Hause. Hella hatte getan, was getan werden musste, Senge die neuesten Ergebnisse mitgeteilt und die KTU zu der Adresse der Jelinskis bestellt.

Dort öffnete ihnen eine Haushälterin die Tür zu einer riesigen Altbauwohnung, bei deren Ausstattung nichts dem Zufall überlassen worden war. Kunst an den Wänden und in allen Ecken. Ein Kapitalverbrechen passte eindeutig nicht hierein, dachte Hella. In einem der hohen Räume machte die Professorin halt und sank kraftlos auf eine muschelförmige Couch.

»Ich möchte jetzt allein sein«, sagte sie kleinlaut.

Nachvollziehbar, doch Hella hatte einen Fall zu lösen und ihr lief die Zeit davon. »Es bleiben viele unbeantwortete Fragen, Frau Dr. Jelinski. Bislang ist nur die eine Identität Ihres Mannes geklärt. Wir wissen, dass er der Museumsdirektor Bernhard Jelinski war, aber das schließt nicht aus, dass er auch der Street-Art-Künstler Straßenherz gewesen sein könnte.«

Désirée Jelinski zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste zwar nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, aber bitte, wenn es sein muss, stellen Sie Ihre Fragen.« Sie schenkte sich Mineralwasser ein, das in einer Karaffe auf dem polierten Marmortisch stand.

»Hat Ihr Mann selbst gemalt?«

In dem Moment hallte ein Gong durch die Räume.

»Das werden die Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchung sein. Der Durchsuchungsbeschluss folgt. Ich gehe davon aus, dass Sie einverstanden sind.« Hella wollte die Tür öffnen, aber die Haushälterin kam ihr zuvor.

»Glauben Sie etwa, ich hätte etwas damit zu tun?«, entgegnete die Witwe mit müder Empörung.

»Mit Glauben hat das nichts zu tun. Wir machen nur unseren Job. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Ja, er malte als Hobby. Er bekam manchmal solche Anwandlungen, als fühlte er sich verpflichtet, selbst zum Pinsel zu greifen.« Offenbar hielt sie nichts von den künstlerischen Ambitionen ihres Mannes, wie unschwer herauszuhören war. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Er war ein genialer Aussteller, niemand konnte Kunstwerke besser präsentieren und den Leuten näherbringen als er. Aber man sollte seine eigenen Grenzen kennen.«

»Wo hat er gemalt, und was?«, fragte Hella.

Désirée Jelinski erhob sich und öffnete eine der Flügeltüren, die direkt vom Wohnsalon ausgingen. Sie führte in eine Art Atelier, anscheinend Jelinskis häuslicher Arbeitsraum. In einer Ecke befanden sich Staffelei und Malwerkzeug. Aber es roch weder nach frischer Farbe noch nach Terpentin, und die Bilder, die an der Wand hingen oder daran lehnten, hatten mit denen, die Hella von Straßenherz kannte, nichts zu tun: Landschaften und Stadtansichten, langweilig und fast laienhaft gemalt. »Wann hat Ihr Mann das letzte Mal den Pinsel in die Hand genommen?«

»Ist bereits länger her. Ich hatte immer die stille Hoffnung, dass er endlich damit aufhört.«

Vielleicht spielte er Versteck, dachte Hella. »Hatten Sie eine gute Ehe?«

Doch die Antwort blieb aus. Désirée Jelinskis Augen füllten sich mit Tränen, das Ende ihrer Belastbarkeit war offenbar erreicht. Hella entschloss sich, die Befragung abzubrechen, als einer der Kollegen der KTU im Raum stand.

»Habt ihr etwas gefunden, das auf Straßenherz hindeutet?«, fragte sie.

Ein Kopfschütteln war die Antwort.

»Gehören weitere Räume zur Wohnung, Kellerräume zum Beispiel?«, wandte sie sich an die Witwe.

»Ja, ein Keller und ein Abstellraum im Speicher. Meine Haushaltshilfe wird Ihnen die Schlüssel dafür geben.«

Nachdem die Kollegen von der KTU auch Speicher und Keller durchsucht hatten, mussten sie ohne nennenswerte Ergebnisse abziehen. Doch in Jelinskis Büro im Herzog Anton Ulrich-Museum wartete neue Arbeit auf sie.

Um 12.34 Uhr stellte Hella den Einsatzwagen auf dem Hof des Kommissariats ab und ging die wenigen Schritte in die Innenstadt zu Fuß. Die Mittagspause bot Gelegenheit, sich die Braunschweiger Luft um die Nase wehen zu lassen und irgendwo etwas zu essen. Stimmengewirr, Alltagstreiben auf dem Markt. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hindurch. Diese Seite der Altstadt hatte Hella immer besonders geliebt, die Burg Dankwarderode, den Dom. Auf der anderen Seite waren jetzt die Schlossarkaden dazugekommen, das verrückte Happy Rizzi House … Man konnte es spüren, Braunschweig hatte sich erneuert, war mehr als die legendäre Löwenstadt mit den Denkmälern, sie war im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen, sie sprudelte, diese Stadt.

Der Kohlmarkt lag vor ihr mit dem alten Brunnen. »Siehst du, ich habe dir gesagt, du musst aufpassen. Jetzt ist sie kaputt.« Da war sie wieder, die Stimme ihrer Mutter mit dem griechischen Akzent, der zu ihr gehörte und den sie nie verloren hatte. Es war hier am Kohlmarkt gewesen, Hella hatte sich ihre neue Strumpfhose an den rauen Mauersteinen zerrissen. Sie hatte ihre Mutter geliebt, sehr sogar, aber es war nicht genug gewesen. Als sie plötzlich krank und immer dünner wurde, hatte ihr Vater zu ihr gesagt: »Du musst jetzt ganz besonders lieb zu Mami sein, Prinzessin, dann wird sie wieder gesund.« Doch Hella war nicht lieb genug gewesen, denn plötzlich lag Mami im Sarg, die Sonne war aus ihrem Gesicht verschwunden, die ihr Dad immer darin gefunden hatte. Dass er seine Kathyna, sein Kathrinchen, so früh an den Himmel abgeben musste, hatte er nie verwunden, und Hella, dass ihre Liebe nicht gereicht hatte, um ihre Mami zu retten. War die Idee wirklich so gut gewesen, zurückzukehren und die alten Erinnerungen wiederaufleben zu lassen?

»Der schönste Platz in ganz Braunschweig …«

Die Stimme kannte sie. Kollege Fischbach saß kauend an einem der runden Bistrotische auf der Schattenseite des Kohlmarktes. Er schien sich vor allem von Baguettes zu ernähren.

»Ist er es oder ist er es nicht?«, fragte er.

Hella war klar, was er meinte. »Museumsdirektor ja, aber ob er Straßenherz ist, hat sich bisher nicht bestätigt.« Sie setzte sich zu ihm, obwohl sie lieber allein geblieben wäre. Aber in seiner Gegenwart würde sie sich beim Essen weniger beobachtet fühlen. Sie warf einen Blick auf die Speisekarte, als sich ihr Handy meldete. Fischbach hörte auf zu kauen. Der Kurzbericht von der KTU aus dem Museum.

»Und?«, fragte er, kaum dass sie das Handy vom Ohr genommen hatte.

»Keine weiteren Anhaltspunkte.«

»Es kann Zufall sein, aber bitte erklär mir einer, was Jelinski in der Weststadt zu suchen hatte«, sagte Fischbach und stopfte sich etwas Thunfisch in den Mund.

Wieder das Handy. Désirée Jelinski. »Wir kommen«, sagte Hella und zwinkerte Fischbach zu.

Sein Wagen stand gleich um die Ecke, und bis zur Wohnung der Jelinskis am Prinzenpark waren es nur wenige Minuten.

»Mit einem einfachen Polizistengehalt kommt man in dieser Gegend nicht weit«, seufzte Kai, als er den Motor abstellte. »Aber um das zu schaffen, muss man Karriere machen, Karriere um jeden Preis …« Er seufzte.

Fischbachs larmoyanter Unterton gefiel ihr nicht. Hella kannte diese Sprüche von ihrer alten Dienststelle. Hoffentlich gehörte Fischbach nicht auch zu der Sorte Frustschieber, die andere nur ausbremsten. Leider konnte sie sich die Kollegen nicht aussuchen.

Die Witwe öffnete ihnen selbst die Haustür. Nach dem Schock am Morgen wirkte sie wieder aufgeräumt. »Entschuldigen Sie«, wandte sie sich sofort an Hella, »das Gartenhaus hatte ich ganz vergessen. Wir nutzen es als Abstellkammer für ausrangierte Möbel und allerlei Krimskrams, betreten es aber kaum. Ich jedenfalls bin dort eine Ewigkeit nicht mehr gewesen. Ich zeige es Ihnen gern, bitte kommen Sie mit.«

Hinter der Villa erstreckte sich ein von einer alten Linde überschattetes Wiesengrundstück, an dessen Ende das von Sträuchern überwucherte Gartenhaus lag. Die Holztür ließ sich nur schwer öffnen, worauf ihnen der starke Geruch von Fäulnis und Moder entgegenschlug. Zwei kleine Fenster erhellten den Innenraum, der mit alten Holzmöbeln zugestellt war.

»Bernhard konnte sich so schwer trennen, wissen Sie. Das sind noch Stücke von seinem Vater«, sagte Désirée Jelinski.

Hellas Aufmerksamkeit lag auf etwas anderem. »Fällt dir was auf, Kai?«, fragte sie. Warum sollte der Kollege nicht arbeiten? Dann kam er wenigstens nicht auf falsche Gedanken. Fischbach ließ die Blicke schweifen, allerdings ohne einen Geistesblitz folgen zu lassen.

»Staub … Auf dem Schreibtisch befindet sich kein Stäubchen, als hätte jemand gewischt.«

»Ja, und Spinnweben gibt es auch nicht.« Fischbach war offenbar aufgewacht.

Sie öffneten alle Schränke und Schubladen, gerieten jedoch nur an fleckige Postkarten und vergilbte Romane. Wenn die Leiche Straßenherz gewesen war, dann machte er sie noch nach seinem Tod zum Affen, dachte Hella. »Nichts, ich glaube, wir sind hier …«

»Moment, Hella«, bremste jetzt Fischbach, offenbar hatte er vorhin ihre Gedanken gelesen. Mit dem Fuß schob er das Stück abgewetzten Teppich zur Seite, anscheinend wollte er beweisen, dass er nicht zu den Frustschiebern zählte, die nichts als Dienst nach Plan verrichteten. Unter dem Teppich befanden sich allerdings nur morsche Dielen und flüchtende Kellerasseln. Hella hätte ihm den Erfolg gegönnt.

»Danke Kai, aber ich glaube, wir sind hier fertig.«

Fischbach schien es nicht gehört zu haben, jedenfalls begann er, die Wände abzuklopfen. Zuerst die Wand zur Gartenseite, dann die Rückwand, anschließend nahm er sich die Wand an der Grundstücksmauer vor, als es plötzlich hohl klang.

Kommissariat Mitte. Fischbach sei es zu verdanken, dass sie das Ergebnis vorweisen könnten, betonte Hella dem Kriminalrat gegenüber, als sie ihm kurz vor drei in seinem Büro Bericht erstattete. »Jelinski versteckte seine Entwürfe und sein Arbeitsmaterial in einer Art Geheimfach in der Mauer des Gartenhauses. Offenbar bereitete er seine Arbeiten präzise vor, wie aus den Entwürfen zu erkennen war. Die Kollegen von der KTU werden sich das noch näher anschauen.«

Senge lief vor dem Schreibtisch nervös auf und ab und knetete seine bleichen Hände. »Der Direktor unseres bekanntesten Museums ist also Straßenherz. Eine Sensation … Ich meine, eine traurige Sensation.« Der Kriminalrat war anscheinend ebenso erstaunt über die doppelte Identität Jelinskis wie die Witwe. »Wir dürfen jetzt nicht durchdrehen, verstehst du, Hella«, murmelte er, während er sich die wenigen Haare auf seinem Kopf raufte. »Wir konzentrieren uns ganz auf die solide Polizeiarbeit, Schritt für Schritt …«

Was sonst, dachte sie, aber sie verstand seine Anspannung in der Situation. Alle Augen richteten sich plötzlich auf seine Abteilung, und jeder Fehler zählte doppelt. Vielleicht würde es der Fall seines Lebens werden, sein Name auf Gedeih und Verderb mit ihm verknüpft sein …

»Es könnte der Fall deines Lebens werden, Hella. Du hast das Zeug dazu, ihn zu lösen, und ich habe Vertrauen zu dir. Also, enttäusche mich nicht!«

Ach ja, natürlich. Wie konnte sie das nur vergessen? – Im Zweifelsfall blieb der schwarze Peter immer an den Ermittlern hängen.

»Ich weiß, was zu tun ist, Ludger«, erwiderte sie. Der Kriminalrat nickte wortlos. Offenbar war er in Gedanken bereits weit weg, als es an der Tür klopfte und die Sekretärin erschien. Noch bevor sie »Pressekonferenz« ganz ausgesprochen hatte, eilte Senge bereits hinaus.

16.58 Uhr, seit dem Frühstück hatte Hella nichts gegessen. Die Kantine war längst geschlossen, wenigstens gab es dort einen Sandwich-Automaten. Sie wollte sich soeben aufmachen, als Tom mit seinem Bubencharme in der Tür zu ihrem Büro stand, den morgendlichen Anruf bei Senge schien er völlig vergessen zu haben.

»Glückwunsch zu dem Erfolg«, sagte er. »Manchmal wächst der gute Kai direkt über sich hinaus.« Natürlich musste er betonen, dass Fischbach das Versteck des Malers gefunden hatte und nicht sie. Das war zu erwarten gewesen, trotzdem fiel es ihr nicht leicht, sich ein Lächeln abzuringen. Friede zwischen ihnen war noch nicht in Sicht …

Tom Seipold drehte den Stuhl vor ihrem Schreibtisch um und schwang sich demonstrativ locker auf die Sitzfläche. »Hier mein Kurzbericht. Ich habe noch einmal den Zeitungsjungen und die Mieter von Haus Nummer acht befragt«, begann er. »Außerdem soll sich der Hauswart bei uns melden, wenn er etwas in Erfahrung bringen kann, das uns bei der Rekonstruktion der Tat helfen könnte.«

»Also für mich bitte noch mal von vorn, Tom.«

»Dem Zeitungsjungen ist kurz vor sechs das Geschmiere auf der Fassade von Nummer acht aufgefallen und dass etwas davor am Boden lag. Er konnte aber von der Straße aus nicht erkennen, dass es sich um einen Menschen handelte. Erst später dämmerte es ihm …«

»Wann genau war das?«

»Etwa eine halbe Stunde danach, also gegen 6.30 Uhr, als er mit dem Fahrrad nach Hause fuhr. Er blieb dann stehen und schaute nach, weil ihm das Ganze verdächtig vorkam. Als er entdeckte, dass in den Klamotten ein Toter steckte, benachrichtigte er sofort die Streife. Der Junge war fix und fertig. Ich glaube kaum, dass er etwas mit der Tat zu tun hat.«

»Möglich ist aber, dass er unbewusst Zeuge von etwas wurde, von dem er nicht ahnt, dass es uns weiterführt …«

»Mir hat er jedenfalls gesagt, dass ihm nichts weiter aufgefallen ist.«

»Gibt es in diesem Viertel eine Bürgermiliz oder Ähnliches, die nachts patrouilliert?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Dann bringen Sie es bitte in Erfahrung.« Die Art, wie er sie angrinste, provozierte sie, aber er sollte es nicht schaffen, sie aus der Reserve zu locken. Außerdem hatte sie nicht die geringste Lust, wieder bei Senge antanzen zu müssen. »Gibt es etwas von den Nachbarn zu berichten?«

»Angeblich haben sie nichts gesehen und gehört. Zwei Parteien hatten den Fernseher aufgedreht wegen der Fußballübertragung, außerdem war Alkohol im Spiel; ein Rentnerehepaar ist bereits nach den Zwanzig-Uhr-Nachrichten ins Bett gegangen; eine Alleinstehende hat Schlaftabletten genommen. Soweit die erste Spurenermittlung ergeben hat, fanden sich auf dem knochenharten Boden keine Druckstellen, die auf einen Kampf schließen lassen. Der Tathergang liegt also noch ziemlich im Dunkeln. Wir wissen nur eins: Auffindeort ist auch Tatort.«

»Und was macht Sie da so sicher?«, unterbrach sie ihn.

»Soweit die KTU fürs Erste feststellen konnte, lässt allein die ausgetretene Blutmenge darauf schließen.«

»Sehr gute Arbeit, Tom«, erwiderte Hella, auch wenn sie sich darüber ärgerte, dass er sich die Ergebnisse der KTU beschafft hatte, ohne sie ihr weiterzuleiten. Offenbar verdankte er dies seinen Beziehungen, obwohl die Kollegen ausdrücklich instruiert waren, die Ergebnisse zuerst ihr mitzuteilen.

Augenblicklicher Stand der Dinge war: Es gab einen Leichenfund, es lag ein Tötungsdelikt vor, sie kannten die Identität des Toten, allerdings fehlte die Waffe, und der Kreis von Tatverdächtigen konnte die halbe Stadt sein. Sie hatten kein konkretes Verdachtsmoment an der Hand, von einem belastbaren Motiv ganz zu schweigen. Nähere Untersuchungen liefen noch, Ergebnisse nicht vor morgen, und es galt die alte Regel: Bei Fällen, die nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden gelöst wurden, sank die Aufklärungsquote rapide. Das bedeutete: Hella musste das Tempo der Ermittlungen hochfahren.

»Versuchen Sie weiter, so viele Fakten wie möglich über Jelinski zu sammeln«, gab sie Tom auf. »Vor allem müssen wir herausfinden, wem er als Straßenherz im Laufe der Jahre besonders auf die Füße getreten ist.«

Als Tom Seipold gegangen war, warf Hella einen Blick auf ihre E-Mails. Fischbach hatte bereits jede Menge Fotos von Jelinski als Museumsdirektor geschickt. Eines von ihnen zoomte sie heran. In der Vergrößerung bestachen die wachen Augen, der schalkhafte Zug um den Mund, der Humor vermuten ließ. Dabei war der Mann nicht auffallend gut aussehend. Vielleicht strahlte er das aus, was man Charisma nannte. Allein das geheimnisvolle Doppelleben faszinierte sie. Nicht nur vor der Öffentlichkeit hatte er es erfolgreich verborgen, der Gedanke an die dilettantischen Ölgemälde in seiner Wohnung ließ Hella kurz laut auflachen. Seine Frau Désirée hatte er damit geradezu verspottet. Aber am Ende musste es durchgesickert sein. Hatte es eine Bedeutung, dass er während der Arbeit getötet worden war?

Im Internet waren Straßenherz’ Werke leicht aufzufinden, auch die Daten, wann und wo sie – mit den berühmten Initialen SH signiert – aufgetaucht waren. Darüber hinaus stellte ein zwei Jahre alter Zeitungsartikel einen interessanten Zusammenhang dar: Wenn Straßenherz ein neues Bild gesprayt hatte, wurden oft größere Summen für soziale Zwecke gespendet. Meistens hatte es mit der Botschaft auf den Bildern zu tun. Ebenso freute sich der Kunstverein größter Beliebtheit, in dessen Vorstand Jelinski als Museumsdirektor saß. Auch hier stand sein Name in Verbindung mit der Beschaffung von Spendengeldern in beachtlicher Höhe für Ausstellungen und den Ankauf neuer Werke.

Ein unüberhörbares Geräusch mischte sich in ihre Gedanken, es kam aus der Magengegend und Hella wusste, was es bedeutete. Der Heißhunger war da. Warum hatte sie es wieder zugelassen? Sie wusste doch, wenn sie versuchte, ihn zu ignorieren, wurde er nur noch schlimmer. Die Säfte in ihrem Mund zogen sich zusammen, vor ihrem inneren Auge wuchs ein Berg Spaghetti in den tomatenroten Himmel, an dem sie nicht mehr vorbeikam …

Doch diesmal stand Senge in der Tür, er schien außer sich: »Sie erwarten Unmögliches von uns, aber was auch sonst? Als müsste ich nur eine Horde Trüffelschweine auf die Duftspur des Täters setzen. Wie konnte Straßenherz die Polizei so lange an der Nase herumführen, hat eine dieser Pfeifen gefragt. Als hätten wir nichts anderes zu tun, als alle Sprayer der Stadt zu überwachen.«

Die Presse hatte ihm anscheinend stark zugesetzt. Hella ahnte, was gleich käme.

»Ich erwarte, dass ihr euer Bestes gebt …«

Darauf konnte sie nur entgegnen: »Immer mit der Ruhe, Ludger, Tom und Fischbach arbeiten an ihren Berichten, morgen früh liegen sie auf deinem Schreibtisch. Dann werden wir auch offiziell die ersten Zeugen vernehmen.«

Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ließ es dann aber. Offenbar hatte er verstanden, dass in diesem Büro gerade einer zu viel war. »Also dann wünsche ich einen schönen Feierabend«, sagte er und verzog sich.

Einen unbestreitbaren Vorteil hatte ihre Wohnung: Zur Ausstattung gehörte eine neuwertige Einbauküche mit Umluftbackofen, der darauf wartete, ausprobiert zu werden. Teig für eine Familienpizza, Salami, Tomaten, Zwiebeln und frische Peperoni hatte Hella auf dem Nachhauseweg besorgt, es gab auch keinen Grund, auf ihr Lieblings-Tiramisu zu verzichten. Niemand sollte es wagen zu behaupten, dass sie sich ihr Essen nicht verdient hätte. Ohne etwas im Bauch könne man nicht nachdenken, hatte schon der gute alte Henning Budde gesagt. Und auf seinen Vater sollte man hören. Allerdings war es ihr ein Rätsel geblieben, wie es ihm bei seinem Appetit und dem Gardemaß von eins neunzig gelungen war, unter hundert Kilo zu bleiben.

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22 aralık 2023
Hacim:
262 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783839270103
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