Kitabı oku: «Seeland Schneeland»

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Inhalt

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Titel

Zitat

1. EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER

2. IM WOLKENMEER

3. DAS MUSEUM IN DER SKINNER STREET

4. MÖWEN ÜBER DEM EBBW

5. BEGEHREN, WOZU?

6. POST AUS PORTSMOUTH

7. TRIBUNAL

8. URTEILSVERKÜNDUNG

9. EINE SUITE IM MOND

10. DAIQUIRIS UND LÄUSE

11. REGENMORGEN IN DER AUTOMOBILWERKSTATT

12. GREAT WESTERN MAIN LINE

13. NIEMAND NEEMT AFSCHEID

14. DIE HOHE KUNST DER SELBSTHERRLICHEN AUSFLÜCHTE

15. VOM GLÜCK, ZU SPÄT ZU KOMMEN

16. BRIEF AN EINEN RIESEN

17. KRISTINA

18. SCHNEETREIBEN IN LONDON-PADDINGTON

19. EIN GÜRTEL AUS DREI STERNEN

20. DIE KATZE MISERY

21. MASKENBALL

22. TÜR ZU EINEM LEEREN ZIMMER

23. DAS VERSCHOLLENE TELEGRAMM

24. VIER UNERWARTETE BEGEGNUNGEN

25. DAS UNGEHEUER AUS CLEVELAND

26. AENIDE UND DANIELLE

27. DRECK IM OHR

28. SHIMIMURAS LÄCHELN

29. DIE NACHTIGALL AUS DEM KOFFER

30. SWONA UND STROMA

31. DAS ENDE DER ENGE

32. REISEVORBEREITUNGEN ZUR GEISTERSTUNDE

33. DAS MEETING IN BARMOUTH

34. DU WIRST SEHEN, DU WIRST SEHEN

35. GOLDRAUSCH

36. DIE WEISSE FLOTTE

37. OGILVY’S HOSTEL

38. DIE NIEMANDSINSEL

Zitatnachweis

Dank

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum


Alle Menschen lieben,

ohne sich der Einzigartigkeit

ihrer Gefühle bewusst zu sein.

BORIS PASTERNAK

SEELAND

SCHNEELAND

1

EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER

Dort, wo wir hingehen, gibt es Bäume, die höher sind als die allerhöchsten Häuser auf der Welt. 20 riesige Männer, die sich an den Händen halten, können um ihre Stämme nicht herumfassen. Meine Eltern erzählen mir alles über das Land, wo wir hingehen, und ich stelle es mir vor! Dort regnet es nicht immer, bloß manchmal, wenn die Blumen und das Gras Durst haben.

Und wir sind dort nicht mehr arm. Mein Vater hat Arbeit, meine Mutter einen Garten und ich ein Pferd, auf dem ich zur Schule reite, wo ich eine Lehrerin habe, die mich nach vorn an die Tafel ruft, damit ich allen zeige, woher ich komme und wie schön man dort lachen kann.

Aber ich werde nicht lachen.

Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel. Aber jetzt bin ich hier.

Der Ausguck seines Kontorzimmers lag weit oben in der Backsteinmauer, von dort überblickte Merce Blackboro die lebendige Welt. Wo Richtung Nordosten mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke die Dunkelheit aufzog, endete die Reihe halb fertiger, halb schon wieder verfallener Gebäude, während in den letzten Flecken Helligkeit die hier und da unterspülte Kaistraße ins Hafenbecken überging, als würde sie abtauchen und dazu einladen, dasselbe zu tun, jedermann einladen, abzutauchen und zu verschwinden.

Drüben bei den früheren Alexandra Docks, in dem Dunst, den der Regen vom Fluss aufsteigen ließ, machte ein furchtbar rostiger Frachter fest.

Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel, aber jetzt bin ich hier …

Angestrengt blickte Merce hinüber. Einen Fuß auf dem Boden, den anderen auf dem Sims, saß er auf dem Fensterbrett, der Schriftzug am Bug des alten Kastens ließ sich jedoch nicht entziffern. Ein Weile beobachtete er das Manöver: Das Schiff drehte bei, im prasselnden Regen schwenkten die Ladebäume aus … Der letzte Schlepper der Fergusons, die Lilith, aus deren dickem hellblauem Schornstein Qualm quoll, bugsierte den Frachter an die Kaimauer.

Dann aber musste er eingeschlafen sein. Oder die Zeit an diesem Nachmittag des 21. Februar 1921 war stehen geblieben.

In seinem Innern war da wieder die merkwürdige Kinderstimme, die er seit einiger Zeit hörte, sobald er müde und traurig wurde – oder umgekehrt: sobald die Traurigkeit, die kaum noch nachließ, ihn so erschöpfte, dass er oft mitten am Tag die Augen zumachen musste und einschlief. Zumindest schien ihm das so. Denn zugleich war er wach – er hörte ja die Stimme.

Mit wem redete das Mädchen?

Es klang, als würde ihm eine Acht- oder Neunjährige in einem nicht sehr vollen, hallenden Laderaum etwas erzählen, unaufgeregt, erstaunt eher von dem, was ihr durch den Kopf ging, als von dem, was sie vor sich sah.

Dort, wo wir hingehen, ist der Wald so groß, darin können wir das ganze Leben verbringen, sagt Mommy, und nie werden wir uns fragen, wo der Wald aufhört.

Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben. Da gibt es Flüsse, die geben den Ländern, die sie durchfließen, ihre Namen, und in den Flüssen leben riesige Fische, die von einem Meer zum anderen schwimmen, vom Eis im Norden in die Wärme der Tropen. Mommy weiß, was Tropen sind. Ich stelle sie mir golden vor, glitzernd, wie Inseln in der Sonne.

Ruhig und bedacht sprach das Kind jeden seiner Sätze. Es wirkte älter, wenn man genau hinhörte. Merce hatte keinen Zweifel daran, dass es sich an ihn wandte. Ja! Es war ein so lebendiger Eindruck, dass er sich gar nicht fragte, ob die Stimme bloß Einbildung war oder ob diese kindlichen Monologe von einem Land des Glücks seinen eigenen Wünschen und Träumen Ausdruck gaben, weil er diese vergessen oder verdrängt hatte.

Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben …

Als er aufwachte und wieder hinaussah, lag der rostige Dampfer reglos und stumm im Zwielicht unter der Transporterbrücke. Kein Seemann war an Deck zu sehen. Auch das alte Ungetüm der Stahlbrücke bewegte sich nicht. Nur der endlose Regen rauschte weiter in den Usk, denn auch an diesem Tag strömte der sich durch Newport schlängelnde Fluss nicht Inseln in der Sonne entgegen, sondern war dunkel und unwirtlich wie der Meeresgrund.

Der Usk und der Ebbw, die zwei Nebenflüsse des Severn, in denen er als Kind mit seinem Bruder Dafydd und seiner Schwester Regyn im Sommer nach Krebsen getaucht hatte, waren reißende Ströme geworden. Schlierig grün trat der Ebbw über die Ufer und überschwemmte die Felder zwischen Caldoen und Mynyddislwyn. Von Mai bis August tummelten sich für gewöhnlich Forellen in der Strömung des Usk, den sein Vater so liebte. Leuchtend gepunktet versteckten sich die Fische hinter Steinen, und sobald der Schatten eines Menschen auf der Wasseroberfläche erschien – dem Himmel der Fische –, flitzten sie davon.

Jetzt aber spuckte der Usk schon seit Wochen öligen Morast in die Werften und auf die Kranstraßen.

MONSUN ÜBER DEM WINTERLICHEN SÜDWALES

Auf dem Schreibtisch lag das South Wales Echo. Das Blatt suchte sein Heil in Zynismus. Gefühlig, detailliert und unterhaltsam wurde von Alten und Kindern berichtet, die zwischen Merthyr Tydfil und Swansea in früheren Bächen oder Tümpeln ertrunken waren.

IST DIESER REGEN DIE RACHE DER DEUTSCHEN?

Keinem Reeder, keinem Kapitän, waren sie halbwegs bei Verstand, könne man es verdenken, wenn sich nur noch selten ein Frachtschiff aus Irland oder Übersee den Severn stromaufwärts nach Newport verirre – düster, mit zuckenden Lidern, hatte das sein Vater Emyr gesagt und dabei den weißen Schopf geschüttelt.

Die von Schiffbau und Seehandel lebenden Firmen des alten Blackboro und der anderen Newporter Patriarchen hatten mitgeholfen, die Deutschen in die Knie zu zwingen. Sie hatten den Großen Krieg überstanden, der seit fast zweieinhalb Jahren Geschichte war. In fast jeder Familie hatte in den Jahren seit 1918 die Spanische Grippe gewütet und nicht selten den Firmeneigner oder seinen Erben getötet. Die Dörfer rings um Newport und an der Küste bis Cardiff verwaisten und verfielen, seit immer mehr junge Leute in den Städten Arbeit suchten oder, weil sie nicht fündig wurden, nach Amerika, Kanada und Australien auswanderten. Die Dempseys, Blackboros, Fergusons und Frazers hatten sich allen Widerständen zum Trotz behauptet und hätten nie für möglich gehalten, nach Krieg, Seuche und Landflucht sich Wind und Wetter geschlagen geben zu müssen. Nach drei Monaten fast ununterbrochener Regenfälle waren viele alteingesessene Betriebe mit ihrer Weisheit genauso am Ende wie das Echo.

KAPITULATION VOR WOLKENBRÜCHEN

Immer mehr Herren mit Frack überm Overall zogen sich in ihr Ledersesselkontor zurück, um dem Stammhalter im feinen Zwirn die Abwicklung der Pleite wegen Dauerregens, Überschwemmungen und Wasserschäden zu überlassen.

So weit aber war es noch nicht mit Blackboro & Son, Schiffszimmerer seit 1743. Merce hob das Knie vom Fensterbrett und humpelte, weil ihm das Bein eingeschlafen war, zum Schreibtisch. Er sah auf den Chronometer, den sein Großvater in eine Verdickung der Kirschholzplatte eingelassen hatte: Tisch, Uhr und Opa waren 1865, nachdem die Unabhängigkeitsbewegung gescheitert und das Walisische als Unterrichtssprache verboten worden war, an Bord der Mimosa nach Patagonien gesegelt, um den übervölkerten Kohlebergwerkstälern zu entkommen. 75 Kolonistenfamilien aus Südwales hofften, einen von den Engländern noch unabgesteckten Flecken Erde zu finden. »Biddmyrd os syrfeddod« lautete, nach einem Choral der Mystikerin Anne Griffith, ihr Wahlspruch: »Der Wunder viele werden geschehen.« Und tatsächlich, die Großeltern kehrten zwei Jahre später nach Casnewydd, wie sie Newport noch nannten, zurück, mit ihnen der Tisch aus Kirschholz und mit dem Tisch der darin eingelassene Chronometer.

Der Minutenzeiger zitterte seit 56 Jahren, bevor er auf die nächste Ziffer sprang. Merce konnte sich das Verstreichen der Zeit gar nicht anders vorstellen: Es war kein Verfließen oder Verlöschen, denn immer, am Ende jeder einzelnen Minute, gab es einen Punkt, an dem die Zeit zitterte, als würde sie zögern und aufbegehren, ein kurzes, rebellisches Beben, ehe dann doch alles, was vergehen musste, sich fügte und unwiederbringlich verging.

Er warf einen Blick auf den Brief, den er am Mittag begonnen und irgendwann am Nachmittag liegen gelassen hatte. Er bestand aus einem knappen, freundlichen Schreiben an einen Reeder aus Swansea, von dem bekannt war, dass er vor dem Ruin stand, sowie einer tabellarischen Kostenauflistung. Der Brief schloss ab mit einem Strichmännchen, das einen Vogelkopf hatte und an einer großen Blume schnupperte – die Unterschrift eines offenbar Verrücktgewordenen.

Er trat wieder ans Fenster. Nichts hatte sich getan. Das Kind in seinem Inneren schwieg. Ebenso stumm lag der namenlose Frachter im prasselnden Regen am Kai. Boyo Ferguson, Thronerbe des betagten Schlepperkönigs von Newport, Boyo, das Mensch gewordene Schleppschiff, hatte Woche um Woche einen weiteren Bugsierdampfer aus der Schleppdampfschiffflotte seines Vaters stillgelegt, bis einzig die Lilith übrig geblieben war. Merce war mit Boyo zur Schule gegangen. Der junge Ferguson und er hätten unterschiedlicher nicht sein können. Auf Schultern und Rücken hatte Boyo mehr Haare als er selber am ganzen Körper. Boyo wurde Geschützmatrose auf einem Panzerschiff, Merce dagegen hatte vor dem Krieg Reißaus genommen und war vor sieben Jahren mit Shackleton ins ewige Eis gesegelt.

Verglichen mit den Stürmen, die er auf Elephant Island in der Subantarktis erlebt hatte, war das Windbrausen über Newport ein Lufthauch. Und das ganze Wasser, das seit Monaten aus dem Himmel rauschte, würde kaum mehr als den See füllen, der bei Trelech-a’r-Ryddws unmittelbar an der Küste lag und dessen Wasser schwarz war, auch weil eine Unmenge Aale darin lebten. Als wollte er sich seine Fische zurückholen, rollte der Atlantik gegen die Deiche. Früher, an öden Herbstsonntagen, wenn sie mit Eisenbahn und Fahrrädern nach Trelech-a hinausfuhren, ergriff Regyn immer irgendwann die Panik, die See könnte ausgerechnet in diesem Moment den schmalen Küstenwall durchbrechen und sich die dahinter Schutz suchende Pfütze voller Glasaale einverleiben – eine Angst, die er seiner Schwester nie ganz hatte nehmen können, obwohl er sie besser verstand, als Reg es ahnte. Er fragte sie einmal, wovon sie sich eigentlich derart bedroht fühle. Wer oder was, wollte er wissen, könne ihr so gefährlich werden wie das Meer einer Küste?

»Was wohl?«, erwiderte sie. »Manchmal bist du so ein Idiot.«

Sie trat kräftig in die Pedale und war dann zwei Stunden lang, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu reden, vor ihm her gefahren, fast bis zum Stadtrand, während er, einfältig, aber ihr Bruder, überlegte, was oder wen sie mit »Was wohl?« meinen könnte.

War das Mädchen, dessen Stimme er hörte, Regyn?

Apokalyptische Bilder verfinsterten ihm seit Längerem die Bürowochen. Allein saß er im Kontor, kritzelte Vogelfiguren, von denen er nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten, auf unabschließbare Geschäftsbriefe, zerknüllte die Blätter, warf sie ins Zimmer und grübelte, ob es gut war, von einem Einsatz auf einem Panzerkreuzer oder in den Schützengräben an der Marne verschont geblieben zu sein.

Regyns erster Mann Herman war nach Frankreich verschifft worden und von der Front nie zurückgekehrt. Ihn dagegen hatten bei Kriegsausbruch der Zufall und der Trotz seiner damals siebzehn Jahre ans vergletscherte Ende der Welt geführt. Er war mit Ernest Shackleton auf der Endurance gefahren, im Packeis war der Dampfsegler zerdrückt worden und gesunken, und etwas tief in seinem Innern, das er niemandem je gezeigt hatte, aber das ihn lange hatte begierig sein lassen auf die Weite und die Fremde jenseits von Südwales, war offenbar in der Antarktis geblieben und dort mit ihrer Dreimastbark verloren gegangen.

Shackletons Ruhm gründete darauf, dass er alle 27 Männer, die 1914 zusammen mit ihm ins ewige Eis aufbrachen, nach 635 Tagen Unauffindbarkeit rettete und zurück in die zivilisierte Welt brachte – wo einige schon nach wenigen Monaten in dem Krieg, der die zivilisierte Welt verheerte, elend zugrunde gingen.

An Shackletons Ruhm änderte das nichts. Und dennoch beschlich Merce – der erst sein Küchenjunge, dann sein Steward und Adjutant, schließlich sein Assistent gewesen war – immer öfter der Verdacht, dass von seiner in so jungen Jahren in Stücke gegangenen Person nicht alles aus der Antarktis zurückgekehrt war. Irgendein bedeutsames Bauteil seines Gemüts musste im Packeis des Weddellmeers, auf der felsigen Elefanteninsel oder den Gletschern von Südgeorgien zurückgeblieben sein.

An seinem Kontorzimmerfenster sitzend fragte er sich einmal mehr, was es sein konnte – Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Lebensantrieb, ein Lebensziel? Nur Shackleton war der Lösung dieses Rätsels nahegekommen, und auch bloß einmal. Im vergangenen Jahr hatte Sir Ernest auf einer Vortragsreise Newport besucht und während eines Small Talks an seinem Wagen zu ihm gesagt, er solle nicht vergessen, wer ihn gerettet habe: Niemand habe Merce Blackboro gerettet außer Merce Blackboro selbst.

Selbst dem ruhmreichen Sir nahm er das nicht ab. Nur dass sie zusammenhielten und nicht aufgaben, hatte ihn und die anderen vor dem sicheren Erfrieren bewahrt – der Rest war eine aberwitzige Aneinanderreihung absurdester Zufälle.

Er hatte seine Schwester nie danach gefragt, irgendwann aber war er überzeugt gewesen, dass Reg mit ihrem »Was wohl?« in Trelech-a’r-Ryddws nur das Leben gemeint haben konnte.

Wenn es ein Meer war, dieses Leben – unergründlich, unbeherrschbar, das Reich der Kraken, Seeleoparden und Haie, das gefräßig Schiffe und Küsten verschlang, wie es sich auch selbst verschlang und dabei doch das blieb, was es seit Urzeiten war, der Hort allen Werdens und Vergehens –, dann konnte er in diesem Albtraumatlantik nur ein hundemüder Schwimmer sein. Der Labrador Checker, der durch den Ärmelkanal schwamm, dürfte, als man ihn an einem Strand bei Calais aus dem Wasser zog, nicht so müde gewesen sein. Merce war 24, ein blasser junger Mann ohne besondere Merkmale außer den Narben von Frostbeulen. Er blickte in den Regenhimmel. Er würde eine der ältesten Firmen in einer versinkenden Stadt erben. Er war der letzte Blackboro.

So wie die Fische in den Flüssen ziehen am Himmel die Wolken dahin, unendlich viele riesig große Wolken, lauter Schwärme aus Wolken, sagt Mommy. Hast du so was schon gesehen?

Ja, solche unerklärlich lebendig wirkenden Wolkenschwärme hatte er über dem Weddellmeer gesehen und nie mehr vergessen.

Zwischen den Wolken silbern glänzend tauchte eine Dreipropellermaschine auf und verschwand dann wieder, wie ein Fisch in der Strömung.

Er habe Liebeskummer, hieß es, und höchstwahrscheinlich stimmte, was seine Mutter und seine Schwester, die Erfahrung in Liebesdingen hatten, behaupteten. Ja, er gab es zu: Er hatte immer nur sie geliebt, das eine Mädchen, das jetzt eine Frau war und mindestens so unglücklich wie er. Kummer, das wusste er, konnte keine Grundlage für das sein, was zwei Menschen miteinander verband, zumal wenn es in Wahrheit eine Schwermut war, der nicht mal er selber über den Weg traute. Keiner in seiner Familie war schwermütig. Warum er? Wieso hörte er dieses Kind?

2

IM WOLKENMEER

Durch dichte graue Wolken stieg die Dreipropellermaschine höher und höher. Lautlos zogen die Wasserdampfschwaden an den Fenstern vorbei, hüllten das Flugzeug ein und staffelten sich unbegreiflich breit, tief und hoch übereinander. Jeden Moment würde das Gewölk auseinanderreißen, den Blick freigeben auf das Himmelsblau, das unverändert darüberliegen musste.

Doch nichts geschah. Auf Wolken folgten noch mehr Wolken, zwischen ihnen der Dunst verband sie mal lockerer, mal zäher, dann erneut Schwaden, wieder dichte, milchweiße Wolkenbänke, Wolkeninseln, eine Dünung aus langsam auf und nieder wogendem Nebel.

Sie waren zu dritt in der zwar niedrigen, doch hellen und nicht engen Kabine. Ein Pluspunkt. In den vier Doppelsitzreihen konnte jeder von ihnen an einem Fenster sitzen, und diese Gelegenheit hatte sich keiner entgehen lassen, weder Bryn noch er, und auch die junge Stewardess nicht, die eigens für solche Rundflugtermine mit amerikanischen Kaufinteressenten ausgebildet war, hieß es. Davon, dass das Mädchen ungewohnt nervös sei, hatte kurz vor dem Start der kaum ältere Pilot seine beiden Passagiere in Kenntnis gesetzt, wohl ein lokaler Scherz, denn die übers Flugfeld herbeieilende junge Frau unter dem Regenschirm war zwar etwas außer Atem, doch die Ruhe selbst. In ihrem rosafarbenen Wollmantel erinnerte sie an einen Flamingo, als sie die alberne kleine Gangway heraufhüpfte und Wangenküsse mit dem Piloten tauschte. Unter dem anbrausenden Geknatter der Motoren waren sie zu ihren Sitzen gegangen.

Sie saß hinter Bryn, und der hagere große Junge mit dem gewinnenden Lächeln hockte vorn in der Kanzel, wo er hingehörte. Robey sah von seiner Sitzreihe aus nur eine Schulter und den Hinterkopf mit der Lederkappe, während vor den Cockpitfenstern der Bugpropeller Wolken zerhäckselte.

»Irgendwer hier oben muss mächtig Hunger auf Milchsuppe haben«, sagte er hinüber zu Bryn, der mit seinem Bryn-Meeks-Nicken antwortete, devot und ironisch zugleich.

Er fragte sich, ob Bryn nervös war, ob er selbst es war, und warf einen Blick über die Schulter auf ihre junge Begleiterin. Hinter ihrem Landsmann Meeks zu sitzen schien ihr sympathischer zu sein, weniger riskant jedenfalls. Sie hatte dickes blondes, fast golden schimmerndes Haar, die Frisur einer Kartenabreißerin am Broadway.

Nein, nervös war sie nicht. Sie sah aus dem Fenster, auf die Wolken, wie Bryn und wie er selbst. Währenddessen achtete er mit allen Fasern seines Körpers auf jedes Klopfen, Surren, Brummen oder noch so leise Klirren, das das Flugzeug von sich gab.

Sie war stark geschminkt. An einer Wange auf Höhe der Nase glitzerte was. Wahrscheinlich war sie ohne dieses Hautfresko blass. Manchmal lächelte sie, er fragte sich, worüber, als sie sich plötzlich zu ihm wandte und ihn ansah, frontal, mit einem so offenen Blick, wie ihn in ganz Manhattan schon seit Jahren niemand mehr hatte.

»Alles in Ordnung bei Ihnen, Sir?«, fragte sie und lächelte.

Die langen Wimpern, die Propeller ihrer Augen.

Er hob eine Hand zum Dank und sah hinter dem Fenster das durch die Lüfte treibende Watteweiß der Wolke, die sie soeben durchflogen.

»Und bei Ihnen, Mr. Meeks«, hörte er, »alles in Ordnung?«

»Irgendwer da unten muss ziemlichen Hunger auf Milchsuppe haben, Miss«, antwortete Bryn mit dem unüberhörbar walisischen Akzent, den er sich seit der Ausschiffung in Cardiff wieder zugelegt hatte.

Diese Bemerkung war auf ihn gemünzt, er beschloss aber, nicht in der Stimmung zu sein, seinen Assistenten zur Schnecke zu machen. Nach ein paar weiteren Minuten Blindflug riss von einer zur anderen Sekunde der Himmel auf, und umgeben von strahlender Bläue ging die Harper Airrant mit den drei schweren Liberty-Motoren in den Horizontalflug über, legte sich auf die Luft und, so schien es, verschnaufte von den überstandenen Strapazen.

Eindeutiger Minuspunkt. Er schnallte sich ab. Auch die Gurte, die einem ins Fleisch schnitten und die Luft abdrückten – nicht zu gebrauchen. Aber das waren Kleinigkeiten. Er stand auf und gab acht, sich nicht den Kopf zu stoßen – er war zwar kein Lulatsch oder Hüne, jedoch zu groß für dieses fliegende Zigarettenetui.

Bryn sah wieder hinaus. Sein kleines Gespräch mit der jungen Miss hatte keine Fortsetzung gefunden, und nun blickte sie erneut ihn an, lächelte so mitleidsvoll zu ihm herauf, als flögen sie schon seit einem Tag und einer Nacht über eine Wüste oder ein Meer. Sie fragte, ob er ein Aspirin wünsche.

»Ich habe alles zur Hand, Mr. Robey.«

»Nein«, sagte er, das Danke verschluckend, »nicht nötig.«

»Oder ein halbes Nembutal, Sir, oder vielleicht ein Viertel?«

Er legte eine Hand auf die freie Lehne ihrer Sitzreihe, quasi die gepolsterte Verlängerung ihrer Schulter. »Hören Sie, junge Madam … Ich bin hier, um dieses Flugzeug entweder zu kaufen oder nicht zu kaufen. Ich habe nicht vor, mich zu betäuben, im Gegenteil. Dieser Flug über Ihr schönes Land dient …«

»… der Entscheidungsfindung, ich verstehe«, unterbrach sie ihn. »Es tut mir leid, Sir.« Sie verschränkte die Hände auf ihrem Mantel, und er bemerkte ihre rot lackierten Fingernägel, die wohl mit ihrem Lippenstift und dem Mantel zu korrespondieren hatten, ob sie wollten oder nicht.

»Was verstehen Sie, Schätzchen? Erklären Sie’s mir.«

Sie lachte auf. Ihr Oberkörper bebte. Er konnte sich vorstellen, was ihn wo in solcher Form hielt, und das war gut. Ihre Augen, ihre Blicke, ihre Lippen und ihre Worte, alles bewahrte die Form. Was sie dachte, blieb verborgen.

»Sie sind auf einer wichtigen Geschäftsreise. Es geht um viel Geld, Sir.«

Er lachte (es fühlte sich an wie eine Berührung mit ihrem Lachen) und sah den Kabinenkorridor entlang. Alles bebte vor seinen Augen – kaum merklich, aber es vibrierte.

»Soll Mr. Meeks es Ihnen erklären, vielleicht in Ihrer Sprache?«

»Wenn Mr. Meeks möchte, gern. Aber es ist nicht nötig, Mr. Robey. Dieses Flugzeug kostet Sie viel Geld – falls Sie sich dafür entscheiden, es zu kaufen. Sie müssen prüfen und abwägen. Ich werde Sie nicht wieder belästigen, Sir.«

»Sie machen Ihren Job am besten, wenn Sie sich so verhalten wie Ihr junger Freund und Kollege der Pilot, zu dem ich gerade unterwegs bin: Halten Sie sich bereit, seien Sie gefasst auf alle Eventualitäten.«

»Ja, danke, Sir. Ich werde es beherzigen.«

Eine Weile stand er schwankend zwischen den Sitzreihen und blickte stumm an Meeks vorbei aus dessen Assistentenfenster. Er hatte sich getäuscht – immer noch ging es aufwärts. Die Airrant kämpfte, kraftvoll, souverän erschien sie ihm in diesem Augenblick, und er versuchte sich zu erinnern, bei welchem Probeflug er zuletzt ähnlich enthusiastisch gewesen war.

Junkers’ neue Maschine, so stellte er sie sich vor, nur geräumiger, größer, weniger wendig, dafür stabiler und ruhiger.

Jetzt knetete sie ihre Hände. Er hatte sie getroffen. In der Kälte blieben auf ihrer blassen Haut die Daumenabdrücke lange sichtbar.

»Etwas zappelig, nicht wahr, das sind Sie, oder?«

»Nein, Sir, ich denke nicht. Aber ich danke Ihnen für die Fürsorge.«

Bestürzung, da war sie also doch in ihrem Blick.

»Aber doch, aber doch.« Er lächelte freundlich. »Vor Ihnen in dem Sitz« – er rüttelte daran – »der nette Mr. Meeks, das ist mein Helferlein. Falls Sie ein Versuchskaninchen suchen für Ihre Bordapotheke, steht er Ihnen gern zur Verfügung. Ich bezahle ihn für so was, wissen Sie. Er tut, was ich ihm sage. Wenn ich ihm sage, er soll mir in 2000 Metern Höhe ein Spiegelei braten, dann wird er das zumindest versuchen. Und wenn er es nicht hinbekommt und ich deshalb sauer werde und ihm sage, er soll aus dem Flugzeug springen, runter zu Ihrem schönen Wales, so tut Mr. Meeks das.«

»Ein bemerkenswertes Arbeitsverhältnis«, sagte sie lächelnd, frei von Spott, wie aus aufrichtigem Interesse. »Ich werde es mir merken, Sir.«

»Brynnybryn?«

»Ja, Diver, Mr. Robey, absolut.« Bryn sah ihn nicht an, nur wenn sie unter sich waren, sah er ihn an. »Wenn Sie sagen: Brate! – brat ich. Und wenn Sie sagen: Spring! – spring ich. Miss Simms war sich darüber nicht im Klaren.«

»Ein halbes Nembutal, Bryn, wie wär’s? Oder gleich ein ganzes?«

»Danke, verzichte. Ich meine … so Sie einverstanden sind, Mr. Robey.«

»Er verzichtet. Ich will ihm das durchgehen lassen. Ihr Name, Miss, wie schreibt sich der? Mit Ypsilon? Symms?«

»Mit i, Mr. Robey. Ich heiße Simms.«

»Das hörte ich. Und weiter?«

»Und weiter, Sir? Ich beantworte Ihnen ja gern alle Fragen, dazu bin ich da, aber ich muss Sie schon verstehen. Meinen Sie meinen Vornamen?«

»Haben Sie einen? Oder sogar zwei, vielleicht drei?«

»Mari, Sir. Auch Mari mit i – etwas ungewöhnlich, aber so ist es bei uns, vieles ungewöhnlich. Mari Simms. Ich freue mich, Sie begleiten zu dürfen, Mr. Robey.« Sie hielt ihm eine Hand hin.

»Diver. Nennen Sie mich Diver. Diver mit i.«

Mit einem Mal konnte er frei stehen. Kein Schwanken mehr. Ruhiger Geradeausflug. Endlich hatten sie ihre Flughöhe erreicht.

Pluspunkt.

Schluss! Ihr trat ja schon der Schweiß auf die Stirn. Aber immer noch lag kein Hauch Ironie oder gar Spott in ihrer Stimme.

Er nahm die Hand nicht, sah ihr bloß in die Augen, und Mari Simms lächelte, schloss wie zum Einverständnis die dicht bewimperten Lider und ließ die Hand sinken.

»Gut, Mari Simms. Ich gehe meine Arbeit machen, vorn bei dem jungen Mann, der uns hier durch die Gegend gondelt. Seien Sie nett und verraten Sie mir auch, wie er heißt. Damit haben Sie dann gleich die erste Eventualität.«

»Der Pilot, Diver, Sir?«

»Himmel, ja! Ihren Namen kenne ich jetzt, meinen schon seit fast vierzig Jahren und den dieses Herrn hier mindestens ebenso lang.« Er gab Meeks’ Lehne einen Klaps. Sie wackelte. Minuspunkt.

Kurz, aber durchdringend blickte sie ihn an, als würde sie in seiner Miene zu lesen versuchen, was ihn derart aufbrachte. Sie würde es noch weit bringen, wenn nicht mal ein Satansbraten wie er sie dazu brachte, in Tränen auszubrechen oder ihn anzukeifen.

»Edwyn«, sagte sie mit ihrem über jeden Zweifel erhabenen Akzent, und würdevoll fügte sie hinzu: »Anderson, Sir. Eddy ist der beste Flieger in ganz Merthyr Tydfil.«

»Davon bin ich überzeugt, sweetheart. Danke.«

So gut es ging, hielt er sich an den Wackellehnen fest und machte sich auf den Weg nach vorn zur Kanzel. Er spürte den Groll in sich aufsteigen und tastete nach der Flasche an seiner Brust. Diese Zerknirschung, wie ekelte sie ihn an.

»Diver!«, sagte Miss Simms hinter ihm. Er drehte sich um und sah, dass sie Bryn ein Stück Papier gab, einen zusammengefalteten Zettel. Meeks schnallte sich ab, er kam durch die Sitzreihen nach vorn und reichte ihm das Papier.

»Von der jungen Lady, Diver. Bitte, seien Sie nett zu ihr.«

Er zog eine Grimasse und trat in die Kanzel.

Er steckte den Zettel ein und genoss es, nicht zu wissen, was darauf stand. Den Namen des Piloten hatte er schon wieder vergessen. Andy Edison, oder wie immer er hieß, war Waliser wie Bryn, so viel war sicher, man hörte es, sobald er den Mund aufmachte. Er war noch keine 25, hatte die Airrant aber gut im Griff. Der junge Flieger war nicht das Problem.

500 Meter über den Wolken spürte man nichts mehr von dem Monsun über dem Flugplatz mit dem unaussprechlichen Namen. Die Böen waren abgeflaut, der Wind hatte es aufgegeben, den Rumpf hin und her zu werfen und die Tragflächen flattern zu lassen wie bei einem silbernen Riesenschmetterling.

Laut war es in jedem Cockpit gewesen, das er sich in der Luft angesehen hatte, lauter zumindest als in der Passagierkabine. Hier in diesem Vogel allerdings musste er sich fragen, wie der Jüngling, der ihn steuerte, es in der Kanzel überhaupt aushielt. Alles zitterte, rappelte, wummerte. Vor lauter Dröhnen schienen die Dinge zu schreien, weil sie es nicht fassen konnten, fliegen zu sollen. Sie wollten nicht durch die Luft katapultiert werden.

Wenn es stimmte, was der Junge ihm zurief, hatten die Leute, die dort unten lebten, seit Monaten die Sonne nicht gesehen. In dem schmalen Durchgang stehend registrierte er, dass es dort zugig war. Er nickte. So war ganz Europa – ein Schlamassel aus schlechtem Wetter, überkommenen Staatsformen, zusammengestohlenen Museen und hochtrabenden Plänen. Nirgends ließ es sich aushalten. In Paris gab es wenigstens Frauen, die tranken. Aber sonst? London war ein Witz, Rom ein Müllhaufen, Berlin eine lachhafte Bühne. Die einzigen Orte, an denen einer wie er nicht erstickte, waren drei, vier Hotels am Genfersee, die er nur deshalb noch nicht hatte kaufen lassen, weil ihn alles, was er besaß, nach zwei Wochen tödlich langweilte. Warum etwas kaufen, wenn es dann nichts mehr gab, wo er sich eine Nacht lang zerstreuen und am Morgen etwas Schlaf finden konnte. Es war kein Wunder, dass sich ein junges Luftfahrtgenie wie Sikorski in die Staaten absetzte. In Russland musste man erfrieren oder sich duellieren und über den Haufen schießen lassen, um bewundert zu werden. Europa hatte das Schafott für seine Verbrecher erfunden und stattdessen seine Könige damit geköpft. In Europa führte man jahrzehntelang Krieg, flüchtete sich in eine Revolution, errichtete jubelnd Ungetüme wie den Eiffelturm. Man baute Schiffe, die mit voller Kraft gegen Eisberge dampften oder sich gegenseitig versenkten. Was nützte es, wenn die Prachtbauten der Metropolen noch immer so protzig wirkten wie im Athen von Aristoteles. Von Europa war nichts zu erwarten. Europa blieb, wie es immer war. Er hätte nicht auf Bryn hören sollen, diesen ausgemachten, unverbesserlichen Europa-Idioten. Seine Einflüsterungen hatten immer dasselbe Ziel: Meeks wollte seine Heimat sehen, es zog ihn nach Wales, wie es die halbe Welt nach Venedig zog – warum eigentlich? Alle zwei Jahre ging das so. Venedig kaufen, das wäre ein Plan! Venedig kaufen und es versenken.

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