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KAPITEL DREI
Sage flog durch die Nacht, in den aufkeimenden Sonnenaufgang, die ersten, zarten Sonnenstrahlen beschienen eine Träne auf seiner Wange, die er schnell wegwischte. Er war erschöpft, übernächtigt, weil er die ganze Nacht geflogen war, auf der Suche nach Scarlet. Er war sich sicher, dass er sie mehrmals in der Nacht entdeckt hatte, nur um sich dann zu einem fremden Mädchen hinabzustürzen, die geschockt war, ihn vor sich landen zu sehen, und dann wieder abzuheben. Langsam fragte er sich, ob er sie je finden würde.
Scarlet war nirgendwo zu finden und Sage konnte es nicht verstehen. Ihre Verbindung war so stark, er war sich sicher gewesen, dass er in der Lage wäre, sie zu fühlen, dass sie ihn zu sich führen würde. Er konnte nicht verstehen, was passiert war. War sie gestorben?
Sages einzige Vermutung war, dass sie emotional so aufgewühlt war, dass alle ihre Sinne blockiert waren und er sie deshalb nicht erspüren konnte; oder vielleicht war sie in einen tiefen Schlaf gefallen, was Vampire häufig taten, nachdem sie von ihrem ersten Menschen getrunken hatten. Für einige war es auch tödlich, das wusste er, und sein Herz tat weh bei dem Gedanken an sie dort draußen, ganz allein. Würde sie wieder aufwachen?
Sage flog niedrig, aber so schnell, dass er nicht entdeckt werden konnte, an allen bekannten Orten vorbei, an denen sie zusammen gewesen waren – ihre Schule, ihr Haus, überallhin, wo er sich sie vorstellen konnte – und nutzte dabei seine super scharfe Sicht um die Bäume und die Straßen nach ihr abzusuchen.
Als die Sonne höher stieg und Stunde nach Stunde verstrich, wusste Sage schließlich, dass die Suche keinen Sinn mehr machte. Er würde warten müssen, bis sie auftauchte oder bis er sie wieder fühlen könnte.
Sage war erschöpft, auf eine Art und Weise, wie er es nie zuvor gewesen war. Er fühlte, wie seine Lebenskraft zu schwinden begann. Er wusste, dass er nur noch Tage hatte, bis er selbst starb und als er einen anderen Schmerz in seiner Brust, seinen Armen und seinen Schultern spürte, wusste er, er begann, innerlich zu sterben. Er fühlte, dass er diese Erde bald verlassen würde – und er hatte seinen Frieden damit geschlossen. Er wollte seine letzten Tage nur noch mit Scarlet verbringen.
Mit keinem weiteren Ziel für seine Suche, kreiste Sage über dem Anwesen seiner Familie am Hudson und schaute darauf herunter. Er umkreiste es immer wieder, wie ein Adler und fragte sich, ob er sie noch ein letztes Mal sehen sollte? Er wusste nicht, was das bringen sollte. Sie alle hassten ihn dafür, dass er ihnen Scarlet nicht ausgeliefert hatte; und er musste zugeben, dass er sie auch hasste. Das letzte Mal, als er von hier fortgegangen war, hatte er seine sterbende Schwester im Arm gehalten und Lore war auf dem Weg gewesen, Scarlet umzubringen. Er wollte sie nicht wiedersehen.
Und doch konnte er nirgendwo anders hin.
Während er flog, hörte Sage ein Klopfen und als er näherkam sah er einige seiner Cousins, die Bretter vor die Fenster hielten und hämmerten. Eines nach dem anderen, verbarrikadierten sie ihren Landsitz und Sage sah dutzende seiner Cousins, die davonflogen. Er war fasziniert. Offensichtlich war irgendetwas passiert.
Sage musste es herausfinden. Ein Teil von ihm wollte wissen, wo sie hingingen, was aus seiner Familie werden würde – und ein größerer Teil von ihm wollte wissen, ob sie eine Idee hätten, wo Scarlet steckte. Vielleicht hatte einer von ihnen etwas gesehen oder gehört. Vielleicht hatte Lore sie überwältigt. Er musste es wissen; es war das einzige, was ihm noch blieb.
Sage sank hinab zu dem Anwesen seiner Familie, landete auf der hinteren Marmorterrasse, vor der großen Treppe, die zu der hinteren Tür, einer großen, antiken, französischen Tür, führte.
Als er sich ihr näherte, öffnete sie sich plötzlich und er sah seine Mutter und seinen Vater, die heraustraten und ihn mit einem strengen, missbilligendem Blick ansahen.
“Was machst Du wieder hier?” fragte seine Mutter, als wäre er ein unwillkommener Eindringling.
“Du hast uns einmal getötet”, sagte sein Vater. “Unsere Leute hätten überleben können, wenn Du nicht gewesen wärst. Bist Du gekommen, um uns noch einmal zu töten?”
Sage runzelte die Stirn; er war die Missbilligung seiner Eltern so müde.
“Wo geht Ihr alle hin?” fragte Sage.
“Was denkst, Du denn, wohin?”, antwortete sein Vater. “Sie haben den großen Rat zum ersten Mal seit Tausend Jahren einberufen.”
Sage sah sie geschockt an.
“Boldt Castle?” fragte er. “Ihr geht zu den Tausend Inseln?”
Seine Eltern blickten finster zurück.
“Was kümmert es Dich?” sagte seine Mutter.
Sage konnte nicht glauben, was er da hörte. Der große Rat war seit einer Ewigkeit nicht mehr zusammengetroffen und alle von ihrer Art auf einem Platz, das konnte nichts Gutes bedeuten.
“Aber warum?” fragte er. “Warum wird er einberufen, wenn wir alle sowieso sterben?”
Sein Vater trat einen Schritt vor und lächelte, während er seinen Finger hob und ihn gegen Sages Brust stieß.
“Wir sind nicht wie Du”, knurrte er. “Wir ergeben uns nicht kampflos. Wir werden die größte Armee bilden, die es jemals gegeben hat, wenn wir alle an einem Ort versammelt sind. Die Menschheit wird dafür bezahlen. Wir werden Rache nehmen.”
“Rache wofür?” fragte Sage. “Die Menschheit hat damit nichts zu tun. Warum solltet Ihr unschuldige Menschen verletzen?”
Sein Vater lächelte ihn an.
“Dumm bis zum Ende”, sagte er. “Warum sollten wir nicht? Was haben wir zu verlieren? Was wollen sie tun, uns umbringen?”
Sein Vater lachte und seine Mutter fiel ein, während sie beide Arm in Arm an ihm vorbeigingen, unsanft seine Schulter anstießen und sich auf ihren Flug vorbereiteten.
Sage rief hinter ihnen her: “Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Ihr edel wart” sagte er. “Aber jetzt, seid Ihr nichts mehr. Weniger als nichts. Ist es das, wozu Euch die Verzweiflung macht?”
Sie drehten sich um und verzogen das Gesicht.
“Dein Problem, Sage, ist, dass, obwohl Du einer von uns bist, Du unsere Art nie verstanden hast. Zerstörung ist alles, was wir jemals wollten. Nur Du, einzig und allein Du, bist anders.”
“Du bist das Kind, das wir nie verstanden haben”, sagte seine Mutter. “Und Du hast es nie versäumt, uns zu enttäuschen.”
Sage fühlte einen Schmerz, der ihn durchfuhr, er fühlte sich zu schwach, um zu reagieren.
Als sie sich rumdrehten, um zu verschwinden, fand Sage keuchend die Kraft hinter ihnen her zu schreien: “Scarlet! Wo ist sie? Sagt es mir!”
Seine Mutter drehte sich um und lächelte breit.
“Oh, mach Dir keine Sorgen mehr um sie”, sagte seine Mutter. “Lore wird sie finden und uns alle retten. Oder er wird bei dem Versuch sterben. Und wenn wir weiterleben, glaube nicht, mein Schatz, dass es dann noch einen Platz für Dich bei uns geben wird.”
Sage errötete.
“Ich hasse Dich!”, schrie er. “Ich hasse Euch Beide!”
Seine Eltern drehten sich nur lächelnd um, traten auf das Marmorgeländer und verließen ihn in die Nacht.
Sage stand einfach dort und sah ihnen zu, wie sie verschwanden, in den Himmel, und seine verbleibenden Cousins sich zu ihnen gesellten. Er stand dort ganz allein, vor seiner mit Brettern vernagelten Heimat, mit nichts, was ihm geblieben war. Seine Familie hasste ihn – und er hasste sie ebenfalls.
Lore. Sage fühlte einen frischen Ausbruch von Entschlossenheit, als er an ihn dachte. Er durfte ihn Scarlet nicht finden lassen. Trotz all des Schmerzes in ihm, wusste er, er musste seine Kräfte ein letztes Mal bündeln. Er musste Scarlet finden.
Oder bei dem Versuch sterben.
KAPITEL VIER
Caitlin saß auf dem Beifahrersitz ihres Pickups, erschöpft, untröstlich, während Caleb unerbittlich die Straße 9 hinauf- und herunterfuhr, wie er es schon seit Stunden tat, um die Straßen abzusuchen. Es dämmerte und Caitlin sah durch die Windschutzscheibe auf den ungewöhnlichen Himmel. Sie wunderte sich, dass der Tag bereits anbrach. Sie waren die ganze Nacht herumgefahren, sie beiden auf den Vordersitzen und Sam und Polly auf der Rückbank, hatten ihre Augen über die Straßen und Büsche schweifen lassen und nach Scarlet gesucht. Einmal waren sie mit quietschenden Reifen stehengeblieben, da Caitlin gedacht hatte, sie hätte sie gesehen – nur, um dann zu erkennen, dass es eine Vogelscheuche war.
Caitlin schloss für einen Moment die Augen, ihre Lider fühlten sich so schwer und geschwollen an, und durch sie blitzten die Lichter der entgegenkommenden Wagen, von dem endlosen Verkehr, der die ganze Nacht nicht abgerissen war. Ihr war nach Weinen zumute.
Caitlin fühlte sich so hohl innerlich, wie eine schlechte Mutter, da sie nicht genug dagewesen war für Scarlet – dafür, dass sie nicht an sie geglaubt hatte, sie nicht verstanden hatte, nicht für sie dagewesen war, als sie sie gebraucht hatte. Irgendwie fühlte Caitlin sich verantwortlich für all das. Und sie wollte sterben bei dem Gedanken, ihre Tochter nicht wiederzusehen.
Caitlin begann zu weinen und schnell öffnete sie ihre Augen und wischte sich die Tränen fort. Caleb nahm ihre Hand, aber sie schüttelte sie ab. Caitlin wandte ihren Kopf zum Fenster, um ein bisschen Privatsphäre zu finden, wollte allein sein – wollte sterben. Ohne ihr kleines Mädchen im Leben blieb ihr nichts mehr.
Caitlin fühlte eine beruhigende Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und sah, dass Sam sich vorgelehnt hatte.
“Wir sind die ganze Nacht herumgefahren”, sagte er. “Es gibt kein Zeichen von ihr. Wir haben jeden Zentimeter auf der 9 abgesucht. Die Cops suchen auch nach ihr, mit viel mehr Autos. Wir sind alle erschöpft und haben keine Ahnung, wo sie sein könnte. Vielleicht ist sie schon zu Hause und wartet auf uns.”
“Das sehe ich genauso”, sagte Polly. “Ich sage, wir sollten nach Hause. Wir brauchen eine Pause.”
Plötzlich hörte sie ein lautes Hupen und Caitlin sah erschrocken auf und sah einen LKW, der ihnen entgegenkam, da sie auf der falschen Seite fuhren.
“CALEB!” schrie Caitlin.
Caleb wich in der letzten Sekunde aus, zurück auf die richtige Straßenseite und verpasste den LKW nur um Zentimeter.
Caitlin schaute ihn mit klopfendem Herzen an und der erschöpfte Caleb starrte zurück, seine Augen rot vor Müdigkeit.
“Was war das?” fragte sie.
“Es tut mir leid”, sagte er. “Ich muss weggedöst sein.”
“Dies tut niemandem von uns gut”, sagte Polly. “Wir brauchen eine Pause. Wir müssen nach Hause. Wir sind alle erschöpft.”
Caitlin zweifelte, aber endlich, nach einem langen Augenblick, nickte sie.
“In Ordnung. Bring uns nach Hause.”
*
Caitlin saß auf ihrer Couch, als die Sonne aufging und schaute durch ein Fotoalbum mit Fotos von Scarlet. Die Erinnerungen von Scarlet in jedem Alter überfluteten sie. Caitlin fuhr sanft mit ihrem Daumen über die Fotos und wünschte mehr als alles andere, sie könnte Scarlet jetzt hier bei sich haben. Sie würde alles dafür geben, sogar ihr eigenes Herz und ihre Seele.
Caitlin hielt die zerrissene Seite aus dem Buch in der Hand, die sie in dem Buchladen gefunden hatte, mit dem antiken Ritual, dass Scarlet gerettet hätte, wenn Caitlin rechtzeitig zurück gekommen wäre, das sie davon geheilt hätte, ein Vampir zu werden. Caitlin zerpflückte die Seite in Tausend Teile und warf sie auf den Boden. Sie landeten neben Ruth, ihrem großen Husky, die winselte und sich an Caitlins Seite zusammenrollte.
Die Seite, das Ritual, das Caitlin einst so viel bedeutet hatte, war jetzt nutzlos. Scarlet hatte sich bereits an einem Menschen vergangen und kein Ritual konnte sie jetzt noch retten.
Caleb, Sam und Polly, die ebenfalls in dem Raum waren, waren jeder für sich verloren in ihrer eigenen Welt, alle hingen auf dem Sofa oder den Stühlen herum, und alle waren bereits eingeschlafen, oder zumindest fast. Sie alle lagen in der dichten Stille und warteten darauf, dass Scarlet durch die Tür käme – und alle ahnten, dass das nicht passieren würde.
Plötzlich klingelte das Telefon. Caitlin sprang auf und hob mit zitternder Hand ab. Sie ließ den Hörer mehrmals fallen, bis sie endlich ans Ohr hielt.
“Hallo, hallo, hallo?” sagte sie. “Scarlet, bist Du das? Scarlet!?”
“Ma’am, hier ist Officer Stinton”, erklang eine männliche Stimme.
Caitlins Herz wurde schwer, als ihr klar wurde, dass es nicht Scarlet war.
“Ich rufe Sie nur an, um Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihre Tochter noch nicht gefunden haben.”
Caitlins Hoffnungen fielen in sich zusammen. Sie nahm das Telefon fester in die Hand und drückte es verzweifelt.
“Sie strengen sich nicht genug an”, kochte sie.
“Ma’am, wir tun alles, was wir können—”
Caitlin wartete nicht auf den Rest seiner Antwort. Sie schlug den Hörer auf, griff das Telefon, ein altes aus den 80ern, riss die Schnur aus der Wand, hob es über den Kopf und warf es mit aller Gewalt auf den Boden.
Caleb, Sam, und Polly sprangen auf, unsanft aus dem Schlaf gerissen und sahen sie an, als wäre sie verrückt geworden.
Caitlin sah hinunter auf das Telefon und bemerkte, dass sie es vielleicht war.
Caitlin stürmte durch den Raum, öffnete die Tür zu ihrer großen Veranda und setzte sich in einen Schaukelstuhl. Es war kalt in der Morgendämmerung, aber das war ihr egal. Sie war betäubt.
Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust und schaukelte und schaukelte in der kalten Novemberluft. Sie schaute auf die Straße, die von dem Licht eines neuen Tages beschienen wurde und sah keinen Menschen, kein einziges Auto, alle Häuser lagen noch still da. Alles war still. Eine perfekte, ruhige Vorstadtstraße, alles so wie es sein sollte. Perfekt normal.
Aber nichts, das wusste Caitlin, war normal. Plötzlich hasste sie diesen Ort, den sie so viele Jahre geliebt hatte. Sie hasste die Stille, sie hasste die Ruhe. Was würde sie nicht für ein wenig Chaos geben, etwas, was die Stille zerstörte, für Bewegung, für Ihre Tochter, die auftauchte.
Scarlet, betete sie, als sie ihre Augen schloss, weinend, komm zurück zu mir, Baby. Bitte komm zurück zu mir.
KAPITEL FÜNF
Scarlet Paine spürte, wie sie durch die Luft schwebte, das Flattern von Millionen kleiner Flügel im Ohr fühlte sie, wie sie immer höher stieg. Sie schaute sich um, um zu sehen, dass sie von einem Schwarm von Fledermäusen getragen wurde, die sie umgaben, sie klammerten sich an die Rückseite ihres Shirts und trugen sie durch die Luft.
Scarlet wurde durch die Wolken getragen, durch den schönsten Sonnenaufgang, den sie je gesehen hatte, der ganze blutrote Himmel war in Feuer getaucht. Sie verstand nicht, was passiert war, aber irgendwie hatte sie keine Angst. Sie spürte, dass sie sie irgendwohin trugen, und das Kreischen und Flattern um sie herum fühlte sich vertraut und familiär an.
Bevor Scarlet verstehen konnte, was passiert war, setzten die Fledermäuse sie sanft ab, vor dem größten Schloss, dass sie je gesehen hatte. Es hatte alte Steinwände und sie stand vor einem enormen, gewölbten Tor. Die Fledermäuse flogen hoch und verschwanden, ihr Flattern wurde leiser.
Scarlet stand vor der Tür und langsam öffnete sie sich. Ein gelbes Licht drang heraus und Scarlet wollte durch diese Tür gehen.
Scarlet trat über die Schwelle, ging in das Licht und kam in die größte Kammer, die sie je gesehen hatte. Im Inneren, aufgereiht in Perfektion, sie ansehend, stand eine Armee von Vampiren, alle in schwarz gekleidet. Sie schwebte zu ihnen hinüber, sah auf sie hinunter, als wäre sie ihr Führer.
Wie ein Mann erhoben sie gemeinsam ihre Hände und schlugen sich damit auf die Brust. “Du hast eine Nation geboren”, riefen sie im Gleichklang, das Echo erschall laut von dem Wänden wieder. “Du hast eine Nation geboren!”
Die Vampire ließen einen lauten Ruf erklingen und als sie das taten, nahm Scarlet es in sich auf, sie fühlte dass sie endlich ihre eigenen Leute gefunden hatte.
Scarlets Augen flogen auf, als sie von dem Geräusch von zersplittertem Glas erwachte. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf Zement, ihre Wange drückte dagegen, kalt und feucht. Sie sah, wie Ameisen auf sie zu krabbelten und legte ihre Hand auf den rauen Zement, um sich aufzusetzen und sie wegzufegen.
Scarlet war kalt und hatte Schmerzen, ihr Nacken und Rücken taten von dem Schlaf in dieser unbequemen Position weh. Vor allem war sie desorientiert, es machte ihr Angst, dass sie ihre Umgebung nicht erkannte. Sie lag unter einer kleinen Brücke, als der Sonnenaufgang über ihr hineinbrach. Es stank nach Urin und schalem Bier und Scarlet sah, dass der Zement über und unter mit Graffiti besprüht war und als sie sich umsah, entdeckte sie viele leere Bierdosen und gebrauchte Nadeln. Sie stellte fest, dass sie an einem schlechten Ort war. Sie sah sich blinzelnd um und hatte keine Ahnung, wo sie war, oder wie sie hergekommen war.
Erneut erklang das Geräusch von splitterndem Glas, begleitet von schlurfenden Schritten und Scarlet drehte sich schnell um, alle ihre Sinne in Alarmbereitschaft.
Ungefähr drei Meter entfernt standen vier Penner, die betrunken oder auf Drogen aussahen – oder einfach nur gewalttätig. Unrasierte, ältere Männer, die sie anstarrten, als wäre sie ein Spielzeug, das lüsterne Grinsen in ihrem Gesicht enthüllte gelbe Zähne. Aber sie waren stark, das konnte sie sehen, breit und kräftig und auf Grund der Art, wie sich ihr näherten, einer von ihnen warf Bierflaschen kaputt, konnte sie sehen, dass ihre Absichten nicht freundlich waren.
Scarlet versuchte sich daran zu erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war. Es war ein Ort, an den sie niemals freiwillig gegangen wäre. War sie hierhin gebracht worden? Ihr erster Gedanke war, dass sie vielleicht vergewaltigt worden war; aber sie sah an sich hinunter und fand sich selbst voll eingekleidet wieder und wusste, das war es nicht. Sie dachte zurück und versuchte sich an den vorigen Abend zu erinnern.
Aber es war alles nur ein schmerzhafter Schatten. Einzelne Momente blitzten vor ihr auf: eine Bar auf der Straße 9…eine Auseinandersetzung…aber es war alles so verschwommen. Sie konnte sich nicht recht an die Details erinnern.
“Du weißt, dass Du unter unserer Brücke bist, oder?” fragte einer der Penner sie, als sie näherkamen. Scarlet stemmte sich auf Hände und Knie und dann auf ihre Füße, innerlich zitternd, aber sie wollte sich die Angst nicht ansehen lassen.
“Niemand darf hierher kommen, ohne die Maut zu bezahlen”, sagte ein anderer.
“Es tut mir leid”, sagte sie. “Ich weiß nicht, wie ich hier hingekommen bin.”
“Das war Dein Fehler”, sagte ein anderer mit einer tiefen, knurrenden Stimme und lächelte sie dabei an.
“Bitte”, sagte Scarlet und versuchte, dabei hart zu klingen, aber ihre Stimme zitterte, als einen Schritt zurückwich, “ich möchte keinen Ärger. Ich gehe jetzt. Es tut mir leid.”
Scarlet drehte sich um, um zu verschwinden, mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich Schritte hörte, die hinter ihr herrannten und einen Arm fühlte der sich um sie schlang und ein Messer, das sich in Brust bohrte. Ein Würgen überkam sie bei dem Gestank nach Bier aus seinem Atem.
“Nein, das tust Du nicht, Liebling”, sagte er. “Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.”
Scarlet kämpfte, aber der Mann war zu stark für sie, seine Bartstoppeln kratzten ihr im Gesicht, als er sein Gesicht an ihrem rieb.
Direkt standen auch die anderen drei vor ihr und Scarlet schrie auf, kämpfte mit aller Gewalt, aber schon fühlte sie die Hände, die an ihrem Oberkörper herunterfuhren. Einer von ihnen erreichte ihren Gürtel.
Scarlet bockte und drehte sich, versuchte wegzukommen – aber sie waren zu stark. Einer von ihnen öffnete ihren Gürtel, warf ihn davon und sie hörte das Klingen von Metall auf Zement.
“Bitte, lasst mich gehen!” schrie Scarlet während sie sich wand.
Der vierte Penner griff ihre Jeans an der Taille und begann sie herunterzuziehen. Scarlet wusste, dass, wenn sie jetzt nichts täte, sie verletzt werden würde.
Etwas in ihr schnappte ein. Sie verstand nicht, was es war, aber es überwältigte sie komplett, eine Energie flutete sie, stieg von den Zehen bis in ihre Fingerspitzen. Sie fühlte eine sengende Hitze, die ihre durch die Schultern fuhr, durch ihre Arme und die Hände. Ihr Gesicht wurde rot und am ganzen Körper standen ihr die Haare zu Berge und sie fühlte ein Feuer, das in ihr brannte. Sie fühlte eine Stärke, die sie nicht verstand, wusste plötzlich, dass sie stärker war als diese Männer, stärker, als alles im Universum.
Dann fühlte sie noch etwas anderes: eine animalische Wut. Es war ein neues Gefühl. Sie hatte nicht länger den Wunsch, von hier wegzukommen – jetzt wollte sie genau hier bleiben und diese Männer dafür bezahlen lassen. Sie auseinanderreißen, Stück für Stück.
Und schließlich fühlte sie noch eine Sache: Hunger. Ein tiefer, nagender Hunger, der gestillt werden wollte.
Scarlet lehnte sich zurück und knurrte, ein Geräusch, das sogar sie selbst erschreckte; ihre Fänge wuchsen, während sie sich zurücklehnte und den Mann trat, der ihr an die Jeans gegangen war. Der Tritt war so voller Wut, er ließ den Mann fast sechs Meter durch die Luft fliegen, bis er mit dem Kopf gegen eine Betonwand schlug. Er sackte bewusstlos in sich zusammen.
Die anderen traten zurück und ließen sie los, die Münder weit geöffnet vor Schock und Angst, während sie Scarlet anstarrten. Sie schauten, als hätten sie verstanden, dass sie einen sehr großen Fehler begangen hatten.
Bevor sie reagieren konnten, wirbelte Scarlet herum und schlug den Mann, der sie gehalten hatte mit ihrem Ellbogen, und traf seinen Kiefer so hart, dass er sich zweimal um sich selbst drehte und dann bewusstlos zu Boden ging.
Scarlet drehte sich um, fauchend und sah die beiden anderen an wie ein Tier seine Beute. Die beiden Penner standen mit vor Angst geweiteten Augen vor ihr und Scarlet hörte ein Geräusch und schaute an einem hinunter, um festzustellen, dass er sich in die Hose gepinkelt hatte.
Scarlet bückte sie, hob ihren Gürtel auf und ging beiläufig auf sie zu.
Der Mann stolperte Rückwärts.
“Nein!” wimmerte er. “Bitte! Ich habe es nicht so gemeint!”
Scarlet sprang nach vorne und legte den Gürtel um den Hals des Mannes. Dann hob sie ihn mit einer Hand hoch, die Füße baumelten über dem Boden, der Mann japste und versuchte sich am Gürtel festzuhalten. Sie hielt ihn hoch über dem Kopf bis er sich nicht mehr bewegte und tot zu Boden fiel.
Scarlet drehte sich rum und sah den letzten Mann an, der weinte und zu verängstigt zum Weglaufen war. Ihre Fänge wurden länger, sie ging auf ihn zu und versenkte sie in seinem Hals. Er schüttelte die Arme und dann, nach wenigen Augenblicken, lag er in einer Blutlache.
Scarlet hörte ein entferntes Huschen und sah sich um, um festzustellen, dass der erste Penner langsam auf die Beine kam. Er sah sie panisch an und versuchte auf Händen und Knien davon zu krabbeln.
Sie stürzte sich auf ihn.
“Bitte tu mir nicht weh”, wimmerte er heulend. “Ich habe es nicht so gemeint. Ich weiß nicht, was Du bist, aber ich habe es nicht so gemeint.”
“Ich bin mir sicher, dass Du es nicht so gemeint hast”, antwortete sie mit einer dunklen, unmenschlichen Stimme. “So wie ich es auch nicht so meine, was ich jetzt tue.”
Scarlet packte ihm am Rücke seines Shirts, wirbelte ihn herum und warf ihn mit ganzer Kraft – gerade nach oben.
Der Penner flog wie eine Rakete, direkt gegen die Brücke, sein Kopf und seine Schultern krachten gegen den Zement, der Klang von fallendem Schutt erfüllte die Luft, da sie ihn halb durch die Brücke geworfen hatte. Dort hing er, steckte fest und seine Beine baumelten unter ihm.
Scarlet sprang mit einem Sprung auf die Brücke und sah zu, wie sein Oberkörper im Beton steckte, er schrie, sein Kopf und seine Schultern steckten fest und er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er wackelte in dem Versuch, sich zu befreien.
Aber das konnte er nicht. Er saß in der Falle für den nächsten Wagen, der vorbeifahren würde.
“Hol mich hier raus!” verlangte er.
Scarlet lächelte.
“Vielleicht beim nächsten Mal”, sagte sie. “Genieß den Verkehr.”
Scarlet drehte sich um, sprang ab und flog in den Himmel, die Schreie des Mannes wurden leiser und leiser, während sie höher und höher stieg, weg von diesem Ort, immer noch keine Ahnung, wo sie war, aber es interessierte sie auch nicht länger. Nur eine Person stahl sich in ihren Kopf: Sage. Sein Gesicht schwebte vor ihrem geistigen Auge, sein perfekt gestaltetes Kinn, seine Lippen, seine ausdrucksstarken Augen. Sie konnte seine Liebe für sie spüren. Und ihr ging es genauso.
Sie wusste nicht, wo ihr Zuhause war in dieser Welt, aber es interessierte sie auch nicht, solange sie mit ihm zusammen war.
Sage, dachte sie. Warte auf mich. Ich komme zu Dir.
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