Kitabı oku: «Der kleine Eheretter», sayfa 2
Was ist Streit? Kleiner Exkurs in die Neurobiologie
Streit entsteht fast automatisch, wenn eine Person getriggert wird und unwillkürlich in eine Angriffs- oder Verteidigungshaltung umschaltet. Und das hat wieder mit unserem autonomen Nervensystem zu tun.
Überleben – die oberste Aufgabe unseres Gehirns
Unser Gehirn besteht grob vereinfacht gesagt aus drei Bereichen, die sich evolutionsbiologisch bottom-up, also im Schädel von hinten unten nach vorn oben, entwickelt haben. Der basale und älteste Bereich ist der Hirnstamm. Sein höchstes »Interesse« ist es, dass wir überleben. Er sorgt dafür, dass unser Herz schlägt und die Atmung sowie Stoffwechsel und Kreislauf funktionieren. Es gibt extreme Lebenssituationen wie z. B. einen Schock und traumatische Situationen, in denen alle höheren Hirnfunktionen kollabieren und nur noch der Hirnstamm arbeitet, damit wir überleben.
Darüber liegt das evolutionsbiologisch jüngere limbische System. In diesem Bereich sind unsere Gefühle angesiedelt, die emotionale Alarmzentrale und auch unser Gedächtnis. Hier sind all unsere Erinnerungen in sortierter Form abgespeichert. Ausnahmen gibt es bei traumatisierten Menschen, bei denen manche Erinnerungen aufgrund des damals erlebten Stresses nicht chronologisch, sondern eher verstreut abgespeichert sind. Ein Körpergefühl, bestimmte Worte oder ein Geräusch können also ohne systematische Geschichte abgelegt sein und damit einzeln getriggert werden. Ein vergleichbares Geräusch oder ein Geruch alleine kann dann eine innere Kettenreaktion auslösen und den Organismus in den traumatischen Zustand zurückkatapultieren.
Im limbischen System gibt es auch ein Alarmsystem, das wir Amygdala nennen. Die Amygdala ist dafür zuständig, im gesamten Organismus Alarm auszulösen, sobald über die Sinne etwas erkannt wird, das in der Erinnerung irgendwann mal als Gefahr bewertet wurde. Und weil es für unser Nervensystem die höchste Priorität darstellt, unser Überleben zu sichern, ist die Amygdala so übergründlich, dass sie lieber zehnmal falsch positiven Alarm auslöst, als dass ihr eine Gefahr durch die Lappen geht.
Ganz oben und vorne im Gehirn liegt der Neokortex als Teil der Großhirnrinde. Er ist der evolutionsbiologisch jüngste Teil und unterscheidet uns Menschen und einige andere Säugetiere in besonderem Maße von einfacheren Organismen. Von hier aus sind alle höheren Fähigkeiten vernetzt, die uns Menschen ausmachen: z. B. die Fähigkeit zur Handlungsplanung, Selbstreflexion, Kreativität und Empathie sowie unser Humor.
Integrierter Gefahrenscanner
Wie kommt es nun dazu, dass wir streiten? Um das zu verstehen, sind noch ein paar neurobiologische Faktoren wichtig: die Neurozeption und die verschiedenen Modi, in die unser autonomes Nervensystem umschalten kann.
Jeder Mensch hat einen integrierten Gefahrenscanner – die Neurozeption. Das ist eine Art Antennensystem, das ständig und unterhalb der Bewusstseinsschwelle unsere Umgebung scannt. Auch während eines Gesprächs, bei der Arbeit oder beim Sex nimmt unser Nervensystem wahr, ob in der Umgebung alles in Ordnung ist. Es vergleicht die unbewusst wahrgenommenen Geräusche, Gerüche und sonstigen Empfindungen mit den Erfahrungen und Erinnerungen im limbischen System. Sobald etwas als potenzielle Gefahr erkannt wird – das Schreien eines Kindes, ein Donnergrollen, der Geruch von Rauch oder auch der bedrohlich veränderte Blick oder Tonfall beim anderen –, schlägt die Amygdala Alarm, und das Nervensystem schaltet auf einen Defensivmodus um. Das kann auch passieren, wenn der Auslöser heute gar keine große Bedrohung mehr darstellt, der Mensch inzwischen erwachsen, stark und souverän ist und die Situation mit seinem heutigen Repertoire eigentlich locker bewältigen könnte.
Die drei Modi unseres Nervensystems
Der andere neurobiologische Aspekt, dessen nähere Betrachtung sich lohnt, sind die drei unterschiedlichen Modi, in denen sich unser autonomes Nervensystem befinden kann: das soziale Kontaktsystem (ventraler Vagus), die Mobilisierung (Sympathikus: Kampf oder Flucht) und die Immobilisierung (dorsaler Vagus: Resignation, Totstellreflex oder Kollaps).
Wenn wir uns wohl und sicher fühlen – allein oder mit einem anderen zusammen –, sind wir im Modus des sozialen Kontaktsystems. Neurobiologisch gesprochen ist hier der ventrale, also vordere, Teil des Vagus – eines wichtigen Hirnnervs – aktiv. Das bedeutet, dass unser gesamtes Gehirn inklusive des Neokortex voll funktionsfähig ist: Wir haben einen weiten Blick auf die Situation, können selbstkritisch sein, haben Humor und können uns in den anderen einfühlen. Wir fühlen uns wohl, können lachen und uns freuen. Wir erlauben uns, zu kommen und zu gehen, und wir können Nähe genießen. Wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt ist nur möglich, wenn sich beide Partner im sozialen Kontaktsystem befinden.
Sobald unser Gefahrenscanner eine potenzielle Gefahr identifiziert hat – wir also getriggert sind –, schaltet unser Nervensystem um auf einen Defensivmodus. Die erste Variante ist dabei die Mobilisierung. Blitzschnell und unterhalb der Bewusstseinsschwelle wird der Sympathikus, das Stress-System des Menschen, aktiviert und bereitet Körper und Geist auf Kampf oder Flucht vor: Die Muskelspannung im gesamten Körper steigt. Das Herz schlägt schneller, die Gefäße insbesondere in den Extremitäten verengen sich, was evolutionsbiologisch den Effekt hat, dass es bei Kratzern und Verletzungen nicht unnötig stark blutet. Die Gefühle sind negativ geprägt. Gedanken werden wertend und sind geleitet von Wut oder Angst. Der Blick ist fokussiert auf die Gefahr, wohingegen unwichtige Wahrnehmungen links und rechts ausgeblendet werden. Es kommt zu einem »Tunnelblick«. Der Kiefer verspannt sich, um zubeißen zu können – eigentlich lächerlich heutzutage, da wir nicht mehr mit unserem Körper kämpfen oder beißen, aber hier hinkt die Evolution der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft etwas hinterher.
Es gibt noch einen dritten Modus und damit ein weiteres Defensivsystem, in das unser Nervensystem schalten kann – er ist mit dem hinteren, dorsalen Teil des Vagusnervs verbunden: die Immobilisierung bzw. der »Shutdown«. Bei Tieren nennen wir das den Totstellreflex. Dieser Modus wird dann aktiviert, wenn der Abgleich der Wahrnehmungen aus der Umgebung mit den Erinnerungen auf eine Art Resignation hinausläuft: Kämpfen habe ich x-mal probiert und keine Chance gehabt. Flüchten kann ich nicht – zum Beispiel, weil ich zu klein und unterlegen bin oder weil ich verheiratet bin, wir Haus und Kinder zusammen haben und ich aus der Nummer nicht mehr so leicht herauskomme.
Soziales Kontaktsystem (ventraler Vagus)
Mobilisierung (sympathisches Nervensystem) – Kampf/Flucht
Immobilisierung (dorsaler Vagus) – »Shutdown«, Totstellreflex
Dieser Modus ist in gefährlichen Situationen überlebenswichtig. Im Shutdown werden Hormone und Botenstoffe ausgeschüttet, die die Schmerzwahrnehmung betäuben. Das Gehirn ist gefühlt leer. Das »Totstellen« hat außerdem den Effekt, dass der Angreifer nicht weiter angestachelt wird und sich der Schaden dadurch in Grenzen hält. Manchmal kommt es auch zu einer Dissoziation. Im Betroffenen kann sich das so anfühlen, als sei er oder sie unter einer Glasglocke, bestimmte Körperteile gehörten nicht mehr dazu, oder es kommt zur Wahrnehmung eines Heraustretens aus dem Körper, um weniger Schmerz zu spüren und den Angriff besser aushalten zu können. Bei einem Streit interpretiert das Gegenüber den Shutdown aufgrund des unterbrochenen Kontakts oft als Blockade oder Ignoranz.
Alle drei Modi können natürlich auch in Misch- bzw. abgeschwächten Formen auftreten. Es gibt zum Beispiel einen sehr sinnvollen Übergang zwischen sozialem Kontaktsystem und beginnender Aktivierung des sympathischen Nervensystems, also beginnendem Kampf- oder Fluchtmodus, um sich bei wichtigen Anliegen klar positionieren und durchsetzen zu können. Oder es gibt einen beginnenden Shutdown, in dem das System nicht ganz in Richtung Koma heruntergefahren ist, aber wirklicher sozialer Kontakt dennoch einfach nicht mehr möglich ist.
AUS DEM WIRKLICHEN LEBEN: NOCH MAL FRANZ UND SABINE
Wenn SABINE unter Stress steht, regt sie sich schneller über Dinge auf, die sie sonst viel entspannter tolerieren kann. An besagtem Abend, zu dem sie Freunde eingeladen haben, kommt sie schon gestresst von der Arbeit. Im Supermarkt gibt es weder den fest eingeplanten Eisbergsalat noch ihren Lieblingswein. Zu Hause angekommen stört es sie schon, dass FRANZ das Auto nicht in die Garage gefahren hat, sie sagt aber noch nichts.
Franz ist zu Hause. Er hat sich für den Abend früher freigenommen, was ihm die missmutigen Blicke der Kollegen eingehandelt hat. Auch bei ihm sind also bereits Knöpfe gedrückt, die seine alte Wunde triggern, nicht genügend zu leisten und dadurch nicht mehr geliebt zu werden. Er ist mit Staubsaugen beschäftigt und begrüßt Sabine nur flüchtig quer durchs Wohnzimmer.
Aufgrund der lieblosen Begrüßung steigt Sabines Spannung noch weiter an. Sie hat schon einen beginnenden »Tunnelblick« und kommt in dieser gestressten Verfassung auch nicht auf den Gedanken, selbst freundlich auf Franz zuzugehen und ihn liebevoll zu küssen. Stattdessen pfeffert sie in der Küche die Einkäufe auf den Tisch und lässt die Schranktüren zuknallen.
Die Gefahrenscanner beider Partner haben längst die Anspannung beim anderen gelesen und innerlich den Sympathikus aktiviert. Bei Franz wie bei Sabine beschleunigt sich der Herzschlag, die Atmung wird schneller, und der erhöhte Muskeltonus macht die Bewegungen heftiger und ruppiger.
Sabine spürt beim Blick auf die Uhr ein Gefühl der Überforderung, das sie zusätzlich unter Stress setzt. Überforderung ist für sie assoziiert mit der schwachen Mutter und daher ein Selbstbild, das sie auch bei sich selbst ablehnt. In ihr entsteht das Bedürfnis, beruhigt, getröstet und unterstützt zu werden. Aufgrund der Aktivierung des Sympathikus kann sie das aber nicht mehr in einem empathischen und wohlwollenden Tonfall äußern, sondern ruft stattdessen ins Wohnzimmer: »Hast du eigentlich gesehen, wie viel Uhr es ist? Und du bist noch am Saugen! Wie sollen wir das denn schaffen?«
Jetzt wird in Franz die alte Wunde getriggert: Wie ich es mache, ist es falsch. Es reicht nicht, was ich tue. Ich habe keine Chance, es recht zu machen. Er weiß aus Erfahrung: Es lohnt sich nicht, mit der aufgebrachten Sabine zu streiten, und er weiß auch, dass er jetzt nicht einfach verschwinden kann. Sein Nervensystem kippt in einen Shutdown. Die Atmung wird flacher, das Hirn ist wie leer. Er hört Sabine nicht mehr richtig, fühlt sich innerlich einsam und von der Welt abgeschnitten. Dennoch räumt er den Staubsauger weg, trottet pflichtbewusst in die Küche, stellt sich teilnahmslos an den Schrank und wartet auf weitere Anweisungen.
Auch bei Sabine funktioniert die Neurozeption unterhalb der Bewusstseinsschwelle so schnell, dass eine logische Reflexion der Situation nicht möglich ist. Sie liest den abgeschalteten Ausdruck in seinem Gesicht und seiner Haltung, und auch bei ihr werden noch mehr alte wunde Knöpfe gedrückt: »Ich bin in Not und werde nicht gesehen. Ich werde wieder alleingelassen, meine Gefühle und Bedürfnisse haben keine Berechtigung.« Doch Sabines Nervensystem hat im Gegensatz zu Franz eine Präferenz für die Aktivierung des Kampfprogramms. Ihre verzweifelte Reaktion ist nicht resigniert, sondern wird immer konfrontativer, bissiger und verletzender. Ihre vorwurfsvollen Worte rauschen durch Franz’ Ohren hindurch. Der Kontakt ist verloren.
Streit und die Eskalationsspirale
Jetzt noch einmal zur Frage: Was ist Streit? Streit ist im neurobiologischen Sinne eine Dynamik, in der beide Partner getriggert sind – in der also bei beiden Nervensystemen der Defensivmodus aktiviert ist und sie in ein Kräftemessen einsteigen. Das autonome Nervensystem heißt so, weil es autonom und unabhängig von rationalen Erwägungen entweder in den Kampf-/Fluchtmodus oder in den Shutdown schaltet.
Ist der Startknopf einmal gedrückt, beginnt eine innere Kettenreaktion und damit eine sich wechselseitig aufschaukelnde Dynamik: die Eskalationsspirale. Die ersten Anzeichen können so subtil und versteckt sein, dass ein fremder außenstehender Mensch sie nicht lesen könnte, aber die innere Eskalation beginnt: eine Augenbrauenbewegung, ein Augenverdrehen, ein leichtes Schnauben oder Seufzen, ein minimal veränderter Tonfall oder eine bestimmte Körperhaltung. Aber der Empfänger konstruiert daraus die Botschaft! Das heißt: Wer die Botschaft hört oder sieht, entscheidet über ihre Bedeutung. Gibt es beim Empfänger wie oben dargestellt einen wunden Punkt, eine Bedürftigkeit oder eine Verletzung, so kann das beim anderen ebenfalls noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle eine Abwehrreaktion auslösen – auch dort beginnt eine innere Eskalation. Die wird ebenfalls vom Partner bzw. von der Partnerin gelesen, die wiederum darauf reagiert. Jetzt nimmt die Eskalationsspirale wie im Beispiel von Franz und Sabine Fahrt auf.
Meist gibt es bereits ein umfangreiches gegenseitiges Triggergeschehen, bevor dem einen oder anderen Beteiligten bewusst wird, was hier läuft. Tritt der Angriff des anderen ins Bewusstsein, wird die Situation meist nicht besser: Jetzt wird erst recht noch mal was draufgepackt und zurückgeschossen. Die Eskalationsspirale wird größer und ist bei manchen Paaren geprägt von Verächtlichkeit, Beleidigungen oder auch Gewalt.
Alles Wissenswerte in Kürze
Unser Gehirn hat ein eingebautes System zur Gefahrenerkennung, das ständig die Umgebung nach potenziellen Bedrohungen abscannt. Dabei ist es übervorsichtig und meldet lieber falsch positiven Alarm, bevor es eine Gefahr übersieht. Wird etwas erkannt, das im Gedächtnis als schmerzvoll oder gefährlich abgespeichert ist, schaltet es blitzschnell auf ein Angriffsoder Verteidigungssystem um.
Dabei können auch »kleine« Gefahren wie z. B. das genervte Verhalten eines Partners, das früher bei den Eltern oder in anderen belastenden Lebenssituationen als bedrohlich erlebt wurde, dazu führen, dass ein Kampf eingeleitet wird.
Die ersten Anzeichen sind oft so subtil, dass der gefühlte Angriff und die eingeleitete Gegenwehr nicht bewusst werden, aber die innere Eskalation beginnt. Das Gegenüber jedoch nimmt es neurozeptiv wahr, fühlt sich wiederum angegriffen und reagiert mit einem Gegenangriff oder einer Blockade. So können scheinbar banale Situationen (wie der klassische Konflikt um die Zahnpastatube) eskalieren.
Blick nach innen
Übung: Selbstwahrnehmung im Konflikt
Sie haben in der vorigen Übung einige Ihrer persönlichen Triggersituationen identifiziert. Auch die nächste Übung zielt darauf ab, die Neurozeption und andere innere, autonome Prozesse bewusster werden zu lassen und noch früher zu erkennen, wann ein inneres Eskalationsgeschehen beginnt. Wir brauchen diese Selbstwahrnehmung, weil Signale, die wir als Bedrohung empfinden, unsere präfrontalen Hirnfunktionen runterfahren, diese aber zur Konfliktlösung essenziell sind. Auf dem Weg heraus aus der Partnerschaftskrise geht es immer wieder darum, das eigene innere Geschehen bewusst zu machen, um später gezielt regulierend eingreifen zu können und damit endlich zu wirklicher Bedürfnisbefriedigung zu finden.
In dieser Übung können Sie also weitere Aspekte des Konfliktgeschehens bewusst werden lassen. Stressen Sie sich nicht, wenn Sie zunächst nur wenige Wahrnehmungen finden. Am besten betrachten Sie diese Übung als »Kickoff«, als erste Gehversuche, um sich selbst und Ihren Partner zukünftig in Konfliktsituationen besser zu beobachten und dadurch bewusster handeln zu können. Hier sind einige Beobachtungskriterien dafür:
•Wie verändert sich die Sprache meines Partners im Konflikt und wie verändert sich meine eigene Art zu sprechen?
•Werden die Worte schneller, lauter oder langsamer, leiser?
•Wie viel (Nach-)Druck liegt in meiner Sprache versus wie energielos klingt sie?
•Verändert sich die Tonhöhe? Wird sie eher höher oder tiefer?
Partner/Partnerin:
Ich selbst:
•Wie verändert sich die Sprache inhaltlich? Wird sie schärfer, bedrohlicher? Wird sie hoffnungsloser, resignierter?
•Kommt es vermehrt zur Formulierung von Superlativen (z. B. etwas ist »extrem«, »schrecklich«, »unfassbar« …)? Oder zu Verallgemeinerungen (»nie«, »dauernd«, »alles« …)?
Partner/Partnerin:
Ich selbst:
Lenken Sie Ihre Wahrnehmung nun auf Ihren Körper. Welches sind Ihre persönlichen Reaktionen auf gefühlte Angriffe, auf Druck und Vorwürfe etc.? Scannen Sie Ihren Körper dabei nach Zeichen von Anspannung, Druckgefühlen, Unwohlsein, Zittern, Schweiß, Schmerz, Übelkeit, Schwächegefühlen etc. Wo und wie spüren Sie den ausgelösten Alarm in Ihrem Körper? Zeichnen Sie Ihre Körperwahrnehmungen in die Skizze ein.
Was im Inneren des Körpers Ihres Partners oder Ihrer Partnerin abgeht, wissen Sie nicht. Aber wir können meist umso besser die äußerlich erkennbaren Signale ablesen. Nehmen Sie darum die andere Skizze, um die Körperzeichen des anderen einzuzeichnen.
Nutzen dieser Übung:
Viele Menschen fühlen sich besonders in Streitsituationen und Eskalationen ohnmächtig dem Geschehen ausgeliefert. Es fühlt sich an wie »Es geschieht mit mir … etwas geht mit mir durch … mir sind die Sicherungen durchgebrannt …«. Durch die Selbstreflexion und Schärfung der Wahrnehmung eigener Prozesse und Handlungen gewinnen wir an Handlungsfähigkeit und damit am Vermögen, das Konfliktgeschehen zu steuern.
Warum Streit nichts bringt
Wir haben oben gesehen, wie das Gehirn funktioniert, um zu überleben und sich vor Gefahren zu schützen. Es gibt einen Mechanismus, der es dem Menschen ermöglicht, sich in Gefahrensituationen auf das Wesentliche, nämlich den Angriff oder die Flucht, zu konzentrieren: Die Hirnfunktionen, die fürs Überleben gerade nicht nötig sind, werden ausgeschaltet. Was sich evolutionsbiologisch bottom-up aufgebaut hat, wird nun top-down deaktiviert.
Wenn sich das Gehirn schrittweise abschaltet
Was passiert bei dieser Deaktivierung? Auf der somatischen Ebene wird im Kampf- oder Fluchtmodus beispielsweise die Verdauungstätigkeit runtergefahren. Auch die Sinnesaktivitäten werden stufenweise eingestellt, damit wir nicht durch die Blümchen auf der Wiese von der wahrgenommenen Gefahr abgelenkt werden.
So bewirkt das Umschalten auf den Kampf- oder Fluchtmodus, dass wir nicht mehr alles mit weitem Blick sehen, sondern fokussiert auf die Gefahr schauen und andere Dinge übersehen. Auch das Hörvermögen ist nachweislich so verändert, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes Dinge überhören. Das bedeutet, dass wir im getriggerten Modus freundliche Worte oder Gesten des Partners bzw. der Partnerin nicht wahrnehmen, sondern dass unser Sinnessystem suchend darauf ausgerichtet ist, den nächsten Angriff, die nächste Gemeinheit oder die nächste Bestätigung für unsere Bedrohungshypothese zu finden.
Doch es geht noch weiter. Wir haben gehört, dass unsere menschlichen Fähigkeiten der Selbstreflexion und Kreativität, unser Humor und auch unsere Empathiefähigkeit maßgeblich im Bereich des Neokortex vernetzt sind. Dieser Bereich wird im Angriffsstress zuerst deaktiviert. Wir können heute einen Menschen mit massivem Stress in den Hirnscanner schieben und über bildgebende Verfahren sehen, wie dort beispielsweise im Bereich, in dem die Empathiefähigkeit oder das Sprachzentrum vernetzt sind, aufgrund nachlassender Aktivität weiße Stellen sichtbar werden.
Unser aufs Überleben ausgerichtetes System fokussiert sich im vermeintlichen Angriffsfall auf seine Selbstverteidigungs- bzw. Selbstschutzfähigkeiten. Überflüssiger kognitiver Luxus wird deaktiviert. So bitter es klingt: Das bedeutet, dass unser Gehirn nicht mehr vollständig funktioniert. Wir sind nicht mehr im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte.
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