Kitabı oku: «Die Zone»

Yazı tipi:


Mireille Zindel

Die Zone

Roman


Die Autorin dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia sowie der Goethe-Stiftung für Kunst und Wissenschaft für die Unterstützung ihrer Arbeit an diesem Roman.

Verlag und Autorin danken für die Unterstützung durch die Stadt Zürich und den Kanton Zürich.


Mireille Zindel

Die Zone

Roman

lectorbooks GmbH, Zürich

info@lectorbooks.com

www.lectorbooks.com

Umschlagbild: Sarah Lee, unsplash.com

Umschlaggestaltung: André Gstettenhofer

Lektorat: Kristina Wengorz

Korrektorat: Patrick Schär

1. Auflage 2021

© 2021, lectorbooks GmbH

Alle Rechte vorbehalten

ISBN E-Pub 978-3-906913-30-8

Inhalt

Die Zone

Badehose, Maske, Nasenklammer, Lampe.

Es ist dunkel in der Tiefe. Dort, wo er hingeht, gibt es kein Blau mehr.

Cyril schultert die Tasche und schlägt den Weg zum Strand ein. Sein Team wartet auf ihn. Heute wird es nur ein leichtes Training sein, um seinen Körper an den Druck zu gewöhnen.

Once you have seen it

you can never unsee it

geht es ihm auf dem schmalen Sandpfad durch den Kopf. Die Wasseroberfläche beim Auftauchen, die zitternden Wellen. Lichtstrahlen, die alles in Blau verwandeln. Und dann: Luft.

Er hält den Weltrekord in Apnoetauchen in der Kategorie No Limit. Zweihundertfünfzehn Meter in einem Atemzug. Mithilfe eines Metallschlittens zieht es ihn in die Tiefe. Ein Druckluftkissen zieht ihn wieder hoch. Bei zehn Metern Tiefe ein kurzer Dekompressionsstopp, bevor er ganz aufsteigt. Lila Luft.

In Moorea, einem Atoll im Pazifischen Ozean, war er zum ersten Mal auf Unterwasserjagd, nur mit Speer und Maske. Nicht einen Fisch hat er mit hochgebracht, doch mit dem Untertauchen nicht mehr aufgehört.

Er war in jedem Ozean, in jedem der kleinen Meere. Seine Lungen fassen viel. Das ist das Resultat alter Geschichten, die längst Teil seines gefügigen Körpers sind. Tochter, Vater, Mutter, Bruder. Alle haben sie die Intensivstation nicht mehr verlassen. Ihre Leben waren vollendet gewesen und auch nicht. Lang, kurz, viel zu kurz gewesen. Sauerstoffunterversorgung und Morphin, bis das Herz versagte.

Die Sauerstoffsättigung fällt und fällt und fällt.

Neunzig Prozent, achtzig Prozent, siebzig Prozent

die Morphinabgabe wird erhöht.

Herzrhythmusstörung im tiefsten Schlaf.

»Ein Schlag pro Minute.«

Das Erstellen der Sterbeurkunde mit dem exakten Todeszeitpunkt. Der Körper wird in einen gekühlten Raum mit fünf Grad Celsius verlegt.

»Wacht er wieder auf?«

Kopfschütteln aufseiten des Arztes. »Möglich, dass er die Augen nochmals öffnet, dass die Lider plötzlich flattern, aber er kommt nicht mehr zu Bewusstsein. Das Morphin wirkt sedierend, das Hirn hat nicht mehr genügend Sauerstoff, ab jetzt schläft er nur noch tiefer und tiefer ein.«

Vater. Zehn Uhr abends, der zweite Mai. Draußen war es dunkel geworden. Ein leiser Regen hatte eingesetzt. Hin und wieder war das entfernte Donnern eines Gewitters zu hören gewesen.

»Dann gehe ich jetzt.«

Er hatte nicht bis zum letzten Atemzug zuschauen wollen. Er wollte seinen Vater regelmäßig atmend in Erinnerung behalten, als würde er zu Hause auf dem Sofa liegen. Cyril verabschiedete sich und ging.

Bis es eines Tages sein eigener letzter Atemzug …

dachte er im blau gefliesten Gang. Grüne Türen. Neonröhren. Viszeral-, Thorax- und Transplantationschirurgie. Magenkrebs. Lungenentzündung.

Als er seinen Vater am nächsten Tag wiedersah, im unterirdischen Aufbahrungssaal, in den Katakomben des Universitätskrankenhauses, war ihm, als atmete er noch.

Da lag er im blauen Krankenhemd, die Haut wie Wachs. Als Cyril die Wange berührte, war er nicht mehr erstaunt über die Kälte.

Von der Kälte seiner Tochter war er noch zurückgeschreckt.

»Kälter, als er es wäre«, bestätigte der Pfleger. »Das liegt am Aufenthalt im fünf Grad kalten Raum.«

Vaters Nase war ganz krumm, nach links geknickt, wegen der Nasensonde, die er zuletzt getragen hatte.

»Er braucht null Prozent Atemunterstützung!«

»Dreißig Prozent.«

»Siebzig Prozent …«

»Herr Salomon? Hören Sie mich? Wir sehen, dass Sie Mühe haben zu atmen. Im Moment gibt es nichts, was wir noch für Sie tun können.«

Ob Vater verstanden hatte, was der Arzt ihm damit sagte?

Neoprenanzug.

Es ist kalt in der Tiefe.

Angefangen hat er in der Kategorie Free Immersion. Es ist eine reine Disziplin. Er zieht sich die Leine runter und wieder rauf. Ohne Flossen. Ohne technische Hilfsmittel.

Du tauchst ab. Wie eine Ente, Kopf voran. Du folgst dem weißen Führungsseil in die Tiefe. Nach zwanzig bis dreißig Metern wird der Druck auf deinen Körper so groß und das Lungenvolumen so klein, dass der Körper von alleine zu sinken beginnt wie ein Stein. Du hast keinen Auftrieb mehr. Der freie Fall. In dem Moment hörst du auf zu schwimmen und konzentrierst dich nur noch auf den Druckausgleich und deine Körperhaltung. Es ist der Moment, da das Meer dich akzeptiert. Du fällst immer schneller und versuchst, diese Geschwindigkeit auszunutzen. Du hast die Augen geschlossen. Es ist wie fliegen. Du fühlst dich gut, denn der Tiefenrausch setzt nach ungefähr fünfundsechzig Metern ein. Der Stickstoff im Körper beginnt, narkotisch zu wirken. Du hast kein Zeitgefühl mehr. Du nimmst die Dinge nicht mehr bewusst wahr.

Die Leine ist genau so lang, wie du am Vortag angegeben hast. Am Seilende hängt ein kleines Klettstück, das reißt du ab und bringst es als Beweis nach oben.

Auf dem Weg nach oben darfst du nicht ungeduldig werden. Du musst auf deine Schwimmtechnik achten. Rhythmische und effiziente Bewegungen.

Bei etwa fünfundzwanzig Metern kommen dir die Sicherheitstaucher entgegen. An der Wasseroberfläche atmest du tief ein. Schon nach dem ersten Atemzug fühlst du dich besser, weil Kohlendioxid aus deinem Körper entweicht.

Zwei Monate vor seinem ersten Wettkampf hatte er zu rauchen aufgehört und mit seinem eigenen Training begonnen. Er war an Bord von französischen Fischerbooten gegangen und jeden Tag ein bisschen tiefer getaucht.

Drei Meter

fünf Meter

sieben Meter

mithilfe eines mit Blei gefüllten Speers.

Irgendwann lässt die Oberfläche dich los.

Den Fischern hatte er nicht erzählt, worum es ihm wirklich ging, doch sie merkten schon bald, dass er nicht zum Fischen mitgekommen war. Er tauchte nie mit einem Fisch auf und blieb immer länger unter Wasser.

Er trainiert, indem er jeden Tag beim Treppensteigen in den fünften Stock die Luft anhält. Im Bett hält er die Luft an. Vor dem Computer hält er die Luft an. Zwei Minuten lang atmen, dann ausatmen und die Luft ausgeatmet anhalten. Das Ganze wieder von vorn. Außerdem Dehnübungen, damit die Lunge flexibel bleibt.

Im Meer trainiert er an der Tiefe. Taucht, sooft es geht, siebzig bis achtzig Meter tief, damit sein Körper an die Tiefe gewöhnt bleibt.

Er steigt ab, so weit, wie es für ihn noch sicher und komfortabel ist.

Und dann: einen Meter tiefer

zwei Meter

drei Meter tiefer, wo es anspruchsvoll für ihn wird.

Und wieder hoch.

Er trainiert nie in Wassertanks, er ist klaustrophob.

Im Schwimmbad arbeitet er an seiner Technik und übt, den Drang zu atmen zu kontrollieren. Er tut es heimlich, damit sich niemand erschreckt. Wenn keiner hinschaut, taucht er unter, legt sich auf den Boden, wo ihn – wie er hofft – niemand entdeckt. Geschieht es trotzdem, wird er gerettet. Wie oft wurde er schon vermeintlich gerettet? Er bedankt sich jedes Mal nett.

Der entscheidende Moment ist der, wenn das Gesicht ins Wasser taucht. Dann finden die körperlichen Anpassungen statt, der Tauchreflex. Die Verlangsamung des Herzschlags, die Gefäßverengung, die Erhöhung des Blutdrucks, die Umverteilung des Blutes von den Extremitäten hin zu den lebenswichtigen Organen. Aufgrund dieses Phänomens erreichen Apnoetaucher Tiefen, die Wissenschaftler vor einigen Jahren noch für unmöglich hielten.

Die Natur hat dir Grenzen gesetzt, aber du weißt nicht, wo sie liegen.

Irgendwann hat er mit No Limit begonnen. Der Disziplin, die es ihm erlaubt, technische Hilfsmittel seiner Wahl einzusetzen, um in größere Tiefen vorzustoßen. Es ist eine der tödlichsten Sportarten der Welt. Ein Gewichtsschlitten zieht ihn so schnell wie möglich hinunter, ein luftgefüllter Hebesack drückt ihn wieder nach oben. So kommt er deutlich tiefer. Das mögen die Medien.

Heute taucht er nur auf siebzig Meter in ungefähr einer Minute. Da stehen sie am Strand und warten auf ihn. Mit dem Boot fahren sie raus, erreichen die anderen, die auf einem Katamaran alles vorbereitet haben.

Diese Hektik. Diese Logistik. Er muss nicht ganz bei Trost sein. All die Leute, die für ihn arbeiten.

Er setzt sich an den Schiffsrand, die Beine im Meer.

Spritzt sich Wasser ins Gesicht, setzt sich die Nasenklammer auf, holt tief Luft.

Kopf und Hände voraus zieht es ihn am Schlitten runter.

Es ist schon sehr bald sehr dunkel.

Auf zwanzig Metern zwei Ärzte mit Pressluftflaschen.

Auf sechzig Metern zwei Ärzte mit Pressluftflaschen.

Der Druck, der auf seinem Körper lastet, ist groß.

Sieben Kilo auf jedem Quadratzentimeter.

Rauf am Führungsseil mithilfe des Ballons.

Wenn es dich nach unten zieht, siehst du die Größe des Meeres nicht. Du siehst nur Tiefe. Erst wenn du unten bist, siehst du wieder die Größe, wie wenn du an Land bist und übers Meer blickst.

Du bist alleine

du hast noch etwas Sauerstoff

du hörst dein Herz

du spürst dein Blut.

Als er anfing, hielt er es im Pool vierzig Sekunden unter Wasser aus.

»Aber du bewegst dich schon wie ein Fisch.«

Aurel. Von Anfang an dabei.

Als Cyril den Poolgrund auf zwei Meter vierzig berührte, war er glücklich. Ab dort war es für ihn leicht gewesen. Er wollte weiter auf fünf Meter, auf sieben, zehn.

Seine Grenze lag irgendwann bei eineinhalb Minuten, dann bei zwei, schließlich etwa bei drei Minuten Luftanhalten.

Jahrelanges Training für einen Vierminutentauchgang denkt Cyril mit Blick aus dem Flugzeugfenster.

Irgendwo, weiß er, ist Renaud, sein größter Konkurrent, und will seinen Rekord in No Limit brechen.

»Zuerst geht es nur darum, dieses Element, das nicht deines ist, zu akzeptieren. Den Kopf einzutauchen und es zu akzeptieren. Dann ist es an dir, wie viel mehr du willst.«

Manchmal ist er praktisch im Koma hochgekommen, er war tief unten gewesen, lange geblieben, er hatte sich gut gefühlt.

»Du tauchst. Du tauchst tief. Du stellst den neuen Weltrekord auf und solltest glücklich sein, aber alle um dich herum sind nur wütend. Ich wollte nie den Weltrekord brechen, ich wollte nur verschwinden.«

Die Journalistin nickt.

Als sein Vater starb, legte Cyril seinen Kopf neben seinen. Wange an Wange. Er spürte die ganze Kraft, die noch im Sterben von ihm ausging, die Freiheit zu gehen. Das war die Basis, die Cyril in Zukunft brauchen würde.

Wasser ist ein weibliches Element. Es dominiert von allen Seiten.

Sie packt ihn an der Kehle, krümmt ihn

und es gefällt ihm.

Sie zähmt ihn.

Er wimmert nicht um Gnade.

Er ist bereits im Wasser, bevor er es wirklich ist. Vor einem Tauchgang verlässt er die Welt schon außerhalb des Wassers, bevor er überhaupt eintaucht. Alles, was dann an sein Ohr dringt, nimmt er ganz verformt wahr. Alles, was man zu ihm sagt, hört er bereits nicht mehr.

Der Wechsel von der Luft ins Wasser, dieser Schnitt, den Kopf einzutauchen, die Oberlippe, die Nase. Danach ist es leicht.

Er hat sein Leben nicht in der Nähe des Meeres zugebracht. Er ist in der Stadt aufgewachsen, in Paris, wo er noch immer lebt.

Sara hatte ihr Glas nach ihm geworfen. Vor den Kindern. Nur knapp an seinem Kopf vorbei.

»Du plötzlich mit deinem neuen Code! Eins, neun, drei, sechs … Ich habe alles gelesen! Seit Monaten lese ich deine Nachrichten! Du wolltest heute nur ins Schwimmbad gehen, weil du gehofft hast, IHR zu begegnen!«

Die Augen werden groß.

Die Augen würden aus den Höhlen gesaugt werden ohne Maske.

Manchmal hört er das Rufen von Walen. Von großen Fischen. Der Mensch gehört hier nicht her. Trotzdem zieht es ihn in dieses fremde Element. Es ist gefährlich. Es ist nicht normal. Er ist kein marines Säugetier. Aber er hat keine Angst mehr vor dem Tod.

Um ohne Sauerstoff in die Tiefe des Meeres zu tauchen, musst du zuallererst verstehen, was der Tod ist, um dich nicht mehr vor ihm zu fürchten.

Das Herz schlägt langsamer. Im Extremfall zwölf, dreizehn Schläge pro Minute. Und doch bist du noch am Leben.

Erste-Hilfe-Techniken.

Herz-Lungen-Wiederbelebung.

Kinn aus dem Wasser heben.

Manche atmen nach dem Auftauchen nicht sofort

im Traum tauchen sie noch.

Über die Nase pusten.

»Atme!« brüllen.

Das Hören ist der letzte Sinn, der uns verlässt.

In der Kategorie No Limit werden keine Wettkämpfe ausgerichtet. Verheerende Unfallbilanz, moniert der Verband. Den Wettstreit aber gibt es durchaus, No Limit als Rekorddisziplin. Ein offizieller Beobachter kommt mit an Bord. Wenn alles stimmt, wird dein Tauchgang anerkannt und ins Ranking aufgenommen.

Bei den Gruppen-Wettbewerben taucht er weiterhin Free Immersion. Mit bloßen Füßen und aus eigener Kraft zieht er sich am Seil in die Tiefe und wieder hinauf.

Renaud taucht bei Wettkämpfen Constant Weight, schwimmt mit Flossen runter und wieder an die Oberfläche, berührt das Seil nur einmal bei der Wende.

Und obwohl sie bei Wettkämpfen in verschiedenen Disziplinen tauchen, kämpft Renaud wie er in No Limit um die maximale Tiefe.

Bevor Cyril die Klammer aufsetzt, atmet er durch die weit geöffneten Nasenlöcher ein. Er stellt sich einen Luftstrom vor, der direkt in sein Hirn fährt. Nur den letzten Atemzug nimmt er durch den Mund. Er spricht zu sich selbst. Er hört die Stimmen, die ihn bewerten, seine eigenen inneren Stimmen. Du kannst das. Du hältst es dort unten lange aus.

Blau.

Die Stimmen verschwinden.

Sein Ego verschwindet.

Er nimmt nur noch die Informationen aus seiner Umgebung wahr.

Du bist ein Tropfen im Meer.

Im Wasser bist du Sklave.

Alles ist dunkel rundherum.

Ab jetzt versucht er, alle Energie, die er in seinem Körper trägt, zu nutzen.

Er war nie in einem Kloster. Er hat nie Yoga gelernt. Seine mentalen Entspannungstechniken kommen – woher?

Im Schwimmbad arbeitet er an der Dauer seiner Tauchgänge, ohne eine Uhr bei sich zu haben. Er kann die Sekunden nicht zählen, aber er weiß, wann er ein stärkeres Gefühl hat als zuvor.

Im Training will er keine Computer und Uhren mit sich im Wasser haben. Er will nichts bei sich haben, wenn er taucht.

Er arbeitet an der Entspannung.

Er darf kein Adrenalin ausschütten, das könnte ihn sein Leben kosten.

Im Meer kämpft er gegen die Stimmritzen, die sich öffnen möchten.

Ausgleichen

ausgleichen

ausgleichen.

Die Zunge bewegen

die Luft verschieben.

Seltsame Geräusche, die dem Mund entweichen.

Vor der Küste Sardiniens.

Die See war rau.

Boote der italienischen Marine, die Armee.

An Bord eines dieser Boote wurde er untersucht.

Kein Tropfen Blut im Speichel.

Lungenverletzungen sind tückisch. Man bemerkt zwar Symptome, hat aber kaum Schmerzen.

Du spuckst Blut. Blut quillt dir aus der Nase.

Blut ist in Ordnung. Wegen Blut wirst du nicht disqualifiziert.

Jedes Mal, wenn du ein Limit erreicht hast, begreifst du, dass dies nicht dein Limit ist. Und du willst mehr.

Wieso hört er nicht auf? Weil er etwas zu tun haben muss.

Er will nichts mehr beweisen, er hat genug bewiesen.

Aber wenn du als Sportler kein Ziel mehr hast, was machst du dann aus deinem Leben?

Ärzte, die Tests an dir durchführen.

Anästhesisten. Ohrenärzte. Pneumologen

Tauchphysiologen.

Sie interessieren sich für dich.

Erforschen die Vorgänge in deinem Körper

befestigen Sensoren an dir

klopfen dir auf die Schulter.

»Du kannst gehen.«

Auftauchen.

»I’m okay.«

»Breathe!«

»Relax!«

»Breathe!«

Nicken.

Applaus. Jubel.

Du hast es geschafft, einen Rekord aufzustellen, ohne zu nahe an den Tod heranzukommen.

Dieser Satz ist wichtig: »I’m okay.«

Ohne diesen keinen Rekord.

Keine Mutter wünscht sich, dass ihr Kind Apnoetaucher wird. Lieber Freeclimbing. Die Zeitspanne zwischen dem Auftauchen und den drei Worten – sie ist ein Versuch, seine Welt den anderen zu erklären.

I’m okay heißt: Ich habe keinen Blackout, kein Barotrauma, keine Lungenpressung.

Dammriss

Blut im Abfluss.

Weltmeisterschaft im Freitauchen.

Die schwimmende Plattform. Zwanzig Athleten. Kaum Medien.

Wer möchte sein Geld in Tiefseetauchen investieren?

Es ist etwas für wenige. Für eine Randgruppe.

Das Problem ist, es gibt nichts zu sehen. Es ist schon schwierig, zum Ort des Geschehens zu kommen.

Vor dem Tauchgang liegen die Wettkämpfer auf Auftriebskörpern im Meer. Gesicht zum Himmel. Augen geschlossen. Ihre Entspannungsphase sieht aus, als wären sie tot.

Einige mit einem Schnorchel im Mund liegen mit dem Gesicht im Wasser, um den Tauchreflex auszulösen und den Herzschlag herunterzufahren. Dann werden sie von ihren Trainern langsam zu ihrem Seil hinübergezogen, das von der Plattform herunterhängt.

»Unter Wasser bewegst du den Mund wie eine Pumpe, um mehr Luft in die Lungen zu befördern. Wenn du länger bleiben möchtest, musst du das tun. Schon kleine Kinder machen das, ohne Theorie, ohne Instruktionen. Die Instinkte, die Natur. Der mentale Anteil macht achtzig Prozent aus. Konzentration, Beherrschung der Gefühle, Selbstgespräche, Visualisierungen … um in die Zone einzutreten.« Die Journalistin nickt.

Unter Wasser schließt du die Augen.

Take it easy and dive safe.

Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu einem O geformt heißt: Alles okay.

Er kommuniziert nicht gerne im Ozean.

Mit dem Finger an der Schläfe kreisen bedeutet: Tiefenrausch.

Argentinien

Osterinseln

Südsee

Neuseeland.

Nach dem Studium hatte er ein Rund-um-die-Welt-Ticket gekauft und war ein Jahr lang weggeblieben. War tauchen.

Die Pinguine in Ushuaia. Die See war so stürmisch gewesen, dass drei Tage lang kein Boot hinausgefahren war. Danach schossen die Pinguine wie Torpedos an ihm vorbei.

Auf den Osterinseln waren ihm Einheimische in Auslegerbooten und Kanus gefolgt.

Es war für nichts gut gewesen. Er hatte nichts begriffen in diesem Jahr. Er war getaucht und hatte um sich geschaut wie ein Schnorchler, statt in sich zu hören. Erst zu Hause im Schwimmbad hatte er es verstanden. Eines Tages hatte er Lihi kennengelernt. Später Jacqueline.

Lihi.

Haut wie ein Delphin.

Sara hatte mitgelesen.

Jacqueline.

Sie trug einen einteiligen, lila-türkisfarbenen Taucheranzug und glich darin einem Paradiesfisch. Sie hatte die integrierte Kopfhaube übergezogen. Ein dicker Nassanzug für kalte Gewässer. Er fragte sich, wie ihr Haar darunter wohl aussah. Ihr musste furchtbar heiß sein, die Luft- und Wassertemperaturen in der Schwimmhalle waren hoch.

In der Bucht vor Syrakus geht er tauchen. Zunächst an einer Stelle, die nur zehn Meter tief ist. Dort übt er, die Luft anzuhalten, möglichst lange unter Wasser zu bleiben.

NO LIMIT.

Er mag die Worte, die Messungen nicht für das, was er tut. Er will nichts darüber hören und lesen. Er will in Ruhe gelassen werden. Aber das geht nicht. Er trägt die Namen seiner Sponsoren auf dem Taucheranzug. Er gibt Interviews.

Einmal unter Wasser verlangsamt sich der Herzschlag, das Gehirn wird vermehrt durchblutet, der Stoffwechsel fährt herunter, der Körper verbraucht so wenig Sauerstoff wie möglich. Der Körper weiß. Er weiß mehr als Cyril. Und Cyril hat gelernt zuzuhören. Zwischen zwei Atemzügen auf den Körper zu hören, wie er es auch tagsüber übt. Einatmen, innehalten, spüren, ausatmen. Er benimmt sich fast so, als hätte man ihn gezwungen, an den Wettkämpfen teilzunehmen, als wäre er lieber nie auf der Bildfläche der Sportveranstaltungen erschienen. Aber so ist es nicht. Er ist kein Polynesier, der insgeheim tiefer und länger taucht als alle anderen. Er hat trainiert, trainiert, trainiert, einen Lehrer nach dem anderen ausgewechselt, weil er sie nach kurzer Zeit alle geschlagen hat. Er hat am Anfang rasend schnell Fortschritte gemacht. Alle haben sein Talent erkannt. Er hat sich nie geweigert, als es darum ging, ihn zu Wettbewerben anzumelden, ein ganzes Team um ihn herum aufzubauen, Sponsoren zu suchen, den Medienrummel anzuzetteln. Die vielen Leute, die vielen Monate, die vielen Reisen. Er ist achtunddreißig. Er denkt jeden Tag ans Aussteigen.

Tags darauf eine tiefere Stelle mit dem Schlitten.

Cyril setzt sich auf die Bordkante, spritzt sich Wasser ins Gesicht.

Man vermutet, dass Hautrezeptoren in der Nähe von Nase und Oberlippe für den Tauchreflex eine Rolle spielen.

Er weiß nicht, weshalb er das tut. Weshalb er sich das antut. Es ist sehr anstrengend. Wenn er drei Minuten getaucht ist, verbringt er den Rest des Tages mit Essen und Schlafen, so sehr strengt das Tauchen ihn an.

Einmal ist er auf einen Fisch geprallt.

Vierzig Kilo, die ihn in die Tiefe ziehen, mit dem Kopf voran in einen Fisch.

Er hatte nichts sehen können.

Es war zu dunkel gewesen.

Was war es gewesen?

Er wird es nie wissen.

Aber diese Begegnung, dieses Gefühl, hat er nicht wieder vergessen.

Der Körper des Tieres hatte nachgegeben, war zur Seite gewichen.

Und die vielen Kreaturen, an denen er vorbeigekommen sein mag, von denen er nichts weiß.

Tochter zwölf Tage alt.

Vater einundsiebzig.

Mutter dreiundsechzig.

Bruder vierzig.

Das Meer ist der Ursprung des Lebens.

Es kann der Tod sein.

Er geht keine Risiken ein.

Redet sich jeder Wettkampf-Freitaucher ein.

Die schwimmende Plattform vor dem Boot.

Von dort aus startet er.

Er wird an sein Seil geführt.

Mit einem Karabiner am Knöchel ans Seil gehakt.

Er gibt das Zeichen.

Er holt tief Luft.

Er ist unten.

Sechzig Meter in fünfzig Sekunden.

Und wieder hoch.

Sara hat ihn rausgeworfen.

Gepackte Koffer, ausgewechseltes Schloss.

Nur um die Kinder macht er sich Sorgen.

Joachím, neun, Antonín, acht.

Sie besitzen kein Telefon

die Kommunikation läuft über ihre Mutter.

Also Sara anrufen.

Er hat keine Wahl.

Den Hörer die ersten paar Minuten vom Ohr weghalten, bis sie sich beruhigt hat.

»Sind die Kinder da?«

»Ja.«

»Hören sie dich?«

»Hast du ein Problem damit?«

»Gib sie mir.«

Er hat es geschafft, sie die Hälfte der Zeit bei sich zu haben.

Neue Wohnung, Scheidung. Alles eine Weile her.

»Lihi, Lihi«, hieß damals das Problem.

Dabei schrieb er Lihi längst keine Zeile mehr.

Joachím und Antonín wissen von ihrer Schwester, die sie nie gekannt haben.

Sie waren bei keiner Beerdigung.

Wer möchte schon zu Bestattungen gehen?

Take it easy.

Nur so schafft er es, zu tauchen.

Leonardo DiCaprio hat den Satz am Ende eines Interviews einer Traube Journalisten zugeworfen:

»Take it easy, guys!«

Cyril hat den Jungen davon erzählt. Sie waren auf dem Weg in die Schule, durch den Park, unter Magnolien und Buchen hindurch.

Cyril liebt es, die Kinder bei sich zu haben. Für sie zu kochen. Mit ihnen zu essen. Sie in die Schule zu bringen, den Weg durch die Anlage.

Es gibt ein Glück, das aus solchen Ritualen besteht: essen, gut schlafen, die Natur betrachten.

Er fliegt nach Hause.

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