Kitabı oku: «Skotom»
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2020 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99107-246-1
ISBN e-book: 978-3-99107-247-8
Lektorat: Alexandra Eryigit-Klos
Umschlagfoto: Maksim Prochan | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Moira Dawkins
Danksagung
Prolog
Meine Kindheit
Mein neues Leben
Mein Leidensweg
Andere Abnormitäten
Einstieg in die Psychotherapie
Ich hatte mir das Ganze weitaus schlimmer vorgestellt – was bei mir an der Tagesordnung ist, um ehrlich zu sein. Ich fand meine Therapeutin von Anfang an sympathisch, woran auch ihre beiden Hunde nicht ganz unschuldig waren. Allerdings behielt ich die Sitzungen lange Zeit für mich. Nur meine Freundin, die mir die Empfehlung ausgesprochen hatte, wusste Bescheid. Auch bei dieser Therapeutin brauchte ich eine gewisse Anlaufzeit, doch irgendwann vertraute ich ihr genauso wie meinem Doc. Genauer gesagt, ich habe mir die Zeit genommen, um Vertrauen zu ihr zu fassen, und nicht aufgegeben. Ich genoss es sehr, mich mit ihr über alles Mögliche zu unterhalten. Anfangs erläuterte ich ihr meine momentane Situation und den Grund für mein Vorsprechen bei ihr. Natürlich kam auch meine Vergangenheit zur Sprache, womit ich auch gerechnet hatte. Wie schon Dutzende Male vor ihr gab ich auch ihr die Kurzfassung des Geschehenen und beantwortete all ihre Fragen wahrheitsgemäß. Schon nach wenigen Sitzungen eröffnete sie mir, dass sie eine Fortführung unserer Sitzungen für angebracht halte und sie daher alles Nötige beantragen werde. Was mir an ihr gefiel, war, dass sie mich wie einen normalen Menschen behandelte, eine lockere Umgangsweise hatte und auch sonst sehr entspannt und verständnisvoll war.
Ich hatte mich inzwischen an die Sitzungen, die anfangs alle zwei Wochen stattfanden, gewöhnt und mir eigene Gedanken über die Ziele der Therapie gemacht. Ich wusste, dass sich meine Beschwerden durch die Therapie nicht bessern würden, da sie meiner Meinung nach nichts mit meiner Vergangenheit zu tun haben. Doch ich war neugierig auf die Meinung eines Profis bezüglich der damaligen Geschehnisse.
Doch zwischendurch kam es trotz entwickelten Vertrauens und verlorener Skepsis an einen Punkt, an dem ich keinen Sinn mehr in der Therapie sah. Ich ging ungern zu ihr und spielte mit dem Gedanken, die Therapie abzubrechen.20 Schuld daran war, meines Erachtens, die mangelnde Nachfrage ihrerseits. Ich kann sehr ungeduldig sein und mir ging es einfach nicht schnell genug. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass sie wohl absichtlich etwas zurückhaltend war, da ich ihrer Ansicht nach einfach noch nicht so weit war. Da ich nun mal keine Gedanken lesen kann, wusste ich nicht, was sie gern von mir hören wollte, geschweige denn, in welche Richtung sie das Gespräch gerne lenken würde. Bevor ich meine Zweifel also zur Sprache brachte, probierte ich noch etwas anderes. Ich versuchte in meine Antworten auf ihre Fragen noch mehr Informationen einzubauen, die ihr zeigen würden, dass ich bereit war, über alles zu sprechen. Ich versuchte gezielt, die Richtung in meine Vergangenheit zu lenken, obwohl die Ausschweifungen manchmal gar nichts mit ihrer eigentlichen Frage zu tun hatten. So kam ich zu meinem nächsten Großprojekt, wobei das wohl eher ein Zufall war:
20 Und das nach wenigen Wochen.
Eigentlich hatte ich ihr an diesem Tag sagen wollen, dass ich mit dem langsamen Fortschritt unzufrieden war und daher mit dem Gedanken spielen würde, die Therapie abzubrechen. Ich weiß leider nicht mehr, wie wir darauf kamen, doch ich baute absichtlich in meine Antwort die Feststellung ein, dass ich aufgrund fehlender telepathischer Kräfte nun mal nicht wisse, was Leute von mir hören wollten. Da ich keinerlei Probleme damit habe, über meine Vergangenheit zu sprechen, stört mich dieses Hindernis gewaltig. Ich sagte ihr, dass ich gern mehr von früher erzählen würde, ich aber viele Lücken zwischen meinen Erinnerungen hätte, für deren Füllung ich alles tun würde. So wäre ich auch zur Hypnose bereit.
Da wurde meine Therapeutin auf einmal hellhörig und fragte mich, ob ich mir da sicher sei. Nachdem ich das bejaht hatte, erzählte sie mir von einer Therapieform, die erst vor Kurzem anerkannt wurde: Eye Movement Desensitization and Reprocessing, kurz EMDR. Bei dieser Traumatherapieform können Folgestörungen von Traumata behandelt werden (Hase). Meine Therapeutin war sich sicher, dass in meiner Kindheit genau so ein behandlungsbedürftiges Trauma vorgefallen sei. Ich war mir dabei jedoch nicht ganz sicher.
Doch ich hatte ihr kurz vorher etwas erzählt, das ich bis dato jedem verschwiegen hatte: Jeden Abend höre ich noch etwas Musik, bevor ich schlafen gehe. Ich liege dann zwar schon im Bett, aber ich grüble dann noch etwas vor mich hin, lasse den Tag Revue passieren und werde dadurch auch müde. Allerdings gab es Abende, an denen das Nachdenken nicht so ganz klappen wollte. In diesen seltenen Momenten fiel mir irgendwann auf, dass meine Augen flackerten. Gleichzeitig änderte das Bild vor meinem inneren Auge rasend schnell seine Größe. Irgendeine Szene oder Ähnliches wurde rasant groß und dann wieder klein, sodass ich irgendwann dachte, dass dies das erste Anzeichen eines Wahns wäre. Während dieses Flackerns hatte ich weder meine Augen noch meine Gedanken unter Kontrolle. Und wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ist es Kontrollverlust. Nach langem Überlegen erzählte ich meiner Therapeutin davon und fieberte ihrem Urteil entgegen. Tatsächlich hatte sie eine Erklärung parat, die mir große Erleichterung verschaffte. Laut ihrer Aussage passierte vermutlich Folgendes: Wenn es nachts Zeit fürs Bett wird, kommt man automatisch zur Ruhe. Das würde auch das Gehirn merken und versuchen, tiefer gelegene Gedanken an die Oberfläche zu bringen. Erinnerungen, wie z. B. ein Trauma, nutzen diesen ruhigen Moment, um ins Bewusstsein zu gelangen. Solche unkontrollierbaren Bilder seien dabei ganz typisch. Ein weiterer Punkt, der ihre Aussage unterstützte, war meine Feststellung, dass ich beim Nachdenken nie meine Augen zuhalten kann. Nach wenigen Sekunden gehen sie sofort wieder auf.
Nun hatte ich eine Erklärung für meine „Macke“ und erzählte dann auch meinen Pflegeeltern und meinen Freunden davon. Anscheinend war ich somit geeignet für EMDR.
Ich ging davon aus, dass sich meine Therapeutin durch die EMDR-Sitzungen auch eine Besserung meiner Beschwerden erhoffte, da evtl. verdrängte Erfahrungen durch diese Therapieform aufgearbeitet und verarbeitet werden könnten. Jedoch ging sie sehr behutsam vor und so konnte ich nur mutmaßen, wie es weiterging und was noch alles auf mich zukommen würde. Die Vorbereitungen für die eigentlichen EMDR-Sitzungen nahmen sehr viel Zeit in Anspruch. Dadurch, dass sie vor allem bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) angewendet werden, musste mit äußerster Vorsicht gearbeitet werden, weshalb auch nur ein speziell dafür ausgebildeter Therapeut für diese Therapieform infrage kommt. Durch das gezielte, kontrollierte und wiederholte Durchleben des Traumas lernen die Patienten langsam den Umgang mit diesem, ohne dabei in Panik zu verfallen oder weiter daran zu zerbrechen. Mit der richtigen Herangehensweise lernen die Patienten, dass das Geschehene zwar passiert ist, sie jedoch auch ohne enorme Einschränkung der eigenen Lebensqualität daran zurückdenken können. Mit der Zeit können sie so ohne körperliche oder psychische Symptome an das Erlebte denken. Dieser Weg erfordert allerdings von beiden Seiten, Therapeut und Patient, viel Zeit, Energie und Durchhaltevermögen. Der eigens für EMDR ausgebildete Therapeut benötigt das Wissen, die Erfahrung und die Menschlichkeit, die für diese Therapieform zwingend erforderlich sind. Durch äußere Stimulation, wie z. B. schnelles Hin- und Herbewegen der Finger vor den Augen des Patienten, wechselnde Musiktöne oder Tippen auf die Hand wird der Patient dann zurück in die Erinnerung begleitet. Durch die Verbindung zur Außenwelt kann sich der Patient in guten Händen wissen, da er jederzeit die Zügel in der Hand hält. Er kann jederzeit abbrechen, sollte es zu viel werden (Hase).
So ganz passte ich zwar nicht in die Sparte „geeigneter Patient für die Therapie“, aber einen Versuch war es wert.
Nun stand ich also, aufgeregt wie ein Kind vor dem ersten Schultag, vor dem Start der EMDR-Sitzungen. Meiner Ungeduld gefiel die Aussage meiner Therapeutin überhaupt nicht, dass die Vorbereitung viel Zeit in Anspruch nehmen würde und sie schon zu Anfang vorsichtig sein müsse und nichts überstürzen dürfe. Da ich ihr inzwischen vertraute, respektierte ich ihre Vorgehensweise.
Nachdem sie mir etwas Infomaterial mitgegeben hatte, bekam ich auch schon die erste von vielen Hausaufgaben: Ich sollte mich über EMDR informieren und ggf. Fragen vorbereiten. Unter anderem recherchierte ich über die Entstehung, das Vorgehen, die Anwendungsgebiete und die Erfolgsaussichten. Mit den oben genannten Infos im Hinterkopf und ein paar Fragen fieberte ich also der nächsten Sitzung entgegen. Denn ein Punkt hatte mich etwas stutzig gemacht. Durch das wiederholte Durchleben der Erinnerung sollte eine minimale bis ausbleibende Belastung erreicht werden. Doch genau hier sah ich ein Problem. Ich empfand rein gar nichts bei meinen Erinnerungen. Wie sollte eine Belastung weggenommen werden, wo gar keine war? Ich wollte ja lediglich die Lücken füllen und so offene Fragen beantworten. Meine Zweifel tat ich meiner Therapeutin kund, doch sie versicherte mir, mit der Zusage zu EMDR die richtige Entscheidung getroffen zu haben. PTBS wäre schließlich nur eine Erkrankung, die mit EMDR erfolgreich behandelt werden konnte.
So übergab ich meiner Therapeutin eine kleine Liste von Erinnerungen, die ich aus meiner Kindheit hatte und die alles andere als positiv sind. Es war zwar keine Hausaufgabe gewesen, doch mir war wichtig, dass sie alles, was ich ihr erzählt hatte, auch schriftlich vor sich hatte. Zu folgenden Erinnerungen habe ich Lücken und Fragen, die ich gern gefüllt bzw. beantwortet haben wollte und noch immer möchte:
Erinnerungen – wahr oder ausgedacht?21
21 Originalschrieb, den ich meiner Therapeutin so überreicht habe.
Ich kann mich relativ weit in meine Kindheit zurückerinnern. Die Erinnerungen spielen etwa in einem Alter von drei bis fünf Jahren. Allerdings sind sie so unterschiedlich, manchmal verschwommen, manchmal glasklar, dass es mir schwerfällt zu unterscheiden, ob ich sie mir nur ausgedacht habe oder ob sie wirklich so passiert sind. Daher erhoffe ich mir durch die EMDR-Therapie Klarheit.
Im Nachfolgenden beschreibe ich Ihnen ein paar Erinnerungen, die mir hin und wieder in den Kopf kommen und bei denen ich mich jedes Mal frage: Hat sich das wirklich so abgespielt oder ist da deine kindliche Fantasie mit dir durchgegangen?
Noch ein kleiner Hinweis: Wenn ich mich an diese Situationen erinnere, fühle ich absolut gar nichts. Ich gerate weder in Panik noch bekomme ich Angst oder verspüre sonstige Reaktionen. Das Einzige, was ich an mir selbst beobachten kann, ist Neugierde. Ist das so passiert und was war davor bzw. danach?
Erinnerung 1:
Wie alt ich hier war, kann ich leider nicht sagen. Ich vermute mindestens vier Jahre. Wir waren zu Besuch bei einer Verwandten. Es kann eine Oma gewesen sein, da ich mich an eine alte Frau erinnere, die mit einem riesigen Messer vor meinem Gesicht herumwedelte und mir irgendwelche Horrorgeschichten erzählte. Typisch Omas eben …
Zu dieser Zeit hatte ich, wie jedes Kind, eine Lieblingszeichentrickserie (Gargoyles: Auf den Schwingen der Gerechtigkeit – Erstausstrahlung Ende 1994). Schon damals war ich ein riesiger Fan von Fledermäusen, Monstern und Co. Ich saß auf dem Boden vor dem Fernseher und sah mir also diese Serie an. Auf einmal kam meine Mutter ins Zimmer gestürmt und machte, mitten in der Folge, den Fernseher aus. Sie begründete ihre Tat mit der Erklärung, dass wir jetzt gehen würden. Empört, wie man als kleines Kind, dem man eben die Lieblingssendung unterbrochen hat, eben sein kann, machte ich meinem Ärger Luft. Schlagartig genervt von meinen Beschwerden zog meine Mutter schnaubend ab. Sie hatte sich vor das Mehrfamilienhaus gestellt und qualmte eine Zigarette, um wieder herunterzukommen. Ihre soeben begangene Tat ließ ich nicht unbemerkt, stampfte ihr hinterher und beschwerte mich weiterhin. Ich wolle die Folge zu Ende sehen und danach könnten wir ja gehen. Ganz konnte ich meinem Ärger allerdings nicht freien Lauf lassen, da mich meine Mutter kurzerhand am Arm packte und mich wütend hinter sich herzog, zurück ins Haus. Ich wehrte mich weder verbal noch körperlich, da mich diese Aktion komplett überraschte. Sie schob mich unsanft in den einige Meter entfernten Aufzug, drückte irgendeinen Knopf und zog wutentbrannt wieder ab, um weiterrauchen zu können. Da stand ich nun, allein und völlig perplex im Aufzug, und sah den Türen zu, wie sie sich schlossen und meine Mutter dahinter verschwand. Sofort traten mir die Tränen in die Augen und ich fing an zu weinen. Nur wenige Sekunden später öffneten sich die Türen wieder und ein älteres Ehepaar stand vor dem Aufzug. Sie brachten mich sofort zurück zu meiner Mutter. Was sie allerdings zu ihr sagten und wie sie reagierte, als ich auf einmal wieder zurückgebracht wurde … keine Ahnung. Das wäre interessant zu erfahren.
Zusatz: Über 15 Jahre später habe ich das Intro der Serie, das ich von damals noch im Kopf hatte, gegoogelt und sie tatsächlich gefunden. Als sie im Fernsehen lief, habe ich mir jede Folge angesehen. Großartig!
Erinnerung 2:
Diese Erinnerung spielt in meinem Geburtsort. Ich muss also noch sehr jung gewesen sein, da wir im Laufe der Jahre sehr viel umgezogen sind. Vielleicht war ich drei Jahre alt. Diese Erinnerung unterscheidet sich von allen anderen in dem Punkt, dass sie nur schwarz-weiß ist. Ich weiß nicht warum, aber diese Tatsache lässt mich ein wenig an ihrer tatsächlichen Begebenheit zweifeln. Meine Mutter spielt hier wieder die Hauptrolle. Es fängt abrupt an und hört genauso plötzlich wieder auf. Ich sehe mich selbst, wie ich panisch vor Angst und mit tränenüberströmtem Gesicht von der Küche ins Schlafzimmer renne und versuche, mich zu verstecken. Ich weiß, dass ich verfolgt werde, und wenn mich mein Verfolger erwischen sollte, würde ich mehr als nur Ärger bekommen. Den Part des Verfolgenden übernahm hier meine Mutter. Unsere Wohnung war nicht sonderlich groß und so waren auch die Versteckmöglichkeiten begrenzt. Verzweifelt versuchte ich mich zwischen einen Schrank und das Gitterbett zu quetschen und hoffte, dass mich dieses spärliche Versteck retten würde. Doch auf einmal sehe ich nur noch ein wutverzerrtes Gesicht vor mir … und damit endet auch die Erinnerung.
Erinnerung 3:
Ich befinde mich diesmal im Geburtsort meiner kleinen Schwester. Wir sind zu meinem Stiefvater gezogen, der diesmal eine zentrale Rolle spielt. Aus Erzählungen weiß ich, dass er sehr oft betrunken und gewalttätig gegenüber uns allen war. Doch daran kann ich mich nicht erinnern. Seltsamerweise habe ich nur gute Erinnerungen an ihn. Ich erinnere mich an ein Zimmer, in dem eine gewaltige Soundanlage stand. Es liefen lauter Songs von Michael Jackson. Die Tatsache, dass dort eine professionelle Anlage stand, lässt mich stutzen, da wir eigentlich gar nichts hatten. Wir lebten in einer Bruchbude und Luxus war ein absolutes Fremdwort. Trotzdem sitze ich bei meinem Stiefvater auf dem Schoß und sehe mir ein Musikvideo von Michael Jackson an (Song: „They don’t really care about us“). Als kleinen Snack hatte er mir zudem Gummibärchen gereicht, die ich genüsslich futterte.
Erinnerung 4:
In dieser Erinnerung bin ich mir sicher, dass das der Tag der Geburt meiner kleinen Schwester war (September 1995). Der Grund ist folgender: Wir waren in einer großen Wohnung. Es gab einen großen Fernseher, vor den mein Bruder und ich auch gleich gesetzt wurden. Wir saßen also auf dem Boden und futterten Rosinen (heute hasse ich Rosinen). Ich weiß nicht, bei wem wir waren. Ich erinnere mich an eine Frau und an einen Mann. Letzterer war evtl. mein Stiefvater. Auf einmal wurden wir eilig in ein leeres Zimmer mit einer Matratze geschoben und die Tür wurde hinter uns abgeschlossen. Uns wurde versichert, dass sie bald wiederkommen würden. Seltsamerweise waren wir an das Eingesperrtwerden gewohnt, da weder mein Bruder noch ich protestierten oder eine sonstige Regung zeigten. Wir wurden schon früh immer ins Schlafzimmer eingesperrt. Gnädigerweise ließ man uns dabei ein Töpfchen zurück, damit wir wenigstens unser Geschäft nicht in der Ecke erledigen mussten. Allerdings wurden wir nicht nur eine halbe Stunde eingesperrt, sondern über Stunden, da ich mich noch genau an den fast überlaufenden Topf erinnere.
Jahre später erzählten mir meine Schwestern, dass ich in der ersten Zeit bei meinen Pflegeeltern immer eine Toilette in meiner Nähe wissen musste, da ich immer sofort aufs Klo musste, egal wo wir waren (ich weiß das noch, lüge aber und bestreite es, weil es mir sehr peinlich ist). Das ist inzwischen nicht mehr so … zum Glück.
Erinnerung 5:
Diese Erinnerung liegt mir sehr am Herzen, da sie die einzige ist, von der ich glaube, dass sie meinen Opa beinhaltet. Ich kann mich weder an ein Gesicht noch an weitere Begebenheiten erinnern. Ich weiß auch leider nicht, ob ich damals überhaupt einen Opa hatte.
Ich bin wieder in meinem Geburtsort und stehe in der Tür zwischen Küche und Hausgang. Ein älterer Mann, zu dem ich bewundernd aufschaue und zu dem ich offensichtlich eine enge Bindung habe, reicht mir einen Kaugummi. Das war es leider schon. Doch das Gefühl, das ich dabei hatte, sagt mir, dass dort jemand gewesen sein muss, den ich wirklich geliebt habe.
Meine Therapeutin nahm die Liste dankbar entgegen und wir fingen mit den Vorbereitungen an.
Um eine größere Störung ausschließen zu können, sollte ich zuerst einen Fragebogen ausfüllen, der die Aufdeckung einer eventuellen dissoziativen Störung22 zum Ziel hatte. Zwar erahnte meine Therapeutin das Ergebnis bereits, doch da dies nun mal zum Prozedere gehört, füllte ich ihn aus. Ich mag Fragebögen und hatte auch mit diesem, bis auf ein paar Rückfragen, keine Probleme. Abgefragt wurden hierbei unterschiedliche alltägliche Situationen, wobei manche offensichtlich auf das Vorhandensein von mehreren Persönlichkeiten abzielten. Andere wiederum konnten von den meisten Menschen sicher als bereits erlebt bestätigt werden. Jede Frage musste auf einer Skala von 0 bis 100 beantwortet werden. Je höher der Wert, desto öfter hatte man die Situation bereits erlebt. Am Schluss wurde alles auf eine bestimmte Weise zusammengerechnet und ein spezieller Score ermittelte dann den Grad einer eventuellen dissoziativen Störung. Ab einem Score von 25 lag eine Störung vor. Mit einem Wert zwischen 21 und 22 lag ich darunter und somit war das Offensichtliche offiziell ausgeschlossen.
22 Multiple Persönlichkeitsstörung.
Als Nächstes übergab mir meine Therapeutin eine Trauma-Landkarte. Auf diesem Diagramm sollte ich die Erinnerungen einzeichnen, wobei die y-Achse die Belastung und die x-Achse das Lebensalter darstellte. Wie ich bereits erwähnte, empfinde ich beim Zurückdenken an früher absolut nichts. Dies bemerkte meine Therapeutin ebenfalls, als sie mir die Karte übergab, da ich ihr dies auch kurz vorher erläutert hatte. Doch bei der nachfolgenden Besprechung musste auch meine Therapeutin feststellen, dass mich keine der beschriebenen Erinnerungen belastete. In dem Diagramm hatte ich jede einzelne dem Wert 0 zugeordnet.
Nachdem wir also die negativen Erinnerungen abhaken konnten, wurde es Zeit, sich mit positiven zu befassen. Und genau da traf sie meinen Schwachpunkt. Schon während meiner Recherchen war ich auf dieses Hindernis gestoßen und seither grübelte ich über positive Erinnerungen aus meinem Leben. Eingefallen war mir jedoch nichts. Genau das sagte ich ihr auch und sie versuchte mir zu verdeutlichen, was damit gemeint war. Es musste kein Erlebnis im zeitlichen Rahmen der negativen Erfahrungen sein. Es reichte auch etwas Aktuelles, ein gutes Essen, ein spezieller Ort oder eine andere Kleinigkeit. Ich grübelte also ewig und sagte ihr schließlich, dass ich ihr nichts sagen konnte. In diesem Moment fiel mir schlichtweg nichts ein, an was ich mich hätte erinnern können. Ich sagte meiner Therapeutin, dass alles irgendwie gleich wäre und ich sowieso nur die schlechten Erinnerungen behalten und beschreiben konnte. Sie gab jedoch nicht auf und half mir mit Tipps und kleinen Hinweisen auf die Sprünge, bis ich tatsächlich etwas fand: Tiere! Tiere bringen in mir immer das Beste zum Vorschein. Ich liebe sie über alles und kann auch nur ihnen gegenüber offen Gefühle zeigen.23 Jeder, der tierlieb ist und ein eigenes Haustier hat, weiß, dass sie die Fähigkeit haben, einen die alltäglichen Sorgen wenigstens kurz vergessen zu lassen. Da ich jedoch noch nie ein Haustier gehabt habe, beließen wir es bei Tieren allgemein. Hauptsache es stand etwas auf der Liste.
23 Meine Therapeutin begründet diesen Umstand immer mit der Tatsache, dass Tiere einen nun mal nicht verurteilen.
Der nächste Punkt auf der Liste war besonders wichtig für die Vorbereitung und die Durchführung der EMDR-Sitzungen. Sollte während dieser etwas Belastendes aufkommen, war es zwingend notwendig, mich sofort an einen schönen Ort versetzen zu können, an dem ich mich wohlfühlte. Damit dieser Vorgang rasch und ohne Anstrengung vonstattengehen konnte, musste der Wechsel an diesen „Wohlfühl-Ort“ trainiert und automatisiert werden. Bei der Wahl dieses Ortes musste ich zum Glück nicht lange überlegen. Er befand sich sogar unter den Beispielen meiner Therapeutin: mein Zimmer. Ich fühlte mich dort am wohlsten und sehnte es in unliebsamen Momenten herbei. Dabei sah ich immer folgendes Bild vor mir: Ich sitze, in eine Decke gehüllt, auf dem Sessel. Vor mir läuft der Fernseher (vorzugsweise läuft eine meiner DVDs) und neben mir steht eine Kanne Tee. Der Rollladen ist ganz unten, die Tür zu, es ist angenehm warm und die Deckenlampe spendet warmes Licht. Sollte ich mich also künftig in einer angespannten Situation wissen, wäre das der richtige Moment, um den Rückzug an meinen beschriebenen Wohlfühl-Ort zu trainieren. Dabei konnte ich mich als symbolische Hilfe selbst umarmen (Schmetterlingsgriff) oder, sollte ich nicht allein sein, eine Bewegung mit den Fingern einstudieren. Doch auch die entspannten Momente sollte ich zum Üben nutzen, damit der Rückzug so gut und schnell wie möglich in der entscheidenden Situation erfolgen konnte. Ich muss zugeben, dass ich gerade das Üben der „Selbstberuhigung“ ordentlich schleifen ließ, da ich mir dabei enorm lächerlich vorkam.
Das Üben wurde mir zusätzlich erheblich erschwert, da ich zu diesem Zeitpunkt mitten im Umzug steckte. Der oben beschriebene Wohlfühl-Ort entsprach inzwischen meiner neuen Wohnung. Hin und wieder hatte ich ein paar Details geändert, wobei mein Lieblingsplatz wohl der zu Hause bei meinen Pflegeeltern blieb. Zwar hatte ich dort nicht meine Bilder und DVDs um mich herum, aber der Rest stimmte fast. Schlussendlich war es mir am wichtigsten, dass ich meine Sachen um mich herum hatte, dass es schön warm war und ich mich sicher fühlte.
Passend zu den bevorstehenden EMDR-Sitzungen war das „Augenflackern“ wieder vermehrt aufgetreten. Ob das nun mit der Therapie zusammenhing oder einfach nur perfektes Timing war, kann jeder für sich selbst entscheiden. So ergab sich mir schon bald die Möglichkeit, die von meiner Therapeutin genannten Tipps24 in die Tat umzusetzen. Als nun also das Flackern wieder anfing, versuchte ich es anzuhalten, genauer zu betrachten und ggf. in einen vorgestellten Safe zu sperren. Doch jedes Mal, wenn ich versuchte, das zuckende Bild anzuhalten, wurde alles rabenschwarz. Nach vielen vergeblichen Versuchen gab ich es schließlich auf, hatte mich aber so auf das Bild konzentriert, dass ich mir zumindest gemerkt hatte, was da ständig seine Form geändert hatte.
24 Ich sollte die „Tresor-Übung“ durchführen, bei der das störende Bild eingefroren und kontrolliert in einen imaginären Tresor geschlossen wird.
Hierbei kam mir mein Zeichentalent sehr gelegen, doch das Ergebnis ähnelte einer flachen, mit Rillen versehenen Perle. Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt eine Perle sein sollte, doch das war das Erste, an das ich beim Zeichnen dachte. Auch meine Therapeutin konnte mit diesem Bild nichts anfangen, fragte mich aber, wo und wann ich mit solchen Perlen in Berührung gekommen war. Das Einzige, was ich ihr sagen konnte, war, dass ich durch meine Leidenschaft für Armbänder und Ketten auch eine Zeit lang Ketten aus Holzperlen um meinen Hals getragen hatte. Dass hier ein Zusammenhang bestand, ist wohl eher unwahrscheinlich, denn diese Holzperlen hatten kein Muster.
Nur kurze Zeit später trat das Flackern erneut auf. Doch diesmal war etwas anders. Wieder zuckten meine Augen unkontrollierbar, auch wenn ich dies erst viel später bewusst wahrnahm. Auch das Bild behielt seine Größe und Position. Allerdings schob sich eine Art verzerrter Rahmen über die Szene.
Ich konnte die Szene zwar willkürlich verändern, der Rahmen jedoch blieb an Ort und Stelle. Mit dem Flackern der Augen verschwand schlussendlich auch der Rahmen. Auch hier stieg ich noch einmal aus dem Bett, um diesen seltsamen Rahmen zeichnen zu können.
Auch zu diesem Bild hatte meine Therapeutin keine Erklärung, da ihr so ein Phänomen noch nie untergekommen sei. Um ehrlich zu sein, kehrte in diesem Moment der Gedanke zurück, dass ich vielleicht doch verrückt würde. Doch das behielt ich für mich. Nichtsdestotrotz fand sie es spannend und fügte ihren Unterlagen eine Kopie meiner Skizze hinzu.
Nach einem langen Gespräch über meine Gesundheit konnte ich meine Ungeduld nicht mehr verbergen und erkundigte mich vorsichtig nach dem weiteren Vorgehen in Sachen EMDR. Inzwischen hatten sich sogar meine Pflegeeltern nach dem Fortschritt erkundigt, was relativ selten vorkam. Das war für mich der ausschlaggebende Moment selbst einmal nachzuhaken.
Um mich nicht weiter auf die Folter spannen zu müssen, begann meine Therapeutin mit einer Übung. Hierbei sollte sich zeigen, ob ich meinen Wohlfühl-Ort auch oft genug trainiert hatte. Gleichzeitig konnte ich so den Ablauf der EMDR-Sitzungen kennenlernen. Sie erklärte mir, dass ich mir eine Situation denken sollte, die kaum traumatisierend war. Wohl eher einen Moment, in dem ich mich über etwas oder jemanden geärgert hatte. Dabei würde sie langsam ihre Finger vor meinen Augen hin und her bewegen. Dann sollte ich zwischen dieser unangenehmen Situation und meinem Wohlfühl-Ort wechseln, und das mehrere Male. Sozusagen ein Nippen an der negativen Erfahrung und sofort danach das Eintauchen in den Wohlfühl-Ort. Dies war allerdings noch nicht Teil der ersten Übung. Zuvor fingen wir ganz klein an. Dazu positionierte sich meine Therapeutin schräg vor mir, um so bequem mit ihren aneinandergelegtem Zeige- und Mittelfinger vor meinen Augen hin und her pendeln zu können. Nachdem wir beide also eine gute Position gefunden hatten, erklärte sie mir, dass sie sich exakt an ein vorgegebenes Protokoll halten würde. Ich solle mich daher nicht wundern, wenn es zu Pausen oder Wiederholungen ihrerseits kommen würde. Und dann ging es los:
Meine Therapeutin trug mir mit ruhiger Stimme auf, an meinen Wohlfühl-Ort zu denken, während sie langsam ihre Finger vor meinem Kopf hin und her bewegte. Wichtig war hierbei, dass ich ihnen lediglich mit den Augen und nicht mit dem ganzen Kopf folgen durfte. Nach wenigen Sekunden stoppte sie die Bewegung und erkundigte sich nach meinem Befinden. Zu meinem Erstaunen war da tatsächlich etwas. Während ich den Fingern gefolgt war und an mein Zimmer dachte, konnte ich spüren, wie sich langsam eine warme Schicht über meinen ganzen Körper zog. Nach ein paar weiteren Runden, die jedes Mal ein paar Sekunden andauerten, hatte sich diese „Schicht“ auf meinen Kopf konzentriert. Diese Veränderung teilte ich natürlich meiner Therapeutin mit, die sehr zufrieden mit diesem Phänomen war. Offensichtlich sprach dies dafür, dass ich auf EMDR ansprach. Nach weiteren Runden hatte die Schutzhülle, wie ich sie nannte, eine entsprechende Dicke und Wärme erreicht, von der sie dann auch nicht mehr abwich. Erst an diesem entscheidenden Punkt hörten wir auf. Zufrieden konnten wir beide feststellen, dass wir das soeben Erlebte als Erfolg verbuchen konnten, auf dem es sich wunderbar aufbauen ließ.
Und genau das taten wir dann auch in der nächsten Sitzung. Zuvor hatte ich die Hausaufgabe erhalten, mir eine Erinnerung oder ein Erlebnis ins Gedächtnis zu rufen, das mich etwas belastet hatte. Sollte ich keinerlei Belastung ausmachen können, würde auch ein anderes Gefühl ausreichen, wie z. B. Ärger.
Wieder fiel mir anfangs absolut nichts ein. Da ich mir schon als Kind angewöhnt hatte, alles zu verdrängen, was mich belastete, und so jegliche Gefühlsbindung abzuwehren, war es entsprechend schwer, der Liste auch nur einen Punkt hinzuzufügen. Nur wenige Tage vor der Sitzung war ich endlich auf eine Erinnerung gestoßen, die ich wohl niemals vergessen werde: der Tag, an dem ich meine Pflegeeltern enttäuscht hatte. Tatsächlich denke ich an diese Szene nur sehr ungern, da ich dadurch sehr wütend werde – und zwar auf mich selbst.
Folgendes hat sich damals zugetragen:
Ich war ca. elf Jahre alt. Wir waren noch nicht sehr lange bei unseren Pflegeeltern und waren daher immer noch irgendwie in der Kennenlernphase. Besonders meinen Pflegevater konnte ich damals noch nicht so richtig einschätzen. Ich war zu der Zeit noch immer ein ordentliches Weichei und brach regelmäßig in Tränen aus. Zwar war es nicht mehr so schlimm wie vor dem Heimaufenthalt, aber so ganz kam ich nicht aus meiner Haut. Und auch hier sollte es nicht anders verlaufen. Wie jeden Abend brachten uns unsere Pflegeeltern ins Bett. Mein Bruder und ich teilten uns ein Zimmer mit Stockbett und durften abends noch eine Kassette hören. Diese lief bereits und mein Pflegevater beugte sich zu mir herunter, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Dabei kratzte er mich aus Versehen am Arm. Ganz meiner damaligen Natur entsprechend, fing ich sofort an zu weinen, ohne auf seine Nachfrage nach dem Grund für mein Weinen zu reagieren. Also ging er schweigend aus dem Zimmer und mein Bruder erkundigte sich neugierig nach der Ursache meiner Tränen. Aufgelöst und ohne nachzudenken, brachte ich schluchzend hervor: „Das Arschloch hat mich gekratzt!“ Kaum hatte ich diesen verhängnisvollen Satz ausgesprochen, wurde die Tür mit einem lauten Knall aufgerissen und mein Pflegevater stand mit wutverzerrtem Gesicht in der Tür. Zu Recht stinksauer, erkundigte er sich, ob er soeben richtig gehört habe. Der Verzweiflung nahe, schob ich der Kassette das soeben Gehörte zu, wobei jedem im Raum klar war, dass das eine glatte Lüge war. Dann beugte sich mein Pflegevater erneut zu mir herunter und erteilte mir eine Standpauke, die sich gewaschen hat. Allerdings habe ich nicht ein Wort von dem wahrgenommen, was er damals zu mir gesagt hat. Der Grund dafür waren meine eigenen Gedanken. Als ich nämlich das zornige Gesicht über mir sah, erwartete ich regelrecht eine Tracht Prügel, die er mir bestimmt gleich verpassen würde. Vor meinem inneren Auge schlug er mich grün und blau. Dass er niemals einer Fliege etwas zuleide tun würde, war mir damals noch nicht klar. Doch mir muss die nackte Panik im Gesicht gestanden haben, denn ich war absolut sicher, dass er mich für meine Worte bestrafen würde. Also sah ich mir die schreckliche Szene in meinem Kopf an, zitterte vor Angst und konnte so seinen Worten keine Beachtung schenken.
Das war allerdings nicht das Belastende, an das ich so ungern zurückdenke.25 Dies geschah am Tag darauf. An diesem baten mich meine Pflegeeltern zum Gespräch. Ich wusste natürlich ganz genau, worum es darin gehen würde. Dementsprechend starrte ich nur voller Scham auf den Boden, unfähig, auch nur einen der beiden anzusehen. Lediglich als meine Pflegemutter dies streng verlangte, hob ich meinen Kopf und legte all die Reue, die ich empfand, in meinen Gesichtsausdruck. Zuerst machten mir beide in einem unheimlich ruhigen Ton klar, dass das, was ich am vorigen Abend getan hatte, falsch gewesen war. Dass mein Pflegevater dies nicht verdient hatte, war mir zwar inzwischen klar geworden, trotzdem legten sie Wert darauf, dass ich genau das verstanden hatte. Und dann kam der schlimmste Satz, den eine Mutter jemals zu ihrem Kind sagen kann: „Wir sind wirklich sehr enttäuscht von dir!“
25 Wobei ich zugeben muss, dass ich danach nie wieder solch eine große Angst hatte wie damals.
Da saß ich nun, hörte den soeben vernommenen Satz in meinem Kopf nachhallen, sah in die enttäuschten Gesichter der beiden und vernahm das langsame Brechen meines Herzens. Nie wieder habe ich mich so sehr geschämt wie an diesem Tag. Mein Gewissen erinnerte mich noch viele Jahre mit einem hämischen Grinsen an diesen Tag und ließ mich die Reue von damals in gleicher Intensität spüren.
Somit hatte ich also die perfekte Erinnerung für die EMDR-Sitzung gefunden. Meiner Therapeutin gefiel dieses Erlebnis sehr gut, sie notierte sich die Geschichte und dann konnte es auch schon losgehen. Wieder wurden unter den verwunderten Blicken ihrer Hunde die Möbel umgeräumt und schon bald saßen wir in bekannter Position nebeneinander. Bevor es losging, erklärte mir meine Therapeutin, dass wir festlegen mussten, wie lange ich jeweils in das Erlebnis eintauchen sollte. Dabei lag die Zeitspanne bei null bis zehn Sekunden. Ganz tapfer entschied ich mich sofort für die vollen zehn Sekunden. Sie bremste meine Euphorie jedoch ein wenig und beschloss, dass acht Sekunden wohl zunächst ausreichend seien. Erst als ich als Belastungsgrad eine Drei angab, stimmte sie meiner Entscheidung zu und es blieb doch bei den zehn Sekunden.
Ihr Skript als Stütze auf den Knien liegend, bat mich meine Therapeutin mit ruhiger Stimme, in die soeben beschriebene Erinnerung einzutreten. Während sie also langsam ihre Finger vor meinen Augen hin und her bewegte, versetzte ich mich in die vergangene Situation, als ich reumütig vor meinen Pflegeeltern saß. Dabei hörte ich meiner Therapeutin zu, wie sie langsam von zehn rückwärts zählte. Als sie bei null angekommen war, holte sie mich in die Gegenwart zurück. Um sicherzugehen, dass ich auch wirklich mit all meinen Sinnen wieder im Hier und Jetzt war, prüfte sie mich mit der Frage, woher ich denn wisse, dass ich komplett zurück sei. Leicht verwundert über diese seltsame Frage antwortete ich ihr wahrheitsgemäß, dass ich sie hören und sehen konnte. Des Weiteren würde ich eine Lampe surren hören und auch einen ihrer Hunde, der stets schnarchend auf seinem Platz lag.
Zufrieden mit meinen Beweisen startete meine Therapeutin eine neue Runde. Nach dem erneuten Ablauf der zehn Sekunden holte sie mich zurück und baute meine zuvor erwähnten Anhaltspunkte der Gegenwart in ihre ruhigen Worte mit ein. Dann erkundigte sie sich nach dem Belastungsgrad der gerade erlebten Erinnerung. Ich war unsicher und teilte ihr genau das mit. Ihre Feststellung, dass der Belastungsgrad nicht gestiegen sei, konnte ich jedoch bestätigen, was sie sich zufrieden notierte.
Am Ende jeder Sitzung nahmen wir uns immer Zeit, um über alltägliche Dinge zu sprechen. Da bei jeder EMDR-Sitzung langsam und vorsichtig vorgegangen werden muss, war dies eine hervorragende Möglichkeit, um zu entspannen. Ich war zwar durchgehend ruhig und gelassen und genoss die Gespräche jedes Mal.
Wie so oft kam mein Hobby, das Zeichnen, zur Sprache. Nebenher erwähnte ich Leonardo da Vinci sowie meine Faszination für ihn. Ich erwähnte beiläufig, dass er Linkshänder war und deshalb in Spiegelschrift geschrieben hatte. Ich, als Rechtshänder, hatte mich schon oft in langweiligen Situationen (vor allem in der Schule) am Schreiben mit meiner schwachen Hand versucht, allerdings ohne das seitenverkehrte Schreiben. Ich erzählte meiner Therapeutin, dass ich dabei auch einen Hintergedanken hatte. Sollte nämlich aus irgendeinem Grund meine rechte Hand kurzzeitig ihren Dienst quittieren, z. B. durch einen Bruch, so könne ich ohne Probleme auf die linke Hand ausweichen. Natürlich war das eher als Spaß gedacht, da ich immer noch nicht richtig mit links schreiben kann. Trotzdem brachte diese Aussage meine Therapeutin auf eine Idee:
Dieses Mal bestand meine Hausaufgabe darin, eine Struktur des menschlichen Körpers, vorzugsweise des Darms, mit links zu zeichnen. Passend zu meinem Beschwerdebild schlug ich sofort eine Dünndarmzotte vor.
Das Ergebnis erstaunte mich selbst, doch gleichzeitig erleichterte es mich ungemein. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte ich die Zeichnung mit meiner starken Hand angefertigt. Nun wusste ich, dass ich zur Not auf die linke Hand wechseln konnte. Mit ein wenig Übung würde dann auch der leicht verschwommene Eindruck verschwinden. Die Zeichnung war so sehr gegen die Erwartungen meiner Therapeutin, dass diese davon ausging, eine Skizze vor sich zu haben, die mit rechts gezeichnet worden war. Zugegebenermaßen war ich mächtig stolz auf mich, als ich sie aufklärte. Ihr Erstaunen hierüber war umwerfend.
Und wieder bekam ich am Ende der Stunde keine Hausaufgabe auf. Auf mein Nachhaken antwortete sie, dass sie sich etwas überlegen würde und ich absolut nichts dafür tun müsse. Mein gespanntes Warten wurde belohnt. In der nächsten Therapiestunde führte meine Therapeutin nämlich eine echte EMDR-Sitzung durch. Bevor es losging, benötigte sie wieder eine weniger belastende Situation von mir. Mir fiel auch sofort etwas ein, auch wenn hierbei der Ärger größer war als eine evtl. bestehende Belastung: Einer der letzten Ärzte, den ich wegen meiner Beschwerden aufgesucht hatte, hatte es tatsächlich geschafft, dass ich mich für einen kurzen Moment wie ein Stück Dreck gefühlt habe. Dabei wurde mir dieser Mann als gutmütig und großherzig empfohlen. Entweder war damals nicht sein Tag oder er zeigt seine gute Seite nur vor Privatpatienten. Ich tendiere dabei stark zu der zweiten These. Ich saß damals vor seinem Sprechzimmer. Neben mir saß eine Frau, die offenbar auch zu ihm wollte, denn sie las gerade einen Artikel über ihn. Sie war vor mir dran und kam eine gute halbe Stunde später freudestrahlend wieder aus dem Zimmer. Ich wartete nun gespannt darauf, aufgerufen zu werden, da dieser Mann wohl tatsächlich seinem Ruf entsprach. Schließlich wurde die Tür geöffnet, der Arzt trat heraus und rief meinen Namen. Doch als er sah, wer auf diesen Namen reagierte, und ich lächelnd auf ihn zuging, entgleisten ihm förmlich die Gesichtszüge. Jegliche Freundlichkeit und Wärme, die ich noch vor wenigen Minuten beobachtet hatte, als er die Dame vor mir begrüßt hatte, waren schlagartig verschwunden. Die Enttäuschung in mir wuchs mit jedem Schritt, den ich auf ihn zumachte, doch ich zwang mich zum sympathischsten Lächeln, das ich in diesen Sekunden aufbringen konnte. Das Gespräch verlief dementsprechend kühl und ich verließ das Sprechzimmer genauso hilflos, wie ich es betreten hatte. Noch nie habe ich meine Zeit derart verschwendet. Beim Verlassen der Klinik schaffte ich es kaum, meine Tränen zurückzuhalten, was bei mir sehr selten vorkommt.
Wieder war meine Therapeutin sehr zufrieden mit dieser Erinnerung. Nachdem sie sich wieder schräg vor mir postiert hatte, eröffnete sie mir, dass wir anhand der soeben beschriebenen Erinnerung eine echte EMDR-Sitzung durchführen würden. Doch zuvor brauchte sie noch ein paar Informationen. Dazu las sie die exakten Worte aus ihrem Protokoll vor, damit alles seinen rechten Gang gehen konnte.
Zuerst sollte ich mich kurz in die Situation versetzen, als dem Arzt klar wurde, dass bei mir nichts zu holen war. Die „Entgleisung der Gesichtszüge“ war der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Erinnerung und somit auch der Mittelpunkt der Sitzung. Danach sollte ich mir eine negative Beschreibung zu meiner Person einfallen lassen, die am besten zu dem entscheidenden Moment passte. Anfangen sollte der Satz mit „Ich bin …“. Sofort schoss mir das Wort „wertlos“ durch den Kopf und so sagte ich etwas zögerlich: „Ich bin wertlos.“
Passend hierzu sollte ich nun eine positive Beschreibung angeben, die genauso aufgebaut war wie der negative Satz. Das war schon schwieriger für mich, da zu dieser Situation wohl nie etwas Positives passen würde. Nach langem Hin und Her einigten wir uns auf „wertvoll“, auch wenn es immer noch nicht ganz passte. Danach wandten wir uns wie jedes Mal dem Belastungsgrad der Erinnerung zu. Doch wie bereits erwähnt, belastete mich diese Erinnerung nicht wirklich. Daher gab ich ihr eine großzügige Eins.26 Ich betonte dabei noch einmal, dass hier der Ärger vorherrschte und ich mir ja schon als Kind antrainiert hatte, mich von solchen Situationen nicht vereinnahmen zu lassen. Dann sprach meine Therapeutin erneut den negativen Satz an und bat mich auf einer Skala von 1–727 anzugeben, wie sehr dieser zu dem Entgleisungsmoment passen würde. Hier gab ich eine Fünf an. Anhand dieser Skala sollte ich nun auch dem positiven Satz eine Bewertung zukommen lassen, wobei dieser eine Eins bekam.
26 0 = keine Belastung; 10 = größte Belastung.
27 1 = überhaupt nicht zutreffend; 7 = absolut zutreffend.
Die Vorbereitungen waren somit abgeschlossen und es konnte losgehen. Meine Therapeutin warnte mich noch vor, dass die Bewegungen ihrer Hand nun deutlich schneller sein würden, was ich kurz darauf auch bemerkte. Ich hatte große Mühe, mit meinen Augen ihren Fingern zu folgen und mich gleichzeitig auf das Erlebte von damals zu konzentrieren. Nach der ersten Runde passierte nichts, doch beim zweiten Mal fielen mir ein paar Details ein. Kleinigkeiten, wie ein Bild an der Wand oder das Aussehen der Zeitschrift der Frau. Genau das wollte meine Therapeutin erreichen und startete sogleich die nächste Runde. Erst als ich mehrmals keine Veränderung feststellte, beendeten wir die EMDR-Sitzung. Ein letztes Mal sprach sie mich auf den positiven und negativen Satz an. Wieder sollte ich angeben, inwieweit die beiden Sätze auf die Situation zutrafen. Bei dem negativen Satz „Ich bin wertlos“ gab ich eine Drei an, somit eine Besserung. Lediglich der positive Satz „Ich bin wertvoll“ passte, rein logisch gedacht, immer noch nicht dazu und erhielt weiterhin eine Eins. Auch der Belastungsgrad war auf eine Null gesunken, da ich in diesem Moment keinen Ärger mehr wahrnehmen konnte.
Zwar verlief diese Runde nicht exakt nach den Vorstellungen meiner Therapeutin, doch nun wussten wir beide, wie so eine EMDR-Sitzung abläuft, und konnten darauf aufbauen.
Als wir wieder, wie gewohnt, einander gegenüber saßen, sprachen wir über das soeben Erlebte und wie es weitergehen konnte. Als Nächstes sollten meine Kindheitserinnerungen an der Reihe sein. Meine Therapeutin machte noch einmal deutlich, dass sie wisse, dass mich diese in keiner Weise belasten würden, sondern dass ich lediglich die Lücken füllen wollte. Ich war erleichtert, dass sie diesen Umstand nicht vergessen hatte. Und die soeben durchgeführte Sitzung hatte gezeigt, dass solche Lücken tatsächlich gefüllt werden konnten. Sie betonte auch, dass ich als Kind instinktiv alles richtig gemacht hätte, als ich begonnen hatte, die belastenden Erlebnisse nicht an mich heranzulassen. Ich wäre heute sicher ein anderer Mensch, wenn ich jedes Mal zugelassen hätte, dass eine negative Erfahrung die Kontrolle über meine Gedanken und Gefühle übernimmt.
In der nachfolgenden Sitzung gab mir meine Therapeutin noch ein paar Übungen mit auf den Weg, die ich bei einer aufkommenden Belastung durchführen konnte. Zum einen die „Tresor-Übung“, die sie schon zum Thema Augenflackern angesprochen hatte; zum anderen die „Lichtstrom-Übung“. Hierbei sollte ich der Belastung eine Gestalt geben. Dieser Gestalt sollte ich dann einer Form, Farbe, Größe oder Temperatur zuweisen, damit daraus etwas Greifbares werden konnte. Wäre dies erreicht, sollte ich mir ein Licht in einer angenehmen Farbe (in meinem Fall Blau) denken. Dieses sollte ich über meinen Scheitel in meinen Körper strömen lassen. So würde beim Einatmen das mir angenehme Licht angezogen werden und sich in meinem Körper verteilen. Beim Ausatmen hingegen würden die Schmerzen oder eine anderweitige Belastung aus dem Körper hinausgeleitet werden.
Als sie mir dieses Vorgehen erläuterte, konnte ich nicht umhin, nur eines zu denken: Wann soll ich diese Übung ausprobieren, wenn ich doch nie zulasse, dass mich ein Gefühl bzw. ein belastendes Erlebnis derart überwältigt und erdrückt? Gleichzeitig kam ich wieder nicht umhin, der offensichtlichen Schwachsinnigkeit dieses Vorgehens keine Aufmerksamkeit zu schenken.
Inzwischen hatte ich meine Therapeutin ein Jahr lang regelmäßig aufgesucht. Durch die durch EMDR erforderlichen allwöchentlichen Sitzungen (davor war es ein 2-Wochen-Rhythmus) war die Anzahl der genehmigten Sitzungen rasch erreicht. Nun musste eine Weiterführung beantragt werden, die von uns beiden Einsatz verlangte, dessen Erfolg aber ziemlich sicher war. Um also weitere Sitzungen genehmigt zu bekommen, war es nötig, dass meine Therapeutin einen umfassenden Bericht über mich erstellte, den ein Gutachter bewerten sollte, um dann eine Zu- oder Absage erteilen zu können. Meine Therapeutin war sich allerdings sicher, dass unserer weiteren Zusammenarbeit nichts im Wege stehen würde.
Sie übergab mir daher einen Anamnesefragebogen, der über mehrere Seiten Fragen zu meiner Person und meiner Familie beinhaltete. Bei diesen wurden mein bisheriger Lebensweg, Fähigkeiten, Hobbys und das soziale Umfeld abgefragt. Da ich großen Spaß am Ausfüllen von Fragebögen habe, machte ich mich am gleichen Abend motiviert an die Beantwortung der Fragen. Ich verfasste auf dem Laptop zehn Seiten und hoffte, meiner Therapeutin damit das Erstellen des Gutachtens etwas leichter machen zu können.
Meinen „Roman“ nahm sie auch dankbar entgegen und schon in der nächsten Sitzung gab sie mir Rückmeldung dazu. Tatsächlich hatte ich mir dies auch erhofft, da ich sie schon lange fragen wollte, was ihr Eindruck von mir war. Mich interessierte brennend, was ein Experte zu meiner Person zu sagen hatte.
Kaum saß ich ihr also gegenüber, eröffnete sie mir, dass sie meine Antworten mit großem Interesse gelesen habe und ich wirklich gut schreiben könne. Diese Feststellung führte sie zu einer Frage, die mich doch sehr überraschte. So sehr, dass ich in verlegenes Gelächter ausbrach. Meine Therapeutin fragte mich grinsend und mit großer Neugier: „Sind Sie schon einmal auf Hochbegabung getestet worden?“
Nachdem ich meinen Lachflash überwunden hatte, brachte ich glucksend ein stotterndes „Nein“ hervor. Ich gab ihr gegenüber zu, dass ich schon oft darüber nachgedacht hatte, da mir mein Anderssein natürlich nicht entgangen war. Doch ich war vorerst bei der Feststellung geblieben, dass ich zwar nicht dumm sei, aber wohl nicht so weit gehen konnte, von einer Hochbegabung zu sprechen.
Auch wenn ich es als Lächerlichkeit abgetan hatte, so machte ich mir seitdem Gedanken über die Vermutung meiner Therapeutin. Ich fing an zu recherchieren, zuerst bei meiner Familie und dann im Internet. Dazu berücksichtigte ich meine eigenen Beobachtungen, die ich über die Jahre an mir selbst gemacht hatte, und führte alles zusammen. Ich kam irgendwann zu dem Schluss, dass ich zwar gerne Gewissheit hätte, ich mir aber neben den Kosten den Aufwand sparen konnte. Schließlich hielt meine Familie die Idee für absurd, und selbst wenn ich hochbegabt wäre, würde es mir für meine Zukunft kaum etwas bringen.
In der nächsten Therapiesitzung sprach ich diese Gedanken auch an. Schlussendlich einigten wir uns darauf, dass ich zumindest überdurchschnittlich intelligent sei, was mir zwar bereits klar war, aber ich fand es trotzdem schmeichelhaft, es zumindest grob bestätigt zu bekommen.
Nachdem dieses Thema also geklärt war, sprachen wir noch einmal über das Gutachten. Meine Therapeutin hatte sich zu meinen Antworten des Fragebogens noch ein paar Notizen gemacht und stellte mir dazu ein paar Fragen, um das Gutachten so präzise wie möglich formulieren zu können. Bevor die Stunde vorüber war, verdeutlichte sie mir, dass sie gern eine weitere EMDR-Sitzung durchführen würde. Diesmal wäre diese allerdings nicht als Übung gedacht, sondern sollte die erste richtig durchgeführte und hoffentlich erfolgreiche Sitzung darstellen. Sie würde hierbei mit einer „Affektbrücke“ arbeiten, die mir den Zugang zu verdrängten bzw. schwachen Erinnerungen erleichtern sollte. Allerdings müssten wir dafür die Ferien abwarten, da sie nach der Sitzung rund um die Uhr erreichbar sein wollte, sollte irgendetwas mit mir sein.
Bei unserem letzten Wiedersehen vor ihrem Urlaub berichtete mir meine Therapeutin, dass sie mein Gutachten erstellt und ganze sechs Seiten an den Gutachter übermittelt hatte. Verwundert erkundigte ich mich, was sie denn so geschrieben habe. Zu meinem noch größeren Erstaunen bot sie mir an, mir eine Kopie des Gutachtens mitzugeben, was ich natürlich neugierig und dankbar annahm. Zu Hause las ich es mehrmals durch und fand viele Aspekte wieder, die ich auch selbst an mir beobachtet hatte. Ich war zwar etwas erschüttert, dass es wohl doch so offensichtlich war, gleichzeitig machte es mich stolz, dass ich nicht nur andere, sondern auch mich selbst sehr gut beobachten kann.
Das sagte ich ihr auch nach ihrem Urlaub. Inzwischen hatte ich auch Post von meiner Krankenkasse bekommen, die eine Fortsetzung der Therapie bewilligt hatte.
Nun sollte es also losgehen: die erste EMDR-Sitzung, die es mir ermöglichen könnte, mehr Details aus meiner Vergangenheit zu erhalten. Gespannt nahmen wir beide unsere Positionen ein und schon konnte es losgehen.
Zuerst erklärte mir meine Therapeutin noch einmal in knappen Worten, dass die EMDR-Sitzung wie zuvor geübt ablaufen würde, nur dass wir diesmal mit einer Affektbrücke arbeiten würden.
Bei der Affektbrücke wird über eine aktuell belastende Situation eine Brücke zu einer früheren belastenden Situation geschaffen. Für diesen ersten Versuch wollte sie daher meine Abscheu gegenüber Alkohol nutzen. Da ich schon bei dem bloßen Geruch dieser widerlichen Substanz jegliche gute Laune verliere, schien ihr dies als ein geeigneter Start. Das Prozedere unterschied sich trotzdem kaum von den vorherigen. Wieder sollte ich den Belastungsgrad angeben, wenn ich den Geruch von Alkohol im Atem einer Person wahrnahm (ich nannte eine Drei). Danach war es wieder Zeit für eine geeignete Beschreibung meiner selbst. Passend fand ich hierfür die negative Beschreibung: „Ich habe keine Kontrolle“, die ich mit einer Sieben als ziemlich zutreffend bezeichnete. Den positive Satz: „Ich habe die Kontrolle“ versah ich allerdings mit einer Drei. Wie immer spürte ich nichts im Körper und auch gefühlsmäßig zeigte sich keine Reaktion.
Nachdem ich mich in eine Situation versetzt hatte, in der mir plötzlich dieser grauenvolle Geruch in die Nase stieg, erhob meine Therapeutin auf mein Signal ihre Hand und bewegte ihre Finger vor meinen Augen, die ihnen brav folgten. Auf die Nachfrage, ob ich irgendetwas Bestimmtes gesehen oder gefühlt hätte, konnte ich leider nur mit den Schultern zucken. Nach zwei weiteren Runden fiel mir allerdings auf, dass ich immer wieder in der gleichen Szene landete und auch nicht mehr aus dieser hinauswollte. Meine Gedanken hefteten sich zunehmend an eine Erinnerung, die eigentlich gar nichts mit dem Geruch von Alkohol zu tun hatten. Genau das sagte ich auch meiner Therapeutin, die mir sofort auftrug, bei dieser Erinnerung zu bleiben und mir zu erzählen, was genau ich dort sah:
Als ich noch klein war, wurden mein Bruder und ich oft eingesperrt. In meinem Geburtsort gab es ein Schlafzimmer, das spärlich eingerichtet war und Platz für einen Schrank, ein Gitterbett und ein normales Bett bot. Ich saß auf dem Bett, während mein Bruder in dem Gitterbett stand und gerade noch so über den Rand schauen konnte. Mein Blick fiel sofort auf ein Nachttöpfchen, das randvoll gefüllt war mit meinen Hinterlassenschaften. Mein Bruder trug zu dieser Zeit noch Windeln, was bestätigte, dass nur ich für das Füllen des Töpfchens verantwortlich war. Ich schlussfolgerte weiter, dass wir vermutlich lange eingesperrt worden waren.
Meine Therapeutin stellte mir Fragen zu der Einrichtung (lieblos und kahl), dem Geruch (nichts wahrnehmbar), der Temperatur (ebenfalls nichts wahrnehmbar) und sonstigen Eigenschaften der Möbel. Krampfhaft versuchte ich mich in dem Zimmer umzusehen und beobachtete mein Verhalten genauer. Ich vermutete, dass wir absichtlich in das Zimmer eingesperrt worden waren, damit mein Stiefvater mit meiner Mutter allein war und sie, vermutlich, verprügeln oder anderweitig bestrafen konnte, ohne dass wir dabei zusehen mussten. Da sich die Tür zu dem Zimmer genau vor meinem Bett befand, studierte ich meine Position auf dem Bett genauer. Ich saß auf der Matratze und wandte mich dem Töpfchen zu. Doch auf einmal hatte ich eine Vermutung für meinen abgewendeten Blick: Immer wenn ich ein Geräusch genauer analysieren möchte, unterbreche ich den visuellen Reiz, indem ich wegsehe und eines meiner Ohren automatisch der Geräuschquelle zuwende.28 Meine Vermutung sprach ich laut aus und meine Therapeutin bat mich, genau an dieser Szene festzuhalten und währenddessen noch einmal ihrem Finger zu folgen. Doch wieder geschah nichts.
28 Ein paar Tage später kam mir der Gedanke, dass ich sicher versucht hatte, etwas zu hören, da sich mein Bruder ebenfalls der Tür zugewandt hatte und weder mir noch seinem Spielzeug Aufmerksamkeit schenkte, was Babys eigentlich in der Regel machen.
Wie immer fragte sie mich danach, wie gut die Sätze, welche eine Kontrolle im positiven und im negativen Sinn beinhalteten, passen würden. Der positive Satz „Ich habe die Kontrolle“ passte nun etwas besser zu dem wahrgenommenen Reiz der Alkoholfahne (von Drei auf Vier).
Nachdem wir erneut unsere gewohnten Plätze eingenommen hatten, bemerkte ich mit einer leichten Enttäuschung, dass mein Beschützerinstinkt nicht so einfach nachgab. Ich verdeutlichte ihr grinsend, dass er mir gesagt hatte: „Nein, nein, Fräulein, so einfach kommst du nicht an die Erinnerung ran!“
Interessiert befragte ich mich meine Therapeutin, was bzw. wer mein Beschützer sei und ob es noch mehr Charaktere geben würde. Da ich tatsächlich gern Selbstgespräche führe, stellte ich ihr, mit Nachfragen ihrerseits, folgende Varianten von mir vor, von denen sich zwei jedoch als mein eigens geschaffenes Skotom herausstellen sollten:
das gewöhnliche Ich
Jack29, mein Bodyguard (Skotom Nr. 1)29 Nach Jack Bauer (gespielt von Kiefer Sutherland) aus der Serie 24.
Pandora, die Vernachlässigte (Skotom Nr. 2)
mein Instinkt
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.