Kitabı oku: «Das Kainszeichen»
Mitra Devi
DAS KAINSZEICHEN
Mitra Devi
DAS
KAINSZEICHEN
Nora Tabanis vierter Fall
Appenzeller Verlag
1. Auflage, 2011
© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau
Alle Rechte der Verbreitung,
auch durch Film, Radio und Fernsehen,
fotomechanische Wiedergabe,
Tonträger, elektronische Datenträger und
auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.
Umschlagbild: Bea Huwiler
ISBN Buch: 978-3-85882-564-3
ISBN eBook: 978-3-85882-586-5
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
1. JULI
Der Neue war unheimlich.
Carla Manser hatte im Laufe ihrer Tätigkeit als Psychiaterin schon viele seltsame Patienten behandelt, aber dieser hier war anders.
Als sie auf sein Klingeln die Praxistür öffnete, stand er da wie ein zu schnell gewachsener Teenager, schlaksig und ungelenk. Sein Blick huschte unruhig hin und her. Er überragte sie um einen Kopf und wäre noch grösser gewesen, wenn er sich aufgerichtet hätte. Dass er vierzig war, wusste sie aus den Akten, doch seine bleiche, aufgedunsene Haut und die rötlichen Haare liessen ihn jünger erscheinen.
«Treten Sie bitte ein, Herr Berthold», sagte sie und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie kurz und liess sie gleich wieder los.
Carla führte ihn ins Besprechungszimmer, das in blaugrünen Farbtönen gehalten war. Neben der Polstergruppe hingen zwei Meeresbilder mit Sand und Muscheln an der Wand und sollten – so hoffte sie jedenfalls – den Menschen in diesem Raum ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln.
Paul Berthold nahm auf dem äussersten Sessel Platz. Sein Blick wich dem ihren aus, seine hellen Wimpern zitterten.
«Herr Berthold», begann sie, nachdem sie sich gesetzt hatte. Sie versuchte, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben. Ihr neuer Patient war auf der Hut, das spürte sie. «Doktor Tillmann von der Klinik ‹Seeblick› hat Sie überwiesen. Wir werden die nächsten Monate wöchentlich zwei Sitzungen abhalten.»
«Ja», sagte er monoton. Er fuhr mit dem Daumen über sein bartloses Kinn und kratzte an einem unsichtbaren Pickel herum. Plötzlich schaute er sie an, und sie spürte einen Stich im Magen. Bertholds wässrig-blaue Augen hatten etwas Bodenloses, offenbarten für einen Sekundenbruchteil innere Abgründe, die sie schaudern liessen. Dann war der Moment vorüber, und Berthold starrte auf seine Schuhe.
Carla hatte ihre Praxis in Erlenbach, ganz in der Nähe der Klinik und nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Ihre Kolleginnen, die täglich von Zürich, Uster oder Wetzikon pendelten und im Stau standen, beneideten sie darum.
Sie mochte die frisch Entlassenen, die den stationären Klinikaufenthalt hinter sich hatten. Diese wurden für die ambulante Nachbetreuung an sie weitergeleitet. Bei Gesprächen mit Langzeitpatienten kam es manchmal vor, dass sie in Gedanken abschweifte. Nur kurz und nicht so, dass ihr Gegenüber etwas davon merkte. Sie konnte sich jeweils sofort wieder konzentrieren und wusste, dass das Nachlassen der Aufmerksamkeit menschlich und normal war. Doch bei Neuen passierte ihr dies nie. Da war sie präsent und auf eine zurückhaltende Art neugierig.
In den Therapiesitzungen konnte sie sich auf ihre Intuition verlassen, die durch unzählige Erfahrungen gewachsen war. Weder ihr Studium noch die diversen Weiterbildungen hatten ihr wirklich vermitteln können, wie man Zugang zu einem verschüchterten, verletzten oder aggressiven Menschen fand. Manche brauchten mütterliche Worte, manche konkrete Konfrontationen, andere einfach Dasein und Aushalten ihres inneren Schmerzes. Dieser hier, das war Carla sofort klar, würde zu einer Herausforderung werden. Ihm wurde überdurchschnittliche Intelligenz attestiert. Nebst schizoiden, paranoiden und narzisstischen Anteilen.
Er hatte gemordet.
Statt eine Gefängnisstrafe verbüssen zu müssen, war er in die geschlossene Abteilung für psychotische Gewaltverbrecher verlegt worden. Nach etlichen Jahren sprach man ihm die ersten begleiteten Ausgänge zu, und seit kurzem lebte er in der betreuten Aussenwohngruppe auf dem Klinikgelände. Damit war er zu einem Fall für sie geworden. Seit seiner Tat hatte er sich nie mehr etwas zuschulden kommen lassen.
Sein Opfer, eine ihm unbekannte Frau, war geschändet, nackt und mit aufgeschnittener Kehle in einer heruntergekommenen Fabrikhalle gefunden worden. Er hatte neben ihr gesessen, seine Hände und sein Gesicht besudelt mit ihrem Blut. Die Tote hatte er auf den Rücken gelegt und auf ihre Stirn mit ihrem Blut ein Kreuz gemalt. Die Medien hatten sich auf dieses Detail gestürzt. Ein biblisches Symbol habe er hinterlassen, berichteten sie in den nächsten Tagen in reisserischen Schlagzeilen und nannten ihn den Kainszeichenmörder.
Carla verscheuchte die Bilder. Es war ihr wichtig, ihren Patienten ohne vorgefasste Meinung kennenzulernen. Menschen wie Berthold nahmen auch minime Unstimmigkeiten wahr. Ehrlichkeit und Offenheit führte zu Vertrauen und Therapiefortschritten, das hatte sie immer wieder erlebt. Seit über zwanzig Jahren tat sie diese Arbeit. Mit Mitte dreissig hatte sie einige Artikel in Fachzeitschriften publizieren können. Ihre Schwerpunkte waren seltene psychische Störungen und Phobien gewesen. Je länger sie sich damit auseinandergesetzt hatte, desto mehr war ihr bewusst geworden, dass niemand frei von psychischen Problemen war. Geistige Gesundheit und Krankheit waren relativ. Ihre eigenen Verletzungen halfen ihr, Verständnis für die Leiden ihrer Klientinnen und Klienten zu entwickeln.
Inzwischen war sie Anfang fünfzig, glücklich geschieden, wie sie gern sagte, und ging in ihrer Tätigkeit auf. Ihre kastanienbraunen Haare trug sie halblang, silbergraue Strähnchen schimmerten darin. Sie achtete auf ihr Äusseres, war natürlich, aber gepflegt gekleidet. Wenig Schmuck, flache Absätze. Kleinigkeiten konnten beim Aufbau einer therapeutischen Beziehung eine Rolle spielen.
«Mir liegt viel an einer konstruktiven Zusammenarbeit», sagte sie. «Wenn Ihnen eine Intervention von mir zu schnell oder nicht angebracht erscheint, teilen Sie es mir bitte mit.»
Er nickte. Blick abgewandt, Schultern gekrümmt.
«Möchten Sie über ein bestimmtes Thema sprechen?»
Er zögerte, knetete seine wulstige Unterlippe, starrte sie wieder an. Nur kurz. Etwas Undefinierbares lag in seinem Blick. Angst? Berechnung? Grausamkeit? Carla konnte es nicht deuten.
«Ein bestimmtes Thema», wiederholte er. «Da hätte ich eines.»
«Ja?», machte sie auffordernd.
Er lächelte. «Aber es wird Ihnen nicht gefallen.»
Sie schüttelte sanft den Kopf. «Was Sie mir anvertrauen, muss mir nicht gefallen, Herr Berthold. Sie sind für sich selbst hier.»
Berthold zog die Brauen zusammen. Seine Stimme war eisig, als er sagte: «Irrtum. Ich bin hier, weil mich Doktor Tillmann dazu verknurrt hat.»
So unrecht hatte er damit nicht. Carla war geduldig. Sie ahnte, dass er reden würde. Die meisten sehnten sich über kurz oder lang danach, sich mitzuteilen. Egal, was sie getan hatten.
«Meine Phantasien», sagte er und leckte sich die Lippen. «Ich werde Ihnen von meinen Phantasien erzählen.»
Als er nicht weitersprach, fragte sie: «Sind es belastende oder beglückende Bilder?»
«Zwanghafte.»
«Leiden Sie darunter?»
Er fixierte Carla. «Ich geniesse sie.»
Sie hielt seinem Blick stand.
«Ich töte», sagte er.
Sie runzelte die Stirn, wartete, bis er fortfuhr.
«Jede Nacht töte ich. Jeden Tag. Im Wachzustand. In meinen Träumen. Und in der Welt dazwischen. Kurz vor dem Einschlafen. Sie kennen diese Phase sicher, wenn die Farben und Formen intensiver werden.
Sie nickte. «Man nennt es hypnagoge Bilder.»
Auf ein Mal schnellte er wie eine Schlange nach vorn und zischte: «Unterbrechen Sie mich nicht, Sie Schlampe!»
Sein Ausbruch kam so plötzlich, dass sie zuerst meinte, sich das Ganze nur eingebildet zu haben. Schon lehnte er sich wieder zurück und lächelte sie an, als wäre nichts gewesen.
«Herr Berth –»
«Ich schneide ihnen die Kehle auf.»
«Ihnen?»
«Meinen Opfern.» Er betonte das Wort, als wäre es eine besondere Kostbarkeit. «Sie bluten aus. Während der Lebenssaft aus ihnen rinnt, starren sie mich an. Ihr Erkennen … ihr Blick… es ist unbeschreiblich.» Er legte die Hände auf die Knie und flüsterte: «Wenn man das einmal erlebt hat, vergisst man es nie wieder. Einem Sterbenden in die Augen zu schauen, ist berauschend. Diese Macht. Diese Schönheit. Es könnte Sie auch faszinieren.»
Carla sah ihn lange an. Er versuchte, eine Verbindung zu ihr herzustellen, auf die einzige Art, die er kannte: mit Provokation. Etwas unangenehm, aber kein schlechtes Zeichen. An seiner Methode musste er noch arbeiten, doch sein unausgesprochenes Bedürfnis nach Beziehung empfand sie als echt. «Ich glaube nicht, dass mich das faszinieren würde», gab sie zurück. «Aber fahren Sie bitte fort mit Ihrer –»
«Woher wissen Sie das?»
«Was?»
«Ob Sie es nicht geniessen könnten, einen Menschen beim Todeskampf zu betrachten.»
«Nun, ich –»
«Sie haben es noch nie probiert, nicht wahr?», sagte er mit listigem Ausdruck. «Das ist ein Vorurteil von Ihnen.»
«So würde ich das nicht nennen.»
«Sondern?»
«Eine Entscheidung. Eine Haltung. Eine, die Sie auch lernen können, wenn Sie das wollen. Mitgefühl.»
Er lachte spöttisch. «Jetzt werden Sie pathetisch!»
Carla schwieg eine Weile, dann meinte sie: «Können wir nun wieder zu Ihnen zurückkehren?»
«Natürlich.» Er sackte im Stuhl zusammen wie ein gescholtener Junge und murmelte: «Ich wollte Sie nicht verärgern. Verzeihen Sie. Ich wollte nur, dass Sie mich verstehen.»
Sie nickte. «Das versuche ich, Herr Berthold. Was ist es, das Sie mir wirklich mitteilen möchten?»
Durch seinen Körper ging ein Ruck, dann sass er kerzengerade da. Alle Unsicherheit, die noch vor einem Augenblick durchschimmerte, war verschwunden. Er legte den Kopf in den Nacken und feixte von oben herab: «Sie sind gut, Frau Psychiaterin. Wirklich gut. Immer schön verständnisvoll. Kostet das extra?»
Carla wusste nicht, ob die Entschuldigung vorhin nichts als Theater gewesen war, oder ob Bertholds abrupter Gesichtswechsel mit seiner Störung zusammenhing. In seiner Krankenakte stand zwar «Megalomanische Phasen mit fehlender Affektkontrolle», doch diese konnten sich auf verschiedenste Arten äussern. Noch kannte sie ihn zu wenig. Sie erwiderte nichts. Er schien auch keine Antwort zu erwarten.
Mit einem kalten Lächeln flüsterte er: «Es ist meine Bestimmung zu töten. Ich werde es wieder tun. Ich weiss es.»
Carla fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Dann erinnerte sie sich an die Worte des Klinik-Chefarztes. Der Patient neige zu Übertreibung und Inszenierung, hatte Tillmann ihn beschrieben. Allerdings nur auf verbaler Ebene. Paul Bertholds Gewaltpotenzial sei minim, seine Medikation optimal eingestellt, und die Gefahr, dass er seinen Worten Taten folgen lasse, äusserst gering.
2. JULI
Das Schrillen des Telefons riss sie aus dem Schlaf. Carla brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren, tastete nach dem Lichtschalter, setzte sich auf. Dann blinzelte sie in die Helligkeit. Das Klingeln hielt an. Sie schaute auf den Wecker. Halb drei Uhr morgens. Wer konnte das sein?
Sie stieg aus dem Bett und tapste barfuss ins Wohnzimmer. Der vergangene Tag lief im Schnellzugstempo vor ihr ab. Sechs Klienten hatte sie gehabt. Fünf kannte sie schon länger, der letzte war Paul Berthold gewesen. Danach hatte sie eingekauft, eine Lasagne aufgewärmt und den ganzen Abend Patientenakten durchgearbeitet.
Sie eilte den Gang entlang, stolperte über die Schwelle. Es läutete weiter. Konnte es Mark sein, ihr Ex-Mann? Zuzutrauen war es ihm, er hatte Konventionen wie Nachtruhe nie respektiert. Allerdings hatten sie sich während der Scheidung alles gesagt, was gesagt werden musste. Eveline? Carla spürte einen Anflug von Sorge. Ihre Tochter lebte ein Jahr in Australien, reiste alle paar Tage zur Nachbarinsel und beteiligte sich an einem Projekt zur Rettung des Tasmanischen Beutelteufels. In Down Under war es jetzt Nachmittag. Wenn Eveline nur nichts zugestossen war.
Carla lief im Dunkeln zur Kommode und langte nach dem Telefon. Sie hoffte, es wäre nicht bloss jemand, der sich verwählt hatte. Oder noch ärgerlicher, ein Witzbold.
Sie nahm ab.
Erstarrte, als sie die Stimme hörte.
Der Anrufer hatte sich nicht verwählt. Und war auch kein Witzbold.
Paul Berthold keuchte in den Hörer. «Ich habe es getan.»
Das Nächste verstand sie nicht, sein Schnaufen übertönte die Worte. Er stiess den Atem heftig aus, als wolle er sich von einem Alpdruck befreien. Weinte er?
«Was?», fragte sie. «Was haben Sie getan?»
«Ich wusste, dass ich irgendwann die Kontrolle verlieren würde.» Er stöhnte. Schluchzte. Es knackte in der Leitung.
«Nicht auflegen, Herr Berthold! Wo sind Sie? Was ist los?»
Ein irres Lachen erklang, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Nur zwei Sekunden dauerte es, dann war es wieder vorbei, und Berthold sagte: «Ich habe getötet.»
«Sie haben was?», rief sie lauter, als beabsichtigt.
«Ich habe wieder gemordet. Vor mir liegt eine Leiche.»
Carla klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und lief ins Schlafzimmer zurück. Sie zwängte sich in ihre Hose, das Telefon rutschte ihr aus der Hand, schepperte zu Boden. Sie hob es auf. Und hörte gerade noch, wie ihr neuer Patient sagte: «Ich bringe mich um.»
«Warten Sie, Herr Berthold! Wo sind Sie?»
«Ich habe kein Recht mehr zu leben.»
«Berthold! Tun Sie nichts Unüberlegtes! Man wird Ihnen helfen.»
Verzweifelt stiess er aus: «Niemand kann mir helfen.»
Carla antwortete so vertrauenerweckend, wie sie konnte: «Sagen Sie mir, wo Sie sich befinden, und ich schicke jemanden vorbei, der nach Ihnen schaut.»
«Sie!», forderte er. «Sie sollen nach mir schauen.»
«Ich werde Doktor Tillmann –»
«Nein! Sie!»
Carla zog ein T-Shirt an, schlüpfte in die Schuhe, sprach dazwischen ins Telefon. «Beruhigen Sie sich. Doktor Tillman wird–»
Sein Schrei fuhr ihr durch Mark und Bein. «Nicht Tillmann!», brüllte er. «Sie! Sie kommen her! Sofort! Oder ich schneide mir die Kehle auf! Ich schwör’s, ich tu’s!»
Carla knöpfte ihre Bluse zu und hastete zur Tür. «Sie können mich nicht erpressen, Herr Berthold. Teilen Sie mir mit, wo Sie sind, und ich versichere Ihnen, dass Ihnen jemand helfen wird.»
Wieder drang ein Schrei in ihr Ohr, es klang wie das Echo einer verlorenen Seele aus der Unterwelt. «Ich bin in der alten Papierfabrik! In der hintersten Halle. Ich bring mich um, wenn Sie nicht kommen.» Eine Sekunde herrschte Stille. Carla vernahm nur das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf. Dann kam Bertholds Stimme leise aus dem Hörer: «Und ich bring mich um, wenn Sie nicht allein kommen.»
Nora Tabani stöhnte. Sie hatte seit dem Morgen gewusst, dass dies eine schlaflose Nacht würde. Nicht nur, weil die Hitze diesen Sommer alle Rekorde brach – sie schlief mit sperrangelweit geöffneten Fenstern, liess sich für ein wenig Kühlung von Mücken, Lärm und Abgasen quälen –, sondern auch wegen des Jahrestages.
Es war jeden 2. Juli das Gleiche. Sie versuchte, das Datum zu vergessen, beschäftigte sich schon am Vortag mit Dingen, die sie ablenkten oder ihre ganze Konzentration erforderten. Nachts arbeitete sie. Heute hatte sie eine Nachmittagsvorstellung im Kino besucht. Kaum war der Abspann vorüber, kehrte das flaue Gefühl zurück. Sie hängte gleich noch einen zweiten Film an, eine seichte Komödie, die reihenweise Teenies zu entzücktem Kichern brachte und bei Nora einen schalen Nachgeschmack hinterliess. Seit sechs Uhr abends sass sie am Schreibtisch in ihrem Detektivbüro und hämmerte auf die Tasten des Laptops. Es war drei Uhr morgens.
Der Todestag ihres Vaters.
Vor sechs Jahren war er ermordet worden. Ein aktiver, humorvoller Mann, der mehr Freunde gehabt hatte, als Nora je haben würde. Einfach aus dem Leben gerissen wie ein Gepard, der über die Steppe prescht und mitten im Sprung niedergestreckt wird. Leere blieb zurück. Und eine Ohnmacht, die im Laufe der Zeit nicht abnahm, sondern nur kälter wurde.
Nora seufzte. Sie trank einen Schluck Kaffee und tippte ihr von Hand geschriebenes Protokoll des aktuellen Falles ab.
Miroslav, ein junger Sozialarbeiter, hatte sie vor ein paar Tagen mit der Suche nach seinem gestohlenen Hund beauftragt. Dass dieser entführt worden war, hatte er von der Kasse beim Coop an der Höschgasse aus beobachtet. Bevor er sich durch die Leute habe zwängen und rausstürmen können, war der Tierdieb verschwunden. Miroslav hatte das ganze Quartier abgesucht, Nachbarn befragt und Plakate mit der Beschreibung seines Lieblings aufgehängt. Als alles nichts nützte, hatte er Nora aufgesucht. Er hatte ihr ein Foto gezeigt, auf dem ein struppiggraues Hündchen abgebildet war, das er Daisy nannte, obwohl es ein Männchen sei, aber das habe er zum Zeitpunkt der Namensgebung nicht gewusst. Daisy, bei dem man kaum erkennen konnte, was vorn und was hinten war, erinnerte Nora in Form und Farbe an eine Klobürste. Doch Miroslav schien sehr an dem Hund zu hängen. Er beschrieb ihn als aussergewöhnlich intelligent und lebendig. Und leider auch als viel zu vertrauensselig.
Nora listete auf, wo sie überall nach dem Tier gesucht hatte. Dann fügte sie hinzu, was das Resultat ihrer Ermittlung war: nichts. Nach einer Weile stand sie auf, reckte und streckte sich und schaute aus dem offenen Fenster. Die Laternen beleuchteten die Seefeldstrasse. Es war still, das Innere der Häuser dunkel. Keine Autos, schon gar keine Trams um diese Zeit. Die Leute schliefen. Eine Katze überquerte die Geleise, gab ein sehnsüchtiges Miauen von sich, eine andere antwortete ihr. Dann ging das Licht in einer gegenüberliegenden Wohnung an, eine Balkontür öffnete sich, und ein Mann trat in Unterhosen heraus. Als er Nora entdeckte, hob er die Hand. Sie winkte zurück. Sie kannte ihn vom Sehen. Er zündete sich eine Zigarette an, die regelmässig aufglühte, stiess den Rauch aus, dann ging er wieder hinein. Die Balkontür liess er offen.
Nora setzte sich wieder an den Bildschirm. Seltsam, dass heute keine Post von ihrer Mutter gekommen war. Sonst trafen ihre in verschnörkelter Schrift verfassten Briefe jeweils kurz vor Vaters Todestag bei Nora ein. Sonjas seelischer Zustand hatte sich, wie Nora aus den letzten Telefongesprächen schloss, massiv verbessert. Noras Mutter hatte vor einiger Zeit darauf bestanden, dass ihre Tochter sie beim Vornamen nannte. «Mama» klinge kindlich, «Mutter» lasse sie schlagartig zu einer biederen alten Schachtel mutieren, und etwas anderes käme gar nicht in Frage. Nach fast sechs Jahren des Rückzugs in ein Atelierhäuschen in Südfrankreich, gebeutelt von einer anhaltenden Depression, hatte Sonja im Frühling die ersten Briefe geschickt, in denen sie von neuer Lebensfreude schrieb. Ihre Aquarellmalerei habe sich verändert, sie verwende nun hellere Farben und fröhlichere Motive. Und sie habe sich mit einem netten Franzosen angefreundet, der ebenfalls Künstler sei. Nora hatte sich gefreut für sie.
Bald darauf waren bunte Postkarten hereingeflattert, auf denen Sonja von einem Arzt schwärmte, der ihr aus dem schwarzen Loch geholfen habe. Die Worte auf den immer farbenprächtigeren Karten waren mit Smileys verziert, die Schrift abwechselnd in Rot, Gelb und Pink gehalten. Nora hatte sich nicht gegen den Gedanken wehren können, hinter der plötzlichen Stimmungsaufhellung ihrer Mutter stecke Chemie. Prozac oder Ritalin. Doch Hauptsache, es ging ihr besser. Vielleicht tat sie Sonja auch unrecht; vielleicht hatte diese nach all den düsteren Jahren ein verständliches Nachholbedürfnis nach Licht und Leichtigkeit.
Aus einer Vorahnung heraus klickte sich Nora ins Internet. Sie öffnete ihren Mail-Account. Und tatsächlich, hier war sie, die Nachricht ihrer Mutter. Diesmal nicht vom Postboten gebracht, sondern elektronisch verschickt.
Von: | Sonja <sonja.tabani@bluewin.ch> |
An: | Nora <noratabani@hotmail.com> |
Betreff: | Überraschung! |
Gesendet: | 2. Juli 01:12:02 |
Liebe Nora,
sechs Jahre ist es nun her. Ich weiss, dass du heute auch den ganzen Tag daran denkst. Darum etwas zur Aufmunterung: Ich werde dich besuchen! Ich habe eine Galerie im Zürcher Niederdorf gefunden, die meine Bilder ausstellt. Ist das nicht toll? Die Vernissage findet in zwei Wochen statt. Ich dachte, ich wohne die ersten Tage bei dir, bis ich etwas gefunden habe. Das ist dir doch sicher recht, oder?
Liebe Grüsse,
Sonja
Nora war platt. Sonjas Wandel schien tiefgreifender zu sein, als sie gedacht hatte. Seit ihrer Kindheit war das Verhältnis zu ihrer Mutter eher kühl gewesen. Noras ganze Liebe hatte ihrem Vater gegolten, der sie nach Strich und Faden verwöhnt, sie aber auch angespornt hatte, ihren Träumen zu folgen. Sonja hatte sich aus allem rausgehalten. Aus Noras Alltag. Aus ihren Beziehungen. Aus ihrem Leben. Und nun lud sie sich selber ein.
Doch Noras Mansarde war so klein, da konnten unmöglich zwei Leute drin leben. Ganz zu schweigen von Mutter und Tochter, deren Beziehung jahrelang auf Sparflamme lief. Die Mini-Wohnung, die im selben Haus wie ihr Detektivbüro lag, reichte gerade für Nora, die kärgliche Einrichtung und Gregors Terrarium. Ihr Chamäleon durfte sich nach Herzenslust ausbreiten. Für Nora galt das nicht. Gregors gläsernes Heim, mit Pflanzen, Steinen und Wurzeln bestückt, war grosszügig gestaltet und füllte fast das halbe Zimmer aus. Nur schon der Gedanke, dass ihre Mutter und sie auf ein paar Quadratmetern zusammengepfercht sein würden, löste in Nora Beklemmung aus.
Sie schrieb zurück:
Von: | Nora <noratabani@hotmail.com> |
An: | Sonja <sonja.tabani@bluewin.ch> |
Betreff: | RE: Überraschung! |
Liebe Sonja,
vielen Dank für dein Mail. Ich freue mich, dass du deine Werke ausstellen kannst. Dass du bei mir übernachtest, geht leider nicht, ich habe viel zu wenig Platz. Tut mir leid. Ich helfe dir aber gern, ein Hotelzimmer zu finden. Wann hast du vor anzureisen?
Herzliche Grüsse,
Nora
Ihre Mutter schien ebenfalls am Computer zu sitzen. Postwendend kam eine Antwort.
Von: | Sonja <sonja.tabani@bluewin.ch> |
An: | Nora <noratabani@hotmail.com> |
Betreff: | RE: RE: Überraschung! |
Gesendet: | 2. Juli 03:25:11 |
Liebe Nora,
keine Angst, ich werde dir nicht auf die Nerven gehen!
Ein, zwei Übernachtungen wirst du deiner Mutter bestimmt zugestehen. Wir werden’s lustig haben, wie in alten Tagen. Ich fahre in ein paar Stunden los. Mein Zug geht um 06.51 Uhr ab Montpellier und kommt heute nachmittag um 14.28 Uhr am Hauptbahnhof Zürich an. Holst du mich ab?
Liebe Grüsse,
Sonja
Lustig wie in alten Tagen? Ankunft heute nachmittag? Nora stiess entgeistert den Atem aus. Das war definitiv Prozac, das die Erinnerungen und Entscheidungen ihrer Mutter trübte. Sie fand es idiotisch, weiter hin und her zu mailen, wenn sie beide wach waren, und griff zum Telefon. Sie stellte die französische Nummer ein. Nach zweimal Läuten nahm ihre Mutter ab.
«Nora, Liebling? Bist du das?», zwitscherte Sonja quicklebendig, als würde sie Nacht für Nacht um diese Zeit anregende Gespräche führen.
«Ich warte am Bahnhof auf dich», sagte Nora. «Einmal übernachten, mehr liegt wirklich nicht drin. Meine Mansarde hat die Grösse einer Schuhschachtel.»
«Geht klar, Schatz. Ich helfe dir auch in Haus und Heim! Putzen, Kochen, Abwaschen. Was in einem Detektivinnenhaushalt so anfällt.» Ein perlendes Lachen folgte.
Nora wischte sich den Schweissfilm von der Stirn. Die Hitze war noch immer drückend, kein Lüftchen wehte herein. In der Ferne hörte sie einen Automotor starten. Das brachte sie auf die Frage: «Wie transportierst du deine Bilder in die Schweiz?»
«Sind bereits unterwegs. Mit einer Speditionsfirma. Ich kann sie in den nächsten Tagen abholen. Ich habe extra ein Warenlager gewählt, das im Seefeld liegt. Ganz nah bei dir.»
«Du hast wirklich an alles gedacht.»
«Ja, nicht wahr? Ich bin schon sehr ungeduldig! Ich freue mich so, dich wiederzusehen. Du dich nicht auch?» Sonjas Stimme klang erwartungsvoll und offen.
Nora schluckte. Ging sie zu hart mit ihrer Mutter ins Gericht? Diese hatte es nach dem grausamen Mord an ihrem Mann genauso schwer gehabt wie Nora. Dass Sonja nach ihrem Eremitenleben nun wieder Unternehmungslust verspürte, war nichts als wünschenswert. Kein Grund für Nora, sich überfallen zu fühlen, keine Ursache zur Abwehr. Auch wenn das Ganze mehr als unerwartet kam – sie würde das hinkriegen. Momentan war sie zum Glück nicht mit einem schwierigen Fall beschäftigt, der sie forderte. Wenn Sonja sich nützlich machen wollte, konnte sie statt Putzen und Kochen mithelfen, den gestohlenen Daisy zu suchen.
Nora lächelte und meinte es ehrlich, als sie antwortete: «Doch, Sonja. Ich freue mich auch.»
Carla stand eine Sekunde lang wie versteinert im Zimmer. Berthold, ihr neuer Patient, war erneut zum Mörder geworden. Nur wenige Stunden, nachdem er ihr seine Gewaltphantasien anvertraut hatte. Etwas in ihr weigerte sich, das zu glauben. Dann riss sie sich zusammen. Sie musste handeln. Sie warf den Hörer aufs Bett und spurtete das Treppenhaus hinunter. Dann rannte sie in die Garage und startete ihren gelben Mini. Sie brauste aus der Ausfahrt, griff während des Fahrens nach dem Handy und wählte die Notfallnummer von Klinikleiter Lorenz Tillmann. Der wirkte erschrocken und versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Danach rief sie die Polizei an, die ihr versicherte, in wenigen Minuten vor Ort zu sein.
Ja, Paul Berthold sollte Hilfe erhalten. Sie war seine Therapeutin. Auch wenn er getötet hatte, war er ein kranker Mensch, der Beistand verdiente. Und nein, sie würde nicht allein kommen. Sie würde ihr Leben nicht aufs Spiel setzen.
Ein einziges Mal hatte sie den Fehler gemacht, sich von einem Patienten erpressen zu lassen. Zu Beginn ihrer psychiatrischen Praxis hatte ein Börsenmakler gedroht, seine Kinder zu töten, wenn sie ihn nicht notfallmässig behandle. Carla hatte seine Verzweiflung gespürt, den Termin mit ihrer Langzeitklientin verschoben und ihn empfangen. Die Sitzung war ein Desaster geworden. Er hatte gewütet und getobt, sie unfähig und erbarmungslos genannt. Seine Drohungen hatten sich ins Unermessliche gesteigert. Mit den Worten «Jetzt bring ich meine Söhne um!» war er aus dem Behandlungszimmer gestürmt. Die Vorstellung, er könnte dies wirklich tun, weil sie falsch reagiert habe, fand Carla so unerträglich, dass sie ihm nacheilte. Es folgte eine stundenlange Diskussion vor seinem Haus, die darin gipfelte, dass eine Nachbarin die Polizei rief, die dem Ganzen ein Ende setzte. Ironischerweise stellte sich heraus, dass ihr Patient gar keine Kinder hatte.
Damals hatte sie sich geschworen, es nie mehr so weit kommen zu lassen. Wenn jemand damit drohte, sich oder einem anderen etwas anzutun oder es womöglich bereits getan hatte wie in diesem Fall, schaltete sie die Behörden ein.
Carla fuhr zu schnell. Aber um diese Zeit musste sie nicht mit Verkehr rechnen. Sie nahm die Seestrasse und folgte ihr ein Stück. Dann liess sie den Dorfkern von Erlenbach hinter sich, bog rechts ab und hielt sich Richtung Forch. Die ehemalige Papierfabrik sorgte bei den Anwohnern der Goldküste seit Jahren für Spannungen. Die Inhaberfamilie hatte während der Finanzkrise Konkurs gemacht, und die Gemeinde weigerte sich, die Kosten für den Abbruch der Gebäude zu übernehmen. Seit zwei Jahren rotteten die Hallen vor sich hin, wurden mit Graffitis versprayt und von Junkies als Drogenumschlagplatz benutzt. Vor kurzem wurden die ersten Prostituierten aus Osteuropa vor den Fabriktoren aufgegriffen, was vor allem bei politisch konservativen Männern für Empörung gesorgt hatte. Huren in ihrem Dorf! Als wären diese ehrenwerten Herren nicht die Hauptklientel der oft mit Gewalt ins Land verschleppten Frauen. Carla hasste diese Doppelmoral.
Sie quietschte um die Kurve, nahm die Abkürzung den Kiesweg hinauf und parkierte ihren Mini vor der Fabrik. Sie löschte die Scheinwerfer. Es war finster. Ein fahler Halbmond leuchtete hinter einem Wellblechdach am Himmel und erhellte die Umgebung nur wenig. Die Silhouetten der verschiedenen Gebäude hoben sich kaum von der nächtlichen Dunkelheit ab. Carla liess das Fenster einen Spalt hinunter und lauschte in die laue Nacht. Der Duft eines würzigen Krautes strömte herein, Thymian oder etwas Ähnliches. Die Grillen zirpten, doch sonst vernahm sie kein Geräusch.
Gleich würde die Polizei eintreffen. Auf einmal schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, das Ganze könnte ein falscher Alarm sein, Berthold sie an der Nase herumgeführt haben wie damals der Börsenmakler. Vielleicht lag ihr neuer Patient friedlich in seiner Aussenwohngruppe im Bett und amüsierte sich über ihre Gutgläubigkeit. Doch seine Aufregung hatte so echt geklungen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ihm auf den Leim gekrochen zu sein.
In diesem Moment hörte sie Schritte.
Oder hatte sie sich getäuscht? Sie starrte in die Dunkelheit, konnte nichts erkennen.
Dann lehnte sie sich wieder zurück. Tageslicht hätte die Situation um einiges weniger unheimlich gemacht. Obwohl sie sich im Dunkeln eigentlich nicht fürchtete. Ausser mit einer unerklärlichen Scheu vor grossen Hunden – ohne je eine schlechte Erfahrung in dieser Hinsicht gemacht zu haben – war sie zum Glück nur selten mit eigenen Ängsten konfrontiert. Aber häufig mit jenen ihrer Klienten.
Was quälende Störungen anbelangte, hatte sie buchstäblich schon alles erlebt. Junge Frauen, die, sobald sie das Haus verliessen, von derart heftigen Angstattacken gepeinigt wurden, dass sie sich während Monaten nur noch daheim aufhielten. Männer, die nach aussen hin stark und selbstsicher wirkten, doch unter Phobien litten, die sie unerträglich peinlich fanden. Ein muskulöser Bauarbeiter aus Spanien kam Carla in den Sinn. Er hatte Panik vor Spinnen gehabt. Er weigerte sich, alte Häuser zu renovieren, in denen es vor Ungeziefer wimmelte, und arbeitete nur in Neubauten. Das kostete ihn den Job, was wiederum eine Depression auslöste. Die Mediensprecherin eines Pharmariesen war von Keraunothentophobie betroffen – der Furcht vor herabstürzenden Satelliten. Was anderen ein ungläubiges Lachen entlockte, war für sie eine Quelle der Angst. Sie mied offene Plätze und hatte ein Dutzend Raumfahrt- und Astronomiezeitschriften abonniert, um über die neuesten Satellitenmodelle und deren Reise um die Erde informiert zu sein.