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Engagementförderung und Demokratiestärkung in ländlichen Räumen – Was sagt die Forschung?

Janine Dieckmann

Christine Eckes

Wissenschaftliche Publikationen und Studien zu Engagement im ländlichen Raum gibt es viele. Doch bisher fehlte es an einem systematischen Blick auf die vorhandenen Ergebnisse der Engagementforschung. Um den aktuellen Stand der Forschung zusammenzufassen, gab das BBE 2018 eine Literaturanalyse zum Themendreieck ‚Engagementförderung – Demokratiestärkung – Ländlicher Raum’ in Auftrag (gefördert vom BMFSFJ im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie Lebenty. Mit der Durchführung wurde das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) betraut. In die Literaturanalyse wurden 60 Studien der letzten zehn Jahre einbezogen, die sich mit bürgerschaftlichem Engagement und/oder Demokratiestärkung in ländlichen Räumen befassen. Die Literaturanalyse umfasst eine Zusammenstellung der Hauptergebnisse der Studien sowie die Identifikation von Forschungslücken im Bereich der Engagementforschung.

In der Zusammenschau aller Studien ergaben sich vier Themenschwerpunkte, welche in diesem Beitrag kurz beleuchtet werden: (1) die Bedeutung des Strukturwandels ländlicher Räume für Engagement, (2) das Problem der genauen Begriffsdefinitionen, (3) die fördernden und hemmenden Faktoren für Engagement sowie (4) demokratiestärkende Gegenmaßnahmen in Bezug auf Engagement gegen rechtsradikale Einflüsse und Strukturen. Die gesamte Literaturanalyse sowie die dazugehörige tabellarische Übersicht über die Ergebnisse der analysierten Einzelstudien sind online zugänglich.1

Bedeutung des Strukturwandels ländlicher Räume

Rahmend für die Entwicklung von Engagement (-strukturen) ist der Strukturwandel ländlicher Räume, der maßgeblich durch den demografischen Wandel bestimmt wird. In den meisten Studien stellt er den Ausgangspunkt für die jeweilige Untersuchung dar.

Die Zentralisierung wirtschaftlicher Aktivitäten in größeren Städten spielt hierbei eine wichtige Rolle: Junge Menschen wandern in Städte ab, da sie dort Bildungsstätten und Arbeitsplätze finden. Vereine, die eine tragende Rolle für das Engagement in ländlichen Räumen spielen, verschwinden. Gleichzeitig verliert die Kirche als traditionelle Trägerin vieler Aktivitäten an Bedeutung. Auch der Um- bzw. Rückbau sozialstaatlicher Aktivitäten in ländlichen Räumen und der Verlust der damit verbundenen Daseinsvorsorge spielen hierbei eine erhebliche Rolle (z.B. Schließung von Schwimmbädern, Schulen, Kindergärten; Mitgliederschwund in Vereinen und freiwilligen Feuerwehren; Verschlechterung des öffentlichen Nahverkehrs). Die abnehmende Gewährleistung der Daseinsvorsorge durch den Staat birgt die Gefahr, dass bürgerschaftliches Engagement immer mehr in die Verantwortung gezogen wird: Engagierte sollen dort einspringen, wo der Staat sich zurückzieht. Doch große Teile der neueren Engagementforschung warnen: Engagement kann nicht als beliebig verwendbare Ressource betrachtet werden und den Rückbau staatlicher Infrastruktur ausgleichen.

Das bürgerschaftliche Engagement im ländlichen Raum steht durch demografische und infrastrukturelle Veränderungen vor neuen Herausforderungen und verändert sich: Um entstandene Versorgungslücken und fehlende kulturelle Angebote zu kompensieren, bilden sich einerseits gemeinwohlorientierte Zusammenschlüsse und Hilfsstrukturen, die beispielsweise zum Ziel haben, neue Orte der Begegnung zu schaffen oder die Teilhabe älterer Menschen zu ermöglichen. Andererseits steht das Engagement in ländlichen Räumen vor der Herausforderung, dass durch zunehmend flexiblere individuelle Lebenswege die Langfristigkeit von Engagement abnimmt. Immer seltener engagieren sich Menschen über Jahrzehnte für eine Sache (z. B. als Trainer*innen im Sportverein), da sie z.B. aufgrund beruflicher Entscheidungen eher umziehen. Somit findet individuelles Engagement vermehrt kurzfristiger und situations- oder projektbezogen statt. Gerade in ländlichen Räumen ist jedoch ein kontinuierliches Engagement – beispielsweise in der freiwilligen Feuerwehr – notwendig, um das Funktionieren der Strukturen der Daseinsvorsorge zu gewährleisten.

Was ist Engagement und Demokratiestärkung – und was nicht?

Durch die Analyse der Studien zeigte sich, dass es in der Forschungslandschaft an einheitlichen Begriffsdefinitionen für Engagement, Ehrenamt, lokalem Aktivwerden und Demokratiestärkung mangelt. So wird der Begriff des Engagements in einigen Studien sehr weit gefasst und dehnt sich bis in informelle Nachbarschaftshilfe aus. In anderen Studien wird er sehr eng gefasst, sodass nur vereinsgebundenes, institutionalisiertes Engagement erfasst wird. Wichtig ist eine differenzierte Definition von Engagement: Es gibt viele Formen von Engagement, die es anzuerkennen und zu untersuchen gilt, doch nicht jedes Engagement ist bürgerschaftliches Engagement. Im Vorwort der Literaturanalyse warnt Prof. Claudia Neu (Universität Göttingen) vor einer Verwässerung des Engagementbegriffs:

Erweitern wir die Engagementdefinition bis in die Familie und den Freundeskreis hinein, ist bald nicht mehr klar, was gemeint ist, wenn wir über bürgerschaftliches Engagement reden oder wer die Zielgruppe von [politischer und finanzieller] Engagementförderung ist […]. (Eckes et al. 2019, S. 5)

Des Weiteren bleibt in der Forschung bisher die Verknüpfung der Begriffe Engagement und Demokratiestärkung unklar: Handelt es sich bei bürgerschaftlichem Engagement nur um den formalen Akt der demokratischen Teilhabe (z.B. in demokratisch organisierten Vereinen) oder zählen gemeinwohlorientierte Inhalte (des Vereins) ? Bürgerschaftliches Engagement kann an sich zu mehr Teilhabe vor Ort führen, Menschen zu Partizipation ermutigen und somit gesellschaftliche Teilhabe innerhalb einer demokratischen Gesellschaft stärken. Jedoch könnte ohne einen klaren Bezug auf Gemeinwohlorientierung für eine vielfältige Gemeinschaft auch eine Engagementstruktur als bürgerschaftliches Engagement gelten, die einer exklusiven Gemeinschaft gewidmet ist (z.B. „Suppenküchen nur für Deutsche“, „Wir-lieben-[Ortsname]“-Bürgerinitiativen). Es bedarf hierbei immer wieder einer klaren Positionierung:

Demokratiefördernd und eine Zivilgesellschaft bestärkend wirkt Engagement dann, wenn es inklusiv agiert, allen zu Gute kommen soll und nicht exklusiv für bestimmte Bevölkerungsgruppen reserviert ist. (Eckes et al. 2019, S. 32)

Fördernde und hemmende Faktoren für Engagement

Die meistfokussierte Forschungsfrage der Studien war die Identifizierung von engagementfördernden und -hemmenden Bedingungen. Es stellten sich vier zentrale Aspekte als förderlich heraus:

(1) Orte sozialer Teilhabe: Es braucht niedrigschwellig zugängliche zentrale Orte als Kristallisationspunkte für Vernetzungen und als Ideenschmieden. Hierbei werden z.B. Vereinsräumlichkeiten, Jugendclubs oder Pfarrhäuser genannt. Wenn diese sozialen Orte durch infrastrukturellen Wandel als persönliche Bezugspunkte wegfallen, wirkt sich dies hemmend auf das Engagement vor Ort aus. Umso wichtiger ist die Etablierung neuer sozialer Orte als Anlaufpunkte.

(2) Finanzielle Ressourcen: Eine gesicherte, langfristige Finanzierung wird immer wieder als förderlich benannt. Hierbei ist es von zentraler Bedeutung, dass die Engagierten über das Wissen verfügen, wo Gelder ggf. zu akquirieren und wie Anträge zu stellen sind. Darüber hinaus wird gerade diese Antragspolitik als hemmend für Engagement benannt. Hierbei werden viele Ressourcen gebunden bzw. die Motivation Engagierter zunichte gemacht. Des Weiteren führt die selektive, projektbezogene Finanzierung zu einer Verstärkung der Konkurrenzsituation zwischen Initiativen.

(3) Schlüsselpersonen: Von großer Bedeutung und in den Studien immer wieder benannt sind lokale Macher*innen. Sie können impulsgebend für ganze Orte und Regionen sein und halten das Engagement am Leben. Hierbei gilt gerade in ländlichen Räumen der*die Bürgermeisterin meist als das „Zugpferd“ zum Anstoß neuer Prozesse, wobei es oft auch engagierte Privatpersonen sind. Fallen diese Schlüsselpersonen weg, wirkt sich das hemmend auf das Engagement vor Ort aus.

(4) Vernetzung und Kommunikation: Diese Faktoren werden nahezu immer als engagementförderlich genannt. Sie spielen einerseits zwischen den Akteur*innen vor Ort, jedoch auch überregional eine wichtige Rolle. Doch nicht nur die Vernetzung der Engagierten untereinander, sondern auch ein gutes Verhältnis zu Verwaltung, Politik und finanzierungsgebenden Institutionen ist von großer Bedeutung für gelingendes Engagement. Auch die Digitalisierung ermöglicht neue Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten für Engagement. Bei der Entwicklung engagementfördernder Maßnahmen mithilfe digitaler Möglichkeiten ist es jedoch wichtig, exkludierende Mechanismen zu verhindern (z.B. von älteren Menschen).

Neben diesen förderlichen wurden in der Analyse auch Faktoren sichtbar, die sich hemmend auf das Engagement von Menschen auswirken können. So zeigt sich, dass der sozioökonomische Status von Menschen dafür entscheidend ist, ob sie sich engagieren bzw. in welcher Form. Stärker formal gebildete und erwerbstätige Menschen engagieren sich in höherem Maße bürgerschaftlich. In Regionen mit geringer Arbeitslosigkeit ist so auch die Engagementstruktur stärker ausgeprägt. Erwerbslose oder weniger formal gebildete Menschen engagieren sich weniger bürgerschaftlich, werden teilweise von Engagementstrukturen ausgeschlossen bzw. engagieren sich eher in privaten Kreisen (z.B. der Nachbarschaftshilfe).

Des Weiteren fokussieren einige wenige Studien die Bedeutung von Geschlecht für Engagement. Es zeigt sich, dass sich mehr Männer als Frauen engagieren, was sich in ländlichen Räumen stärker ausprägt als in städtischen. Gerade die Unvereinbarkeit von Familie und Engagement ist hierbei ein entscheidender Faktor. Frauen übernehmen oft informelle Aufgaben wie die Betreuung von befreundeten Kindern, während deren Eltern arbeiten.

Auch das Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund ist geringer als von Menschen ohne Migrationshintergrund. Migrationshintergrund ist also scheinbar auch ein hemmender Faktor für Engagement. Doch in diesem Bereich fehlt es an Forschung. Wenn sich Studien mit Engagement und Migration beschäftigen, dann meist mit dem Engagement für Menschen mit Migrationshintergrund als Zielgruppe. Dabei könnte die Untersuchung des Engagements von Menschen mit Migrationshintergrund (und mögliche Hemmnisse für sie, sich zu engagieren) zu einem besseren Verständnis und der Förderung eines interkulturellen Zusammenlebens führen (vgl. Röder 2019).

Gerade in Bezug auf die hemmenden Faktoren kommt es in der Forschung zu einer nicht zu unterschätzenden Widersprüchlichkeit der Definition von bürgerschaftlichem Engagement, die weiter oben besprochen wurde: Bedarf es einer Erweiterung des Blickwinkels des Engagementbegriffs? Was als bürgerschaftliches Engagement verstanden wird, ist maßgeblich historisch geprägt und schließt so u.a. weniger formal Gebildete, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund systematisch aus, obwohl für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer Demokratie informelle Praktiken nicht weniger wichtig sind (vgl. Eckes et al. 2019, S. 31).

Engagement gegen Rechts

Eine besondere Herausforderung für die Zivilgesellschaft – gerade im ländlichen Raum – ist die extreme Rechte. Studien zum Thema Demokratieförderung in ländlichen Räumen befassten sich primär mit den Auswirkungen von Rechtsradikalismus auf Engagement bzw. mit Engagement gegen Rechtsradikalismus. Gerade in Gegenden, in welchen die Engagementstruktur gering ausgeprägt ist, sind extrem rechte Parteien, Strukturen und Akteur*innen besonders stark. Beispielsweise können sie hier leichter Posten in Vereinen übernehmen und so ihr Gedankengut verbreiten. Dadurch wird demokratisches Engagement erschwert. Es kann hierbei sogar aus Angst zum Rückzug aus dem Engagement kommen.

Die Handlungsstrategien in Bezug auf antidemokratische Strukturen und Akteur*innen sind komplex und auf lokales bürgerschaftliches Engagement gegen Rechts angewiesen. In der Studie von Buchstein und Heinrich (2010) zu Gegenmaßnahmen gegen Rechtsradikalismus werden diese in präventive, reaktive, integrative und repressive Strategien unterteilt. Zwei HandlungsStrategien, die eng mit bürgerschaftlichem Engagement verbunden sind, sind die präventive und reaktive. Bei einer präventiven Strategie handelt es sich um eine größere Strategie der Dorfentwicklung:

Präventiv gegen extrem rechte Aktivitäten zu agieren hieße also, neue Formen der Beteiligung zu erproben, um lokale Demokratie zu stärken, flächendeckende Präsenz demokratischer Parteien zu forcieren und eine vorausschauende Bearbeitung lokaler Problemlagen zu etablieren. (Eckes et al. 2019, S. 26)

Wenn bereits etablierte rechtsradikale Strukturen vor Ort vorhanden sind, ist eine reaktive Strategie geboten. Für das Gelingen wird ein Zusammenschluss demokratischer Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik als wichtig angesehen. Zusammen sollten diese eine gemeinsame Problemdiagnose als Ausgangspunkt und eine längerfristige Begegnungsstrategie entwickeln.

Schlusswort

In diesem Beitrag konnten die Ergebnisse der Literaturanalyse und der aktuelle Stand der Forschung zu Engagement und Demokratiestärkung im ländlichen Raum nur umrissen werden. Die Forschungsperspektiven sind unterschiedlich und weisen eine große Vielfalt an Ergebnissen auf, die den variierenden Erkenntnisinteressen geschuldet sind. Entscheidend für die Vielfalt an Ergebnissen ist beispielsweise die fachliche Forschungsperspektive (geografische Raumplanung, soziologische Chancenanalyse, wirtschaftliche Rentabilität) oder aber das Forschungsinteresse (z.B. Evaluation von Förderprogrammen oder breitere, nicht evaluative, themenbezogene Erhebung als Ausgangspunkt). Auch gibt es nicht den ländlichen Raum. Von ländlichen Räumen muss im Plural gesprochen werden, sodass es keine Analyseschablone gibt, nach der in der Forschung und auch in der Praxis vorgegangen werden kann. Für einen umfassenden Überblick empfiehlt sich das Lesen der Literaturanalyse, welche mit einem tabellarischen Überblick über die Inhalte der 60 Einzelstudien ergänzt wurde.

Der hier vorliegende Text ist ein Leicht überarbeiteter Zweitabdruck. Der Artikel erschien am 20.01.2020 erstmalig im Online-Newsletter des BBE und ist hier einsehbar: https://www.b-b-e.de/bbe-newsletter/newsletter-nr-l-vom-2012020/ [23.02.2020].

Literatur

Buchstein, Hubertus/Heinrich, Gudrun: Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Demokratie und Rechtsextremismus im ländlichen Raum. Reihe Wochenschau Wissenschaft. Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2010.

Eckes, Christine/Piening, Marie-Theres/Dieckmann, Janine: Literaturanalyse zum Themendreieck ‚Engagementförderung – Demokratiestärkung – Ländlicher Raum‘. 2019. Online: https://www.idz-jena.de/forschungsprojekte/literaturanalyse-engagementfoerderung-de-mokratiestaerkung-laendlicher-raum/ [20.02.2020].

Röder, Anne: „Integration durch bürgerschaftliches Engagement – eine qualitative Untersuchung engagierter Geflüchteter“, in: Wissen schafft Demokratie: Ländlicher Raum, 5/2019. Online: https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd5-4/ [05.01.2020].

1Die Literaturanalyse ‚Engagementförderung – Demokratiestärkung – ländlicher Raum’ und Auswertungen der Einzelstudien sind hier zugänglich: https://www.laendlicher-raum.info/material-und-links/idz-analyse/ [23.02.2020].


Bittkau: Dorf macht Theater


Theater als gemeinschaftsstiftendes Element auf dem Land Ein Werkstatt-Bericht aus dem Projekt

Dr. Dorothea Lübbe, künstlerische Leiterin

„Meine Liebe, du liebst doch Herausforderungen. Wir hätten da etwas für dich… Wir treffen uns in Bittkau!“

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„Bittkau? Nie gehört. Wo liegt’n das?“

Etwa 90 % der Gesamtfläche in Deutschland sind ländlich geprägt. Hier leben etwa 47 Millionen Menschen auf dem sogenannten Land. Das entspricht mehr als der Hälfte der Gesamtbevölkerung in Deutschland.1 Die Anziehungskraft städtischer Räume ist früher wie heute extrem stark. Hingegen haben es ländliche Räume schwer, damit zu konkurrieren und Anreize zu schaffen, die mit dem breiten Angebot von Städten mithalten können. Insbesondere für kleine Dörfern istt es nicht leicht, mit attraktiven Angeboten für die Bewohner*innen zu punkten. Häufig reicht das Freizeitangebot kaum über den lokalen Sportoder Heimatverein bzw. ein jährlich stattfindendes Schützenfest hinaus.

Dieser Bericht soll dienen zu spiegeln, wie es beispielhaft anhand eines Theaterprojektes der Dorfgemeinschaft in Bittkau (Sachsen-Anhalt) gelang, ein künstlerisch anspruchsvolles Theaterstück in einem Akt der Gemeinschaft zu erschaffen und welche Kräfte hierfür zusammenspielten.

Bittkau, ein Dorf der Einheitsgemeinde Tangerhütte, liegt in Sachsen-Anhalt direkt an der Elbe (150 km westlich von Berlin, 50 km nördlich von Magdeburg) und ist das Zuhause von 569 Menschen.

Einzelnen Radfahrer*innen ist das Dorf am Elberadweg mit der weltweit einzigartigen Flaschenpoststation des Künstlers Benno Zöllner vielleicht aufgefallen. Doch eigentlich kommt man nicht zufällig nach Bittkau. Denn besonders viel gibt es auf den ersten Blick dort nicht zu entdecken.

Das Dorf verfügt über eine notdürftige Infrastruktur von wenigen Einkaufsmöglichkeiten (Bäcker, Tante Emma Laden, Kneipe, Eisdiele). Die Liste, was es in Bittkau nicht gibt, wäre wesentlich umfangreicher, doch die Bewohner*innen des Dorfes sind Expert*innen ihres Alltags und wissen sich gut zu organisieren. Auch die Arbeitsmöglichkeiten sind inzwischen stark begrenzt. Nur vereinzelt hat sich die Handwerks- und Schifffahrtstradition des Dorfes noch bis in die Gegenwart erhalten. Größtenteils nehmen die Bewohner*innen weite Arbeitswege auf sich.

Das Dorfbild ist gezeichnet von kleinen Häuschen, und hier und da kann man hinter den Gartenmauern aufwendig angelegte und liebevoll gepflegte Gärten sehen. Die Bittkauer*innen machen alles selbst und das mit großer Lust. Obwohl das Freizeitangebot beschränkt ist, ist es sehr rege im Dorf: Heimat- und Schifferverein, Freiwillige Feuerwehr, Biker-Club, Jugendclub, Angelverein. Ständig ist etwas los. Über das Jahr verteilt findet allerhand statt: Vom Weihnachtsbaumverbrennen, über das traditionelle Pflaumenmus-Kochen, das gemeinschaftliche Schrottsammeln, einen Sommerball, Aktionen zum Tag des offenen Denkmals, bis hin zu einem kleinen eigenen Weihnachtsmarkt mit eigenem Weihnachtstheaterstück und sogar einem eigenen Kalender und Postkarten mit historischen Nachstellungen des Dorfes in früheren Zeiten gibt es. Die Dorfgemeinschaft engagiert sich unermüdlich für den Erhalt und die Attraktivitätssteigerung des Dorflebens. Und so kam es dann zu der Idee, dass Bittkau auch noch ein eigenes Theaterstück fehlt …

Die Vorgeschichte

In der Diskussion um die Zukunft des lokalen Jugendclubs und einen etwaigen Umzug in den leer stehenden ehemaligen Kindergarten im Gebäude der alten Dorfschule und dessen Ausgestaltung intensivierten sich die bestehenden Kontakte zwischen Astrid Triebe, der Leiterin des Jugendclubs, und dem Team des Bundesmodellprojekts Dehnungsfuge unter der Leitung von Torsten Sowada und Dr. Mieste Hotopp-Riecke, Mitarbeiter der Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. (lkj). Dieser Projektrahmen eröffnet die Möglichkeit, mit finanziellen Mitteln und externen, eingeladenen Künstler*innen einen selbst definierten künstlerischen Prozess unter Beteiligung der Bewohner*innen zu gestalten. In diesem Zusammenhang wurde ich angerufen und eingeladen, in Bittkau mit den Bewohner*innen künstlerisch zu arbeiten.

Im September 2018 findet meine erste Begehung des leer stehenden Kindergartens in der ehemaligen Schule in Bittkau statt. Das Gebäude stand einige Jahre leer. Idee war es, dass der Heimat- und Schifferverein und der Jugendclub hier neue Räumlichkeiten bekommen und somit der Erhalt des historischen Gebäudes und eine Zukunft für beide Initiativen sichergestellt wird. Der Jugendclub Bittkau war bis dato in einem ehemaligen Sportlerheim untergebracht und verfügte dort nicht über ausreichend Platz. Auf kommunaler Ebene musste für das neue Nutzungsvorhaben viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, bis die Bewilligung schließlich erteilt wurde.

Bei diesem Treffen mit den Verantwortlichen beider Einrichtungen sowie den Projektleitern Tosten Sowada und Mieste Hotopp-Riecke, die bereits in der Vergangenheit Projekte mit der Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt e.V. (lkj), dem ICATAT e.V. Magdeburg und den Akteur*innen in Bittkau initiierten, sollte es darum gehen, Ideen zum Einzug in die alte Schule zu sammeln und Gestaltungsmöglichkeiten gemeinsam zu diskutieren. Da hierzu auch die zukünftigen Nutzer*innen des Jugendclubs, also die Kinder und Jugendlichen des Dorfes, befragt werden sollten, begann ich mit einem künstlerischen Visionsworkshop House of the rising sun, in dem die Jugendlichen des Dorfes eingeladen waren, ihre Zukunftsvisionen für den Jugendclub, das Gebäude und Bittkau im Allgemeinen zu formulieren. Daraus entstand ein erstes performatives Projekt, in dem die Kinder und Jugendlichen diese Visionen als Theaterstück vor der Dorfgemeinschaft mit sehr großer positiver Resonanz aufführten. Im Anschluss standen wir zusammen und wussten: Was Bittkau fehlt, ist eine eigene Theaterrevue!

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