Kitabı oku: «Der Blutsfeind», sayfa 3
Tony kratzte sich unter der Maske. «Das hast du gesagt. Ich war von Anfang an der Meinung, so viel Kohle wie möglich zu kassieren.» Er zielte noch immer mit seiner Waffe auf Parker. «Gib mir deine Knarre, Alter. Tut mir leid.»
Parker schüttelte den Kopf. «Du machst einen grossen Fehler.»
«Tu’s einfach! Du weisst, ich würd’ schiessen.»
Nora schaute zu den anderen Liegenden. Alle verfolgten gebannt die Wendung, die das Ganze genommen hatte.
Parker griff langsam nach seiner 9-Millimeter-Taurus, hielt sie am Lauf und übergab sie Tony. Dieser schob sie in seinen Hosenbund, wo bereits die Walther P22 des Wachmanns steckte. «Und jetzt die Tasche, los, mach schon! Am Schluss wirst du mir dankbar sein. Ich verarsch dich doch nicht. Ich tu das für uns beide, Mann.»
Parker reichte ihm die Tasche.
Tony ging zu Reto Furrer und befahl: «Steh auf!»
Furrer rappelte sich hoch.
Nora hoffte, Jan habe den Anruf entgegengenommen, höre diese Diskussion und ziehe die richtigen Schlüsse.
«Und jetzt komm mit!», fuhr Tony fort.
«Wohin?», fragte der Bankangestellte.
«Ins Untergeschoss. Wo ist der Schlüssel?»
«Ich sagte doch – »
Tony drückte ihm die Pistole an den Hals. «Du lügst, verdammter Banker!»
Furrer schaute verzweifelt zu der blonden Angestellten hinunter, die neben Bashkim Rahmani auf dem Bauch lag. Diese schüttelte unmerklich den Kopf.
Tony hatte es gesehen. «Was war das?»
«Nichts», flüsterte sie unter ihren Armen hervor, die noch immer auf ihrem Hinterkopf lagen.
«Wie heisst du?»
«Barbara Zink.»
Nora blickte erneut zur grossen Uhr. Wieder waren ein paar Minuten vergangen. Mit jeder vergrösserte sich die Chance, dass die Polizei einträfe, bevor es zum Blutvergiessen käme. Parker stand beim Eingang und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er ohne Beute abhauen oder sich auf Tonys Plan einlassen solle. Nora konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Warum hatte er sie erkannt? Wer war dieser Mann? Und wer hatte Nora hierher bestellt, mitten in einen Banküberfall? Das Ganze musste irgendwie miteinander zusammenhängen. Doch sie hatte keinen blassen Schimmer, wie.
Tony packte Furrers Hand, drückte die Pistole in dessen Handfläche und schaute die blonde Angestellte an. «Und so läuft das, Madame Zink: Ich schiess deinem Kollegen in den Finger, wenn du nicht redest! Zuerst in den kleinen, dann in den Ringfinger, und danach arbeite ich mich langsam zum Daumen vor. Dann folgt die andere Hand. Du sagst mir jetzt, wo die Schliessfachschlüssel sind.»
Barbara Zink wurde kalkweiss und stotterte ein paar Worte.
«Ich versteh dich nicht! Du darfst dich aufsetzen, wenn du mit mir sprichst!»
Die Angestellte tat es, rückte ihre Brille zurecht und stotterte aufgewühlt: «Bitte tun Sie ihm nichts. Es ist so, wie er sagte: Jedes Schliessfach hat zwei Schlösser. Ins eine kommt der Schlüssel, den wir in der Bank haben, ins andere derjenige des Mieters. Ohne den lassen sich die Fächer … nicht öffnen.»
Ihr Zögern war Tony aufgefallen. «Und das ist bei allen Schliessfächern so?»
Barbara Zink wartete einen Moment.
Es war ein Moment zu lange.
Tony drückte ab.
Wieder liess der Hund ein jämmerliches Bellen hören.
Furrer heulte auf. «Mein Gott!», schrie er. «Sie haben mir in den Finger geschossen! Er ist kaputt! Mein kleiner Finger ist kaputt!» Er hielt die Hand an sich gepresst, aus der das Blut auf den schwarzen Marmorboden tropfte.
«Jesus Maria, das wollte ich nicht!», rief Barbara Zink. «Es tut mir so leid, Reto! Bitte hören Sie auf! Ich sage alles! Aber es wird unsere Bank ruinieren.»
Tony wandte sich ihr zu, und Nora ahnte, dass er unter seiner Maske grinste. «Nur zu, Fräulein. Was möchten Sie mir mitteilen?»
Furrer liefen die Tränen übers Gesicht.
Die alte Dame am Boden schaute abwechselnd auf Furrer und auf Zink, dann fragte sie: «Entschuldigen Sie, Herr Bankräuber, dürfte ich bitte den armen Herrn verbinden?» Sie zeigte auf ihr lila Halstuch.
Tony stiess ein ungläubiges Lachen aus. «Das könnte dir so passen, alte Schachtel!»
Da meldete sich Parker. Seine Stimme war hart wie Stahl. «Lass sie, Tony.» Er half der Dame auf und liess zu, dass diese ihr Halstuch um Furrers Finger wickelte. Sie sprach beruhigend wie zu einem Kind auf ihn ein. «Ihr Finger ist nicht kaputt, Herr Furrer, sehen Sie. Nur verletzt. Das kann genäht werden. Alles wird wieder gut. Wir bleiben jetzt ganz ruhig.»
«Haargenau, Lady!», stiess Tony aus. «Ihr bleibt ruhig. Und nun zu dir, Barbara. Dein Reto hat jetzt noch neuneinhalb Finger. Es könnten weniger werden. Erzähl mir die Wahrheit.»
Zink bemühte sich sichtlich, sich die Panik nicht anmerken zu lassen. «Die Wahrheit ist, die neuen Safes funktionieren so, wie wir es Ihnen erklärt haben.»
«Aber es gibt noch andere?»
«Ja. Die alten, die nie renoviert wurden.»
«Wie viele?»
«120. Anfang des letzten Jahrhunderts funktionierte das System so, dass die Kunden zum Schalter kamen, ihre Fachnummer nannten, ein Angestellter das Fach mit dem Bankschlüssel öffnete und dem Kunden die darin liegende Lade gab. Einige unserer langjährigen Kunden lieben diese antiken, verzierten Fächer und wollten sie – trotz geringerer Sicherheit – mieten. Bestimmt sind keine wertvollen Dinge drin. Wahrscheinlich nur …» Der Stress war ihr anzuhören. «Nur Dokumente.»
«Das lass mal unsere Sorge sein. Wo sind die Schlüssel für die antiken Fächer?»
Barbara Zink machte einen letzten Versuch. «Bitte haben Sie Erbarmen. Wenn publik wird, dass die persönlichen Wertsachen in unserer Bank nicht sicher sind, wird das die ZCB nicht verkraften können.»
«Interessiert mich einen Dreck! Schlüssel her oder ich – » Er riss Furrers Hand zu sich und drückte die Pistolenmündung in dessen Ringfinger.
«Nein! Bitte nicht!», schrie sie.
Sie eilte zum Wandschrank hinter den Schaltern, entnahm ihm einen Aluminiumkoffer und trug ihn durch die Halle. Dann stellte sie ihn vor Tony.
«Was ist das?»
«Die 120 Schlüssel.»
Kommandant Thomas Baumann fixierte das rot blinkende Lämpchen auf dem City Screen. Er seufzte. Nach der Auswertung der «Rammbock»-Sache hatte er seine wohlverdienten drei Freitage in den Bergen verbringen wollen. Sauna, Sprudelbad und Dampfbad in einem Wellnesshotel im Engadin, wo um diese Zeit bereits der erste Schnee lag. Erholung pur, er hatte es bitter nötig. Er würde es verschieben müssen. «Moser, alarmier den Streifenwagen!»
«Sofort.» Beat Moser wählte die direkte Linie im Multifunkgerät, das ihn jederzeit mit allen Streifenwagen verband, die unterwegs waren.
Es knisterte, dann meldete sich eine Stimme: «Streifenwagen Limmat 1, Suter. Was gibt’s?»
«Code rot bei der ZCB.»
«Hauptsitz?»
«Fraumünsterstrasse», bestätigte Moser.
Thomas Baumann legte seine Akten auf den Tisch und trat näher ans Funkgerät. «Hier Baumann, wo seid ihr?»
«Biegen gerade in die Talstrasse ein.»
Für jeden Zürcher Stadtteil war ein Wagen mit zwei Streifenpolizisten zuständig, der Tag und Nacht im Quartier zirkulierte. Streifenwagen Limmat 1 – normalerweise in der Innenstadt unterwegs – war bei Bedarf zusätzlich im Stadtkreis 7 im Einsatz. Dass er sich momentan ganz in der Nähe des möglichen Tatorts befand, war ein Glücksfall. Falls es sich tatsächlich um einen Banküberfall handelte – wovon Baumann momentan ausging – spielte der Zeitfaktor eine wichtige Rolle. Die beiden Männer von Limmat 1 konnten im Handumdrehen bei der Zurich Credit Bank sein.
«Was ist mit der Alarmpatrouille?», kam es aus dem Gerät.
«Fordern wir an», gab Baumann zurück. «Checkt die Lage vor Ort.»
«In Ordnung.»
Baumann hörte das Beschleunigen des Motors, das Aufheulen des Horns, dann war die Verbindung unterbrochen. Er wandte sich an Beat Moser. «Informier den Patrouillenwagen.»
Moser nahm Kontakt mit der Einsatztruppe der Grenadiere auf, die dem Kreis 1 zugeteilt waren. Es waren vier Mann, Skorpions, ebenfalls ständig auf Abruf bereit, so dass in wenigen Minuten sechs Leute vor der Bank sein würden. Sollte die Lage es erfordern, würde Baumann weitere Skorpions aufbieten. Diese bräuchten eine halbe Stunde, bis sie ausgerüstet, bewaffnet und vor Ort wären. Noch konnte sich das Ganze als Irrtum herausstellen. Baumanns Leute waren schon etliche Male in Vollmontur und Kampfausrüstung an einem vermeintlichen Tatort aufgetaucht, um dann zu erkennen, dass nicht nur kein Verbrechen vorlag, sondern auch keiner der Angestellten den Alarmknopf betätigt oder den Rückruf der Polizei gehört haben wollte. Trotz der immensen Kosten mussten sie jedem Notruf nachgehen.
Moser schaltete das Funkgerät aus und deaktivierte das rote Licht auf dem grossen Bildschirm. «Die Alarmpatrouille ist auf dem Weg.»
In Jans Hirn arbeitete es fieberhaft. Vorhin hatte sein Handy geklingelt. Er dachte, es sei seine Frau Monika, die vorhatte, ihn anzurufen, um einen Treffpunkt fürs Mittagessen zu vereinbaren. Sie hatte heute nachmittag ausnahmsweise frei, da sie ihren Dienst mit einer Kollegin der Onkologischen Abteilung getauscht hatte. Bis um elf würde sie noch im Uni-Spital arbeiten, dann wollte sie mit der Polybahn zum Central fahren, im Café «Mohrenkopf» eine heisse Schokolade trinken und Jan später irgendwo in der Stadt treffen.
Als er den Anruf entgegennahm, das «Sali Schatz» bereits auf den Lippen, erkannte er die Nummer auf dem Display.
«Nora?», fragte er. «Was gibt’s?»
Von der anderen Seite kam ein Rascheln, als hätte Nora in ihrer Jackentasche aus Versehen seine Kurzwahltaste gedrückt.
«Hallo, Chef?» Jan lauschte ein paar Sekunden. Als nichts weiter zu vernehmen war, wollte er die Verbindung kappen, um Nora keine horrende Rechnung zu bescheren. Dann stutzte er. Undeutlich hörte er einen Mann sagen: «Halt die Fresse, Affenhirn!»
Was sollte das denn sein? War Nora in einen Streit geraten?
Er stellte auf Freisprechfunktion, schob die Lautstärke aufs Maximum und legte das iPhone auf sein Pult.
Wieder raschelte es, dann hörte Jan eine andere Männerstimme: «… hast gesagt … Millionen zu holen … höchstens Hunderttausend …»
Jan starrte auf das Mobiltelefon, ging in Sekundenschnelle mehrere Erklärungen für diese seltsamen Dialoge durch, doch keine ergab Sinn. Nun vernahm er etwas von «Schliessfächer … Schmuck … und Gold». Zwei Leute brüllten sich an. Es folgte ein Schuss. Ein Hund bellte. Jemand schrie.
Das konnte nichts anderes bedeuten, als dass Nora in einen Überfall verwickelt war und versuchte, ihn zu erreichen.
«Nora», flüsterte er, «kannst du mich hören?»
Keine Antwort.
Er versuchte es etwas lauter, dann hielt er inne. Er durfte Nora nicht gefährden. In welchen Schwierigkeiten sie auch immer steckte, es schien so, als könne sie nicht reden. Seine Stimme, die aus ihrem Handy ertönte, brächte sie in Gefahr.
Jan stand auf und tigerte unruhig im Büro hin und her, während aus seinem Mobiltelefon weiterhin fremde Leute zu hören waren. Nora hatte etwas von einer Bank erzählt, in die sie bestellt worden sei – aber in welche? Jan grübelte über den Namen nach. Doch Nora hatte ihn nicht genannt. Da kamen unzählige in Frage. Er nahm an, dass es um ein Gebäude in der Stadt handelte, aber sie hatte nichts Genaueres erwähnt. Sie wolle nur schnell einen möglichen Klienten treffen, hatte sie gemeint, und sei sicher bald wieder zurück. Bald. Also doch Zürich. Jan eilte zum Regal, packte das gelbe Branchentelefonbuch und schlug es auf.
Zweieinhalb Seiten Bankfilialen. UBS, Credit Suisse, Kantonalbank, Raiffeisenbank, Sparkassen, ZCB, Migros-, Coop- und Citibanken, etliche Privatgeldinstitute, von der Bank Gutenberg über die HSBC zur Julius Bär Bank.
Jan stöhnte. Keine Chance, herauszukriegen, wo Nora sich befand.
Also anders herum. Auf dem Festnetzapparat wählte er die Nummer 117, berichtete von Noras Telefonanruf und hielt der Polizistin am anderen Ende sein Handy hin, damit sie mithören konnte. Sie werde der Sache sofort nachgehen, sagte sie. Es klang, als wüsste sie bereits, was geschehen war. Jan fragte, wo der Bankraub im Gange war.
«Das darf ich Ihnen nicht mitteilen», antwortete sie.
Nein, natürlich nicht. Jan legte den Hörer des Festnetztelefons auf und folgte dem aggressiven Wortgefecht, das aus seinem Handy kam. Zum Glück hatte er sich ein iPhone gekauft. Während er die Stimmen weiterhin über Lautsprecher vernehmen konnte, aktivierte er die App «Around me» und liess sich alle Banken im Umkreis von einigen Kilometern auf dem Stadtplan zeigen. Nora hatte das Büro um zwanzig vor neun verlassen, das hiess, der Stadtrand kam nicht in Frage, wenn sie sich um neun mit ihrem Auftraggeber hatte treffen wollen. Jan konzentrierte sich auf die Stadtkreise 1, 2, 3, 4, 6, 7 und 8, ohne Wollishofen und den Teil hinter dem Schaffhauserplatz. Dumm war nur, dass sich die meisten Geldinstitute genau in diesen Kreisen befanden. Im Aussenquartier Seebach wimmelte es nicht gerade von Banken.
Er überlegte weiter. Nora hatte von ihm nur einen Grüntee bekommen. Sie hatte sich auf jeden Fall irgendwo noch einen Kaffee reingezogen. Dass sie stadtauswärts Richtung Tiefenbrunnen und Zollikon gefahren war, konnte er sich nicht vorstellen, also wäre der realistische Ort für einen Kaffee das Bellevue, genauer gesagt, das «Belcafé». Dort wäre sie um etwa zehn vor neun angekommen, hätte das Gebräu hinuntergestürzt und wäre gleich wieder weitergefahren oder zu Fuss gegangen. Auf jeden Fall wären ihr nur noch zehn Minuten geblieben, wenn sie pünktlich ankommen wollte. Und pünktlich war sie, trotz ihres sonst chaotischen Wesens. Er verkleinerte den Radius auf einen Kilometer rund ums Bellevue.
Noch immer über ein Dutzend Banken.
Das war gar nicht gut.
Unentwegt drangen die Stimmen aus seinem Mobiltelefon, er hörte die Worte «Untergeschoss» und «Schlüssel». Jan verstand nicht alles. Doch er sortierte sofort die kleineren Bankfilialen aus, von denen er wusste, dass sie mehr oder weniger nur aus ein paar Bankomaten und Schaltern bestanden, aber bestimmt keine unterirdischen Schliessfächer hatten.
Es waren nach wie vor zu viele.
Hatte Nora wirklich nicht erwähnt, wohin sie wollte? Jan versuchte, sich an jedes Wort zu erinnern, das sie heute morgen gewechselt hatten. Verärgert schüttelte er den Kopf. Er nahm sich vor, dass künftig keiner von ihnen das Büro für einen Auftrag verlassen dürfe, ohne dem anderen genau mitzuteilen, wo das Ziel sei.
Blieb noch die letzte Möglichkeit. Jan würde den Polizeifunk abhören. Vor ein paar Wochen hatte Mike Salzmann, Noras ehemaliger Kollege bei der Kripo, Jan gewarnt, wenn er sich weiterhin ins Funksystem der Polizei hacke, müsse er mit ernsten Konsequenzen rechnen. Dass Nora und Jan sich ab und zu an der Grenze zur Illegalität bewegten, wenn es die Ermittlung erforderte, nahm Mike zähneknirschend hin, er belieferte Nora der alten Freundschaft wegen sogar immer wieder mit Insider-Informationen. Doch die Vorstellung, dass Jan den internen Funk abhörte, hatte den cholerischen Berner rasend gemacht.
Der Zweck heiligt die Mittel, fand Jan. Es ging nicht um irgendwelche kleinen Delikte. Genau in diesem Moment fand ein Banküberfall statt. Nora war in Gefahr. Andere Menschen ebenfalls.
Jan suchte die Frequenz auf seiner Funkstation, drehte am Rädchen, es quietschte, surrte, knisterte, dann war der Polizeifunk scharf zu vernehmen. «Hier Streifenwagen Limmat 1», hörte er, «wir kommen in wenigen Augenblicken bei der ZCB an. Wo ist die Alarmpatrouille?»
«Erreicht in diesem Moment die Fraumünsterstrasse», gab jemand zurück.
Bingo. Die ZCB an der Fraumünsterstrasse.
In diesem Moment hörte er aus seinem iPhone einen Knall, ein erneutes Hundebellen und eine Frau, die schrie: «Bitte hören Sie auf! Ich sage alles!»
09:13
Noras Gesicht wärmte den kalten Marmorboden. Ihr Rücken war verkrampft, sie atmete stossweise. Hinter ihr hechelte der Hund der Rasta-Frau. Nora hatte die Schüsse gezählt. Bisher waren es drei aus Tonys Waffe gewesen. Einer zur Einschüchterung von Hagen, einer hatte Parkers Schuh durchbohrt und der dritte Furrers Finger getroffen. Parker hatte, soweit Nora sich erinnerte, siebenmal geschossen, um die Überwachungskameras ausser Gefecht zu setzen.
Sieben- oder achtmal?
Ganz sicher war sie nicht.
Beide Täter hatten Taurus-PT908-Modelle, die, wie Nora wusste, mit neunschüssigen Magazinen ausgestattet waren. Das hiess, Tonys Waffe enthielt noch sechs Kugeln, Parkers noch eine oder zwei. Dann war da noch die Waffe des Wachmanns, die Walther P22, über die die beiden zusätzlich verfügten. Gut möglich, dass die Bankräuber Reservemagazine auf sich trugen, doch der Augenblick, in dem ihre Waffen leergefeuert wären, böte die einzige Chance für einen Überraschungsangriff. Falls Nora denn einen solchen wagte. Vielleicht war es besser, auszuharren und zu hoffen, die Polizei träfe rechtzeitig ein und sie alle kämen mehr oder weniger heil heraus.
Doch Nora bezweifelte, ob sie dazu fähig wäre. Sobald sich eine Gelegenheit ergäbe, würde sie handeln. Das war das Erbe ihres Vaters. Schon Carlo hatte das Warten und Nichtstun kaum aushalten können. Ob es seine fehlende Geduld gewesen war, die ihm vor sechs Jahren das Leben gekostet hatte, hatte Nora nie erfahren. Mike Salzmann hatte sich darüber ausgeschwiegen. Der Schock über Carlos Tod hatte sich in sein Gesicht eingebrannt. Er hatte es nicht über sich gebracht, Nora die Einzelheiten über Carlos letzten Einsatz zu erzählen. Es sei besser, sie wisse es nicht, hatte er gesagt, sie solle ihren geliebten Vater so in Erinnerung behalten, wie sie ihn gekannt habe. Nora war über Monate von Bildern furchtbarer Verbrennungen, Verstümmelungen oder sonstiger Verunstaltungen ihres Vaters verfolgt worden und war froh gewesen, dass sie die Details nie erfahren hatte. Ihre Mutter hatte die Leiche identifizieren müssen und nie ein Wort darüber verloren. Doch immer wieder nagte es an Nora, dass sie nicht wusste, was ihr Vater in seinen letzten Stunden erlebt hatte. All die Jahre nach seinem Tod hatte sich Mike um Nora gekümmert wie um eine eigene Tochter. So sehr, dass Nora ab und zu der Verdacht gekommen war, ihre Mutter habe Carlo mit Mike betrogen und dieser sei in Wirklichkeit Noras Vater. Doch das war unrealistisch. Es hatte etliche Situationen gegeben, in denen Sonja auf Mike eifersüchtig gewesen war und Carlo vorgeworfen hatte, seinem Arbeitspartner mehr Einblick in sein Inneres zu gewähren als seiner Frau. Damit hatte sie nicht ganz unrecht gehabt. Doch Sonja war auch keine pflegeleichte Ehefrau gewesen. Geschweige denn eine unkomplizierte Mutter. Seit sie wieder nach Zürich zurückgekehrt war, sahen sie sich zwar öfter und waren sich nähergekommen. Doch irgendetwas Unausgesprochenes schwebte immer zwischen ihnen.
Die Gesichter ihrer Mutter, ihres Vaters und Mike Salzmanns, die vor Nora auftauchten, waren intensiv und dreidimensional. War dies die berühmte Rückschau auf das eigene Leben, bevor es zu Ende ging? Würde sie bei diesem Banküberfall umkommen? Sie zwang sich, den trüben Gedanken keine Energie zu geben, obwohl ihr Herz raste wie eine Maschinengewehrsalve. Sie musste aufmerksam bleiben, registrieren, wer die Kontrolle hatte, wann die Konzentration der Männer nachliess, zählen, wie viele Schüsse fielen. Und zur rechten Zeit eingreifen.
Draussen schlug die Uhr der Fraumünsterkirche viertel nach neun. Tony starrte noch immer auf den Koffer, den Barbara Zink vor ihn hingestellt hatte und der mit zwei Zahlenschlössern gesichert war.
«Er ist verschlossen», stiess Tony aus. «Wie lautet der Code?»
«Links 3679, rechts 1205», antwortete die Bankangestellte kläglich.
«Gutes Gedächtnis, Kleine.» Er drehte an den Rädchen, klappte den Deckel auf und warf einen Blick hinein.
Nora erkannte auf einer schwarzen Samtunterlage mehrere Reihen silberner Schlüssel, die nummeriert waren.
Parker kam auf seinen Partner zu. «Gib mir meine Knarre zurück. Was jetzt kommt, schaffst du nicht allein.»
Tony langte unter seine Maske und wischte sich den Schweiss ab. «Du knallst mich nicht ab? Ich mach das doch für uns beide.»
«Das hast du schon mal gesagt», gab Parker zurück und hielt fordernd die Hand hin. «Die Knarre.»
Tony reichte sie ihm. «Du wirst noch froh sein, Alter, wenn wir auf den Bahamas – »
«Halt verdammt nochmal deine Klappe, du unfähiger Volltrottel! Ich hatte einen perfekten Plan. Kurze Sache, keine Verletzten, keine Toten. Wegen dir wird das Ganze noch den Bach runtergehn.»
Plötzlich waren von draussen Sirenen zu hören. Alle Blicke richteten sich auf die Frontfenster der Bank. Durchs Glas sah man zwei Streifenwagen mit Blaulicht und heulendem Horn in die Fraumünsterstrasse brausen und mit quietschenden Reifen zum Stillstand kommen. Der eine war ein Alarmpatrouillenfahrzeug, wie Nora erkannte. Das hiess, die Interventionseinheit «Skorpion» war bereits involviert. War das Jans Werk? Oder hatte jemand vom Bankpersonal die Polizei alarmieren können? Nora drehte den Kopf und nahm auf Bashkim Rahmanis Gesicht den Hauch eines zufriedenen Lächelns wahr. Sie hoffte, die Bankräuber würden nicht erfahren, dass er es gewesen war. Als Rahmani Nora sah, verdüsterte sich sein Ausdruck. Misstrauisch hielt er ihrem Blick stand.
Draussen wurden Autotüren aufgerissen. Mehrere bewaffnete, uniformierte Polizisten stürmten auf die Bank zu. Tony schoss blindlings ins Glas. Nora zählte mit. Vier, fünf, sechs, sieben Kugeln.
Das Sicherheitsglas der Fenster nahm keinen Schaden. Tony schrie: «Verpisst euch, Scheissbullen!», und feuerte weiter. Acht. Neun. Klick. «Verdammt!» Er drückte mehrmals ab, doch das Magazin war leer. Er schleuderte die Pistole in eine Ecke, griff an seinen Hosenbund und holte die Waffe des Wachmanns hervor. Also hatte Tony kein Reservemagazin für seine Taurus.
«Hör auf!», brüllte Parker. «Oder ich leg dich um! Genau das wollte ich vermeiden!»
Tony steckte die Pistole widerwillig zurück.
Die Polizisten erreichten den Eingang, die Tür öffnete sich automatisch. Einer der Männer rief von draussen: «Stellen Sie das Feuer ein! Unsere Waffen sind auf Sie gerichtet!» Als keine Schüsse mehr fielen, fuhr er fort: «Wir kommen ganz langsam herein! Es muss keine Verletzten geben!»
«Keinen Schritt weiter!» Parker riss die tamilische Angestellte vom Boden hoch und presste ihr die Waffe an die Schläfe. «Sonst stirbt die Kleine hier!»
Er hielt sie fest umklammert. Ihr Gesicht war angstverzerrt, ihr Mund zu einem Schrei geöffnet, doch kein Ton kam heraus.
Die Polizisten zögerten.
Bashkim Rahmani meldete sich vom Boden: «Bitte, nehmen Sie mich! Lassen Sie Manisha gehen!»
Tony gab ihm einen Tritt in die Seite. «Das hättest du wohl gern, Albaner!»
Rahmani krümmte sich.
«So ein mutiger Junge», murmelte die alte Dame neben Nora.
Parker rief zu den Polizisten: «Zurück mit euch, oder ich drücke ab!»
Die Uniformierten nickten sich zu, hielten ihre Waffen noch immer auf Parker gerichtet, während sie ein paar Schritte rückwärtsgingen.
«Schneller! Weiter weg! Wird’s bald!», rief Parker. «Ich zögere nicht, sie umzulegen!»
Die sechs Mann traten den Rückzug an. Plötzlich sprang der Wachmann auf, der bis jetzt bewegungslos am Boden gelegen hatte und hechtete nach draussen.
«Hiergeblieben!», schrie Tony und zog die Waffe. Parker schob Tonys Pistole zur Seite, bevor dieser schiessen konnte. «Lass ihn. Wir brauchen ihn nicht.»
Der Sicherheitsmann taumelte in die Gruppe Polizisten, die ihn in Empfang nahm. Die Glastür schloss sich hinter ihm.
Nora sah zu Bashkim hinüber. Der schüttelte verständnislos den Kopf, starrte dem Wachmann voll Verachtung hinterher und flüsterte: «Feigling.»
Parker wandte sich an Tony. «Du hast uns diese ganze Scheisse eingebrockt! Los jetzt! Schaff die Leute ins Untergeschoss.»
«Alle?»
«Was denkst du denn? Dass wir die Leute hier rumstehen lassen, während wir unten die Fächer leeren? Du hast das angezettelt, nun führ es auch richtig durch!»
«Okay, Parker.» Tony wollte die Leute vom Boden hochjagen und fuchtelte nervös herum: «Auf mit euch, Pack!» Doch alle Augen waren auf Parker gerichtet.
Erst als dieser sagte: «Steht auf und folgt ihm!», erhoben sie sich. «Das ist jetzt kein Bankraub mehr. Das ist eine Geiselnahme.»
«Zentrale, bitte kommen», schepperte es aus dem Funkgerät im Hauptbüro der Stadtpolizei, «hier Streifenwagen Limmat 1, Suter.»
Beat Moser machte Thomas Baumann Platz, so dass sich der Kommandant melden konnte: «Wie sieht die Lage aus, Suter?»
«Bewaffneter Überfall auf die Zurich Credit Bank», kam es zurück. «Zwei maskierte Männer mit Faustfeuerwaffen, sechs bis acht Geiseln, ein Hund. Wir mussten uns zurückziehen, da das Leben einer Frau in Gefahr war.»
«Haben die Täter irgendwelche Forderungen gestellt?», fragte Baumann.
«Bis jetzt nicht.»
«Tote oder Verletzte?»
«Konnte ich in dieser kurzen Zeit nicht feststellen. Aber … Moment … ein Sicherheitsmann der Bank möchte mit dir sprechen.»
Es knisterte in der Leitung, dann ertönte eine aufgeregte Stimme. «Hier ist Karl Gutknecht, ich bin von der Security. Ich konnte mich … retten.» Er klang wie ein von Schuldgefühlen geplagter Deserteur.
«Was haben Sie beobachtet, Herr Gutknecht?»
«Es sind zwei Täter. Sie haben vier Bankangestellte unter Kontrolle: Reto Furrer, Manisha Krishnakumaran, Barbara Zink und Bashkim Rahmani. Furrer haben sie in die Hand geschossen.»
Baumann machte sich Notizen. «Ist er schwer verletzt?»
«Ich bin nicht sicher.»
«Weiter?»
«Weiter sind da vier Kunden. Rainer Hagen, ein deutscher Stammkunde. Dann eine etwa 80jährige Dame sowie eine 30-Jährige. Und eine Jugendliche mit einem Polski-Owczarek-Nizinny.»
«Mit einem was?»
«Einem Polnischen Niederungshütehund. Braun-grau-schwarz gescheckt mit langen zottigen Haaren, ich habe selber so einen.»
Baumann verdrehte die Augen. «Die Rasse tut nichts zur Sache.»
«Entschuldigen Sie bitte. Ich bin … ziemlich durcheinander.» Seine Stimme brach.
«Begreiflich, Herr Gutknecht. Aber Sie müssen sich noch einen Moment zusammenreissen. Was können Sie mir weiter sagen?»
«Die Bankräuber haben das Geld aus der Schalterhalle erbeutet sowie meine Waffe. Nun haben sie vor, sich an die Safes im Untergeschoss zu machen.»
«Was ist mit den Überwachungskameras?», fragte Baumann.
«Sind zerstört.»
«Alle?»
«Ich glaube ja.»
Baumann winkte Beat Moser heran. «Mach den Sicherheitschef der ZCB ausfindig. Ich will alle Details über die Kamerastandorte erfahren.»
Moser nickte und eilte zum Telefon.
«Gutknecht», fuhr Baumann fort, «was können Sie uns über die Geiselnehmer sagen?»
«Einer ist ein Hitzkopf, der sofort schiesst, wenn jemand aufmuckt, der andere ist ruhiger, aber mindestens so bedrohlich. Sie haben Streit bekommen und mussten ihren Plan ändern. Das ist doch gut, oder?»
«Das ist gefährlich», gab Baumann zurück.
«Ich verstehe.»
«Sonst noch was?»
«Nein», meinte der Wachmann.
Baumann schrieb alles auf, dann bedankte er sich und bat den Wachmann, das Funkgerät wieder dem Streifenpolizisten zu übergeben.
«Hier Limmat 1, Suter», meldete sich dieser.
«In einer halben Stunde», informierte Baumann ihn, «werden weitere Skorpions bei euch eintreffen. Ich richte den Führungsraum mit der direkten Linie ein. Informiert mich über die kleinste Änderung der Lage.»
«In Ordnung.»
Baumann beendete das Gespräch, dann rief er einen seiner Männer an, teilte ihm mit, eine achtköpfige Einsatzgruppe habe sich schnellstmöglich im Führungsraum einzufinden. Nun wandte er sich an Moser. «Hast du den Sicherheitschef der Bank erreicht?»
Moser nickte. «Er kontrolliert in den nächsten Minuten die Monitore der Kameras. Sobald er weiss, ob eine oder mehrere noch intakt sind, meldet er sich.»
«Stell ihn direkt zu mir durch», gab Baumann zurück. «Und sorge dafür, dass die Praktikantin Kaffee und Mineralwasser in den Führungsraum bringt.»
Parker zog den Rauch seiner Zigarette tief in seine Lungen. Er kochte vor Wut. Es war genau das passiert, was er befürchtet hatte: Sein Kumpel hatte es verbockt. Und er, Parker, musste nun nach einer Lösung suchen. Weil Tony zu beschränkt war, selber zu denken, weil er zu gierig war, und weil er überhaupt der grösste Idiot der nördlichen Hemisphäre war. Parker hätte die Sache mit einem anderen durchziehen sollen.
Tony, mit dem Alukoffer in der einen und der Knarre des Wachmanns in der anderen Hand, trieb die Angestellten und Kunden aus der Haupthalle zum Seitenausgang, der ins Untergeschoss führte. Die Bullen hatten sich vom Eingang zurückgezogen und lauerten auf der anderen Strassenseite. Parker stiess die tamilische Angestellte in die Gruppe zurück und trat als Letzter ins Treppenhaus. Die Leute stolperten dicht aneinandergedrängt nach unten. Die Rastalockige tätschelte ihren Hund, dieser hatte den Schwanz eingezogen und trottete mit dem Kopf dicht am Boden neben ihr her. Der Geschäftsmann hielt sich am Ärmel von Barbara Zink fest; es war nicht klar, ob er sie oder sich selbst beruhigen wollte. Neben ihr stieg die alte Dame die Stufen hinunter und flüsterte Furrer tröstende Worte zu, der seinen blutenden Finger hielt, welcher mit ihrem lila Halstuch umwickelt war. Bashkim Rahmani, der übereifrige Angestellte, warf Parker einen bösen Blick zu. Parker zielte drohend mit seiner Pistole auf ihn, bis er wegschaute.
Parker konnte sich kaum beruhigen. Er wusste, was eine Geiselnahme nach sich zog. Er hatte im Knast einige kennengelernt, die wegen Ähnlichem sassen. Für einen unblutigen Bankraub, der nur materiellen Schaden verursachte, konnte man mit ein paar Jahren davonkommen; bei Geiselnahme kannten die Gerichte keine Gnade. Die Opfer seien bis ans Ende ihrer Tage gezeichnet, hiesse es, sie hätten um ihr Leben gebangt und seelischen Schaden erlitten. Besonders hart waren die Richter, wenn Frauen darunter waren. Dieser Gedanke erzürnte Parker noch mehr. Als ob die Leiden von Frauen doppelt zählten! Er war ein Mann, und sein Leben war eine einzige Wüste gewesen. Die Jahre seiner beschissenen Kindheit tauchten vor ihm auf. Die harte Hand seines Vaters, seine Mutter, die alles billigte. Das Eingeschlossensein in seinem Zimmer, in dem es weder Spielsachen, noch Musik oder Bücher gegeben hatte. Keine Freunde, keine Spielkameraden. Niemand hatte das Haus betreten dürfen. Aus der Verzweiflung, Einsamkeit und Verlorenheit hatte sich im Laufe der Jahre ein einziges Gefühl herauskristallisiert: eine unbändige, zerstörerische Wut. Wut auf seine Eltern, auf die Menschheit, auf die ganze Welt. Er hasste alles und jeden. Am meisten sich selbst. Sein Herz fühlte sich an wie eine rabenschwarze Grube, gefüllt mit beissenden Rachegedanken. Manchmal versuchte er, ein guter Mensch zu sein, andere zu verstehen, jemandem zu helfen, aber es gelang ihm nie richtig. Nach ein paar Sekunden war die Anwandlung jeweils vorüber, und das schwarze Loch hatte ihn wieder.