Kitabı oku: «Die Zauberfabrik », sayfa 14
„Erzähle mir noch ein bisschen mehr“, forderte der Direktor ihn auf. „Was ist dann geschehen?“
„Sie haben die Perle hochgeworfen und ich sollte sie sicher zurückbringen“, erzählte Oliver. „Ich bin durch den Raum geschwebt, aber ich war einfach nicht schnell genug. Ich musste meine Kräfte einsetzen und habe visualisiert, wie sie in meinen Händen liegt.“
„Und das hat funktioniert?“
Oliver nickte. „Ja, zuerst schon.“
„Zuerst? Wie meinst du das?“
„Sie hat meine Hände verbrannt. Sie wurde so heiß, dass meine Haut verbrannt ist.“
Professor Amethyst sah ihn mit gespannter Aufmerksamkeit an. „Was hast du dann gemacht?“
„Ich habe sie weiter festgehalten“, sagte Oliver. „Dann war auf einmal alles vorbei und ich saß wieder neben Ihnen auf der Couch.“
Ein unauffälliges Lächeln umspielte die Mundwinkel des Direktors. „Sieh einer an. Was für ein faszinierendes Ergebnis.“
„Was heißt das?“, fragte Oliver.
„Nun, ein Brom-Seher würde sich nicht verbrennen. Ein Kobalt-Seher hätte jedoch nicht festgehalten.“ Er grinste breit. „Das, mein Junge, kann nur bedeuten, dass du weder eindeutig Brom noch Kobalt bist. Du bist beides.“
Olivers Kiefer wurde schlaff. Von allen Ergebnissen, die er sich hätte vorstellen können, wäre er nie darauf gekommen.
„Beides? Wie kann man denn beides sein?“
„Es ist sehr selten“, erklärte der Professor. „Außergewöhnlich selten sogar. Wenn ich genau darüber nachdenke, glaube ich, dass mir noch nie ein atomischer Seher mit gemischtem Typ untergekommen ist. Du bist ein Unikat, Oliver. Etwas ganz Besonderes!“
Der Direktor schien sich sehr zu freuen, aber Oliver war sich nicht sicher. Sein Leben lang war er der Außenseiter gewesen. Immer war er anders und deswegen hatten sie ihn gemobbt. Als er hier in die Schule kam, hatte er sich endlich zugehörig gefühlt. Doch das würde sich jetzt ändern. Wieder war er anders als alle anderen.
Er schluckte schwer. „Kann ich jetzt gehen, Professor?“
„Natürlich. Du kannst es bestimmt kaum erwarten, deinen Freunden von diesem fabelhaften Ergebnis zu erzählen.“
Oliver schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt würde ich das lieber niemandem sagen. Könnten wir das nicht für uns behalten? Den anderen Lehrern und Schülern nichts davon sagen? Zumindest für eine Weile? Ich muss mich erst an den Gedanken gewöhnen. Wäre das in Ordnung, Professor?“
Professor Amethyst sah ihn sonderbar an. „Wenn du das gerne möchtest, Oliver, dann werde ich es akzeptieren.“ Er stieß ein feierliches Lachen aus und schwebte vor sich hin murmelnd davon. „Ich frage mich, ob Madame Obsidian je einen atomischen Misch-Seher hatte.“
Oliver sah zu, wie er in der Dunkelheit verschwand. Ganz im Gegensatz zum Direktor war ihm nicht nach Feiern zumute. Er hatte eine merkwürdige Vorahnung. Was auch immer er war und was auch aus ihm werden sollte, es würde nicht leicht werden.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Oliver fuhr mit dem gläsernen Aufzug hinunter ins Erdgeschoss und ließ dabei seine Begegnung mit Professor Amethyst in der sechsten Dimension immer wieder Revue passieren. Seine Vision war wahnsinnig intensiv gewesen. Er bekam die Kugel von Kandra gar nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie war einfach atemberaubend.
Als sich die Türen des Aufzugs öffneten, war Oliver überrascht, Ralph, Hazel, Walter und Simon neben dem riesigen Kapokbaum stehen zu sehen. Sie hatten scheinbar nur auf ihn gewartet, denn sowie sie ihn sahen, eilten sie auf ihn zu.
„Und?“, fragte Hazel und sah ihn mit ihren großen grauen Augen erwartungsvoll an.
„Was ist passiert?“, fragte Ralph.
Oliver wusste genau, dass sie auf sein Testergebnis neugierig waren, aber er hatte Angst davor, ihnen zu sagen, dass er sowohl ein Brom- als auch ein Kobalt-Seher mit atomischer Begabung war. Diese mächtige und ausgefallene Kombination würde womöglich Missgunst unter ihnen streuen.
„Komm schon, Oliver! Spuck‘ es aus!“, drängte Walter.
„Gar nichts ist passiert“, sagte Oliver ausweichend. „Professor Amethyst sagte, dass ich später noch bestraft werde und…“
„Nicht das! Der Test! Du wurdest doch bestimmt wegen des Tests zu ihm gerufen!“, unterbrach ihn Hazel.
Oliver zuckte zusammen. Er wollte wirklich nicht verraten, was er in der sechsten Dimension über sich selbst gelernt hatte, und er wollte schon gar nicht über die Kugel von Kandra sprechen. Sie zu sehen und zu erleben hatte sich für ihn sehr persönlich angefühlt. Das konnte er nicht mit den anderen teilen.
Lachend klopfte Simon ihm auf die Schulter. „Lasst ihn in Ruhe. Oliver hat das Recht, es für sich zu behalten.“
„Danke“, sagte Oliver erleichtert.
Die anderen seufzten enttäuscht.
In diesem Moment spürte Oliver, wie sein Stundenplan vibrierte. Seine Freunde mussten es auch gespürt haben, denn alle zogen gleichzeitig ihre Scheiben aus der Tasche.
„Abendessen“, sagte Hazel. „Vielleicht hast du ja nach dem Essen Lust, es uns zu erzählen.“ Sie grinste frech.
„Komm schon, Hazel. Simon hat Recht. Wenn Oliver es uns nicht sagen möchte, dann sollten wir das respektieren“, ermahnte Ralph sie auf seine lehrerhafte Art.
Oliver steckte seinen Stundenplan wieder in die große Tasche seines Overalls. Auf seiner Scheibe hatte nicht E für Essen gestanden, sondern ST.
„Was heißt ST?“, fragte er.
Walter bekam große Augen. Hazel biss sich auf die Lippen.
„Was ist denn?“, fragte Oliver eindringlicher.
„Das steht für Strafe“, erklärte Ralph. Er legte Oliver eine Hand auf die Schulter. „Ich schätze, das ist die Konsequenz für die Auseinandersetzung mit Edmund.“
Oliver schluckte. Er wusste nicht, wie man in der Schule für Seher bestraft wurde und er wollte es eigentlich nicht herausfinden.
„Wir sollten besser gehen“, sagte Ralph. Er sah Oliver mitleidig an und drückte noch einmal seine Schulter.
Oliver beobachtete, wie Simon, Ralph, Hazel und Walter zusammen zur E-Tür gingen.
Als er alleine war, blickte Oliver noch einmal auf seinen Stundenplan. Die Koordinaten schienen ihn zum Schlafsaal zu führen. Er stellte sich vor die Tür und war überrascht, als der graue Buchstabe weiß wurde, was bedeutete, dass er eintreten sollte. Er öffnete die Tür zur Schleuse.
In dem Raum befand sich ein kleiner Tisch. Darauf stand ein Käse-Sandwich und ein Glas Milch.
Oliver lachte. Das war seine Strafe? Eine kleine Mahlzeit und früh ins Bett? Seine Jahre im Haus der Blues hatten ihn auf das Schlimmste vorbereitet. Aber hiermit konnte er umgehen. Wenn er überlegte, wie viele Abendessen seine Eltern ihm vorenthalten hatten, weil er sich angeblich schlecht benommen hatte, dann war ein Käsesandwich echter Luxus dagegen.
Oliver setzte sich an den Tisch und begann zu essen. In Gedanken ging er noch einmal alles durch, was er an diesem Tag erlebt hatte – seine Hände hatten sich in Stahl verwandelt; er hatte herausgefunden, dass seine Begabung atomisch und er ein ungewöhnlicher Mischtyp war; er dachte an Esthers schöne grüne Augen und Edmunds schreckliches Grinsen. Vor allem aber dachte er an die Kugel von Kandra.
Der Tag war wirklich besonders gewesen.
Als er sein Sandwich gegessen hatte, ging er zu den Schließfächern, um seinen Schlafanzug anzuziehen. Eigentlich war er ganz dankbar für die Auszeit. Endlich fand er die Ruhe, einmal tief Luft zu holen und sich langsam und in Frieden auf die Veränderungen in seinem Leben vorzubereiten. An der Schule für Seher ging es so hektisch zu, dass er diesen Moment wirklich gebraucht hatte, um seine Gedanken zu ordnen ohne die Ablenkung der anderen.
Die Luftschleusenbeleuchtung zeigte an, dass er nun in den Schlafsaal eintreten konnte. Er ging hinein und sah, dass alle Schlafkapseln frei waren. Nicht einmal Ichiro war hier.
Oliver ging zu einer der Kapseln und stieg hinein. Er befestigte seine Elektroden und den Herzmonitor und schloss den Deckel. Als er auf das milchige Glas blickte, sah er wieder die Kugel von Kandra vor sich. Sie hatte ihn verzaubert. Sie rief ihn zu sich. Er verstand nicht, was es bedeutete, aber er spürte, dass sie etwas in ihm verändert hatte.
Er gähnte. Der Tag hatte ihn erschöpft. Oliver drückte den Schalter und konnte kaum erwarten, dass der Schlaf ihn wegholte.
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
Am nächsten Morgen saß Oliver in Dr. Ziblatts Unterricht. Noch immer dachte er an die Kugel von Kandra. Die Kinder übten wieder, in die verschiedenen Dimensionen zu sehen, aber Oliver konnte sich nicht konzentrieren.
Er blickte auf den schwarzen Punkt auf seiner Karte. Heute hatte jeder eine eigene Karte bekommen. Einige hatten es bereits geschafft, durch ihre eigene Dimension in die nächste zu sehen – zum Beispiel Hazel, die begeistert von einer grünen Weide erzählte – doch andere wollten schon frustriert aufgeben.
Plötzlich klatschte jemand laut in die Hände. Alle drehten sich um. Es war Edmund. Triumphierend war er aufgesprungen.
„Ich habe ins Gestern gesehen!“, rief er.
Sofort ertönte aufgeregtes Gemurmel im Klassenzimmer. Niemand hatte es bisher geschafft, in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu blicken. Edmunds Leistung war unglaublich.
Alle Augen waren auf Edmund gerichtet, als er zum Pult stolzierte, um sein erstaunliches Talent auf der Hologrammmaschine zu zeigen.
Gerade in diesem Moment drehte sich Esther zu ihnen um. Ihre hübschen grünen Augen waren auf Oliver gerichtet. Er schluckte.
„Edmund ist so ein Angeber“, sagte sie und rollte die Augen. „Wie läuft es bei dir?“
Olivers Hals war wie zugeschnürt. Seine Handflächen begannen zu schwitzen.
„Noch kein Glück. Und du?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Mit der Brille konnte ich es, aber ohne läuft nichts.“
Erst jetzt wurde ihm diese lächerliche Brille wieder bewusst, die auf seiner Nase saß. Beschämt zog er sie ab.
„Hast du dich schon eingewöhnt?“, fragte Esther lieblich. „Kennst du dich inzwischen aus hier?“
Oliver brachte nur ein schüchternes Nicken zustande.
„Die Schule ist sehr groß. Ich habe noch lange nicht alles gesehen.“
„Warst du schon im Garten?“, fragte Esther. „Das ist mein absoluter Lieblingsplatz.“
„Nein, da war ich noch nicht“, sagte Oliver. „Hast du Lust, ihn mir zu zeigen?“ Er erschrak über seine eigenen Worte.
Esther lächelte. „Ja, warum nicht. Nach der Stunde?“
Oliver nickte und Esther drehte sich wieder um.
Hazel lehnte sich grinsend zu ihm.
„Hast du gerade Esther auf ein Date eingeladen?“, fragte sie erstaunt.
„Ich weiß nicht. Habe ich? Ich glaube, ja.“ Er riss die Augen auf. „Himmel! Und sie hat ja gesagt!“
Hazel kicherte. „Saubere Arbeit, Romeo.“
Ralph sah ihn beeindruckt an. „Ich glaube nicht, dass sie jemals mit einem der Schüler auf ein Date gegangen ist.“ Er klopfte ihm anerkennend auf den Rücken.
„Versau‘ es nicht!“, lachte er.
*
„Bist du soweit?“
Oliver blickte von seiner Karte auf, direkt in Esthers Augen. Der Unterricht war zu Ende.
„Ähm… ja, klar“, stotterte er schüchtern. Er packte seine Sachen ein, stand auf und winkte seinen Freunden kurz zu, die ihm zuzwinkerten und den Daumen übertrieben in die Luft hielten.
Oliver und Esther verließen gemeinsam das Klassenzimmer und gingen zum Atrium. Bald kamen sie an eine Tür, die Oliver noch nicht aufgefallen war. Ein großes G stand darauf. Als sie sie öffneten, war Oliver überrascht. Es kam ihm vor, als wären sie draußen unter freiem Himmel, auch wenn Oliver wusste, dass das eigentlich nicht sein konnte. Alles in der Schule war unterirdisch, die Gärten eingeschlossen, aber es sah wirklich so aus, als wäre er in der Natur. Es roch sogar nach frischen Pflanzen und es wehte eine leichte Brise. Die Luft war warm, wie an einem freundlichen Frühlingstag.
Langsam gingen sie nebeneinander durch das Gras und erreichten eine Hecke, in der rosafarbene Heckenrosen leuchteten. Daneben befand sich ein Gehweg aus verblassendem Ziegelstein, dem sie ein Stück folgten.
„Wow, es ist wirklich schön hier“, sagte Oliver.
„Hierher komme ich immer, wenn ich in Ruhe nachdenken will“, sagte Esther. „Man kann hier auch super meditieren. Dabei kann ich entspannen und meine Kräfte sammeln.“
„Warum? Hast du das denn nötig?“
Esther sah plötzlich aus, als wollte sie lieber über etwas anderes reden. „Meine Begabung ist Sonar“, sagte sie schließlich. „Das heißt leider, dass ich ziemlich limitiert bin.“
„Ich habe gehört, dass das eine der schwächeren Begabungen ist.“
Esther sah niedergeschlagen aus. Sofort bereute Oliver seine Worte.
„Ich glaube das nicht unbedingt“, sagte er schnell. „Ich glaube, dass Sonar viel cooler ist als beispielsweise Magnetisch. Es ist also alles eine Frage der Perspektive.“
Esther schnaubte nur leise. Oliver fühlte sich schlecht. Das Gespräch ging in die völlig falsche Richtung.
In angespanntem Schweigen gingen sie nebeneinander her. Esther kickte ein paar Kieselsteine vor sich her. Oliver zerbrach sich den Kopf. Er wollte unbedingt etwas Nettes zu ihr sagen, um dieses Date zu retten.
„Aus welcher Zeit kommst du eigentlich?“, fragte er.
„1977, New Jersey“, sagte sie. „Und du?“
„Ich komme auch aus New Jersey! Nur etwa vierzig Jahre später.“
„Cool. Aber das heißt, dass ich in deiner Zeit schon fünfzig Jahre alt bin. Seltsam, nicht?“
Oliver war nicht sicher, ob er das Gespräch gerettet oder endgültig versaut hatte. Esther war nicht leicht zu durchschauen. Es war vielleicht nicht die beste Idee, über sie als erwachsene Frau zu reden. Er überlegte, was er als nächstes fragen konnte, doch Esther kam ihm zuvor.
„Bist du auch Italiener?“, fragte er. „Meine Familie ist aus Italien. Oder war.“
Oliver hörte einen Hauch von Melancholie in ihrer Stimme. Für ihn war klar, dass mit Esthers Familie etwas passiert war. Er wollte aber lieber nicht danach fragen.
„Ich? Nein“, sagte er und zeigte auf sein blondes Haar. „Wir sind aber oft umgezogen. Sehr oft. In New Jersey waren wir nur etwa eine Woche, bevor ich hierhergekommen bin. Über meine Vorfahren weiß ich nicht viel. Meine Eltern haben nie darüber geredet.“
Jetzt hatte sich die Melancholie auch in seine Stimme geschlichen. Über ihre Familien zu reden, fiel also beiden nicht besonders leicht.
Oliver wollte ein Thema finden, bei dem sie sich wohler fühlten. Haustiere vielleicht? Nein, das war zu langweilig. Switchit? Darüber wusste er nicht besonders viel.
Doch bevor Oliver sich eine gute Frage überlegt hatte, bemerkte er etwas in der Ferne.
„Hey, schau mal! Was ist das denn?“, fragte er.
Esther blinzelte in den Himmel. Eine dunkle Masse bewegte sich am Horizont wie eine seltsame Wolke. Bald wurde klar, dass es sich um fliegende Kreaturen handelte, die sich wie ein Vogelschwarm bewegten.
„Sieht aus wie ein Schwarm von Fledermäusen“, sagte Esther.
„Hast du sie schon öfter hier im Garten gesehen?“, fragte Oliver.
Unsicher schüttelte sie den Kopf. „Noch nie.“
Plötzlich änderten die Fledermäuse ihre Flugbahn. Sie kamen jetzt direkt auf Oliver und Esther zu. Und sie flogen verblüffend schnell.
„Sie kommen“, sagte Oliver alarmiert. Bald erkannte Oliver ein blaues Schimmern in den Augen der Tiere. Es war unheimlich.
Sofort dachte er an das, was Professor Amethyst ihm über die blauen Augen ihrer Feinde gesagt hatte. Konnten es wirklich feindliche Seher sein, die sich in Fledermäuse verwandelt hatten, um in die Schule einzudringen?
„Feinde!“, rief Oliver.
Esther ergriff Olivers Hand und klammerte sich daran fest. Sie war vor Schreck wie gelähmt.
„Wir müssen sie aufhalten! Sie dürfen nicht in die Schule gelangen!“, rief Esther.
„Dein Sonar-Schild!“, rief Oliver und dachte daran, wie sie beim Switchit-Spiel einen Puls über das Spielfeld gesendet hatte, der alles für einen Augenblick zum Stillstand gebracht hatte. Entschlossenheit legte sich über Esthers Gesicht. Sie änderte ihre Haltung, so dass ihre Füße sich fast in den Boden gruben, dann sammelte sie ihre Kräfte. Plötzlich war es, als ob ein Schild um sie herum lag, wie ein Schutzmantel aus Glas.
Die Fledermäuse prallten gegen den Schutzschild, quietschten und schlugen mit ihren schrecklichen schwarzen Flügeln. Sie konnten die Barriere nicht durchdringen und schlugen nur hilflos dagegen.
Esther schob den Schutzschild weiter. Die Luft kräuselte sich wie Wellen auf dem Wasser und trieb die Fledermäuse zurück.
Oliver sah mit offenem Mund zu. Esther nutzte ihre Kräfte mit so atemberaubender Präzision, dass sein Herz höher schlug.
„Du bist fantastisch!“, flüsterte er.
„Danke“, sagte Esther konzentriert. „Aber ich werde das nicht mehr lange halten können. Wir müssen die anderen warnen. Du musst den Alarm auslösen.“
Oliver sah ihrem Gesicht an, wie sehr es sie anstrengte.
„Wie?“, fragte er.
Hochkonzentriert und ohne den Blick abzuwenden wies sie mit dem Kinn nach rechts. „Da drüben im Baum ist ein Schalter.“
Oliver rannte zu der großen Eiche. Eilig suchte er die Rinde ab, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Da fiel ihm eine Wölbung auf, die ihm zu gleichmäßig vorkam, um natürlich zu sein. Atemlos flüsterte Oliver ein stilles Gebet und schlug seine Handfläche auf den Knoten. Sofort durchdrang ein schrilles Kreischen die Luft.
In nur wenigen Sekunden waren die ruhigen Gärten voll mit Lehrern und Sicherheitspersonal. Oliver sah Doktor Ziblatt und Coach Finkle unter ihnen. Es kamen auch jede Menge Wachen; Seher, die ihr Leben der Verteidigung der Schule widmeten.
Dann tauchte auch Professor Amethyst in der Menge auf.
„Esther, Oliver! Zurück! Wir übernehmen das!“
Das brauchte er Esther nicht zweimal sagen. Sie senkte die Hände und ließ den Schild los. Erschöpft sank sie auf die Knie und Oliver fing sie gerade noch auf.
„Esther!“, rief er besorgt.
„Sie wird sich schnell erholen. Sie ist nur erschöpft, weil sie all ihre Kräfte verbraucht hat“, erklärte Professor Amethyst. „Du solltest sie jetzt in Sicherheit bringen.“
Oliver nickte entschlossen. Er legte sich Esthers Arme um die Schultern und hob sie auf ihre Füße. Sie hatte gerade noch genügend Kraft, sich mit seiner Hilfe auf den Beinen zu halten. Schnell brachte er sie über die Wiese zurück zum Eingang.
Als sie die große Tür erreicht hatten, sah Oliver, dass die Wachen dort einen ganzen Haufen von Schülern zurückhalten mussten, die mit großen Augen in die Gärten sahen.
Oliver blickte kurz über die Schulter zurück. Sofort wünschte er sich, er hätte es nicht getan. In den vor kurzem noch friedlichen Gärten fand eine epische Schlacht statt. Die Fledermäuse verwandelten sich in Menschen. Ihre Augen blitzten blau.
Dann zogen die Wachen Oliver und Esther aus der Tür. Damit war seine Sicht blockiert. Aber Oliver hatte genug gesehen, um zu wissen, dass Professor Amethyst ihn genau davor gewarnt hatte. Ihre Feinde. Abtrünnige Seher.
Irgendwie waren sie in die Schule eingedrungen.
Die Schule wurde angegriffen.
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Oliver half Esther auf die Bank unter dem Kapokbaum. Sie brach erschöpft zusammen, ihr Kopf hing nach vorne. Oliver setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Taille.
Das ganze Atrium war voll von aufgeregten Kindern, deren Gesichtsausdruck schockiert bis verängstigt war. Der schrille Alarm kreischte weiter.
„Oliver!“, rief eine Stimme.
Er blickte auf und sah Hazel durch das Atrium auf sich zu rennen. Hinter ihr folgten Simon, Walter und Ralph.
„Was ist passiert?“, fragte Ralph, als sie ihn erreicht hatten. „Bist du okay?“
„Oh nein! Esther!“, rief Hazel bestürzt. Sie setzte sich neben sie auf den Boden und strich ihr vorsichtig die Haare aus dem Gesicht.
„Wir sind unverletzt“, sagte Oliver. „Unsere Schule wird von feindlichen Sehern angegriffen!“
Seine Freunde schnappten erschrocken nach Luft.
„Professor Amethyst und die Wachen kümmern sich darum“, fügte Oliver hinzu, um seine Freunde zu beruhigen.
Dabei jagte auch ihm ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an die unheimlichen blauen Augen der feindlichen Seher dachte.
Hazel sah zu ihm auf. „Was ist mit ihr geschehen?“
„Sie hat einen Schutzschild mit ihren Kräften erschaffen, der die Angreifer zurückgehalten hat. Sie hat uns gerettet! Es war der helle Wahnsinn! Aber dabei hat sie all ihre Kräfte verbraucht.“
Esther hob ihren Kopf ein wenig und lächelte erschöpft. „So hatte ich mir unseren Ausflug nicht vorgestellt“, flüsterte sie.
In diesem Moment verklang der Alarm. Alle wurden still und sahen gespannt zu der Tür zum Garten.
Sie wurde geöffnet und Professor Amethyst kam herein. Die Wächter und Lehrer, einschließlich Dr. Ziblatt, Coach Finkle und Mr. Lazzarato, folgten ihm. Die Kinder starrten sie erwartungsvoll an.
„Schulversammlung“, verkündete Professor Amethyst. „Jetzt sofort.“
Alles setzte sich in Bewegung. Die Schüler gingen zu einer Tür, die Oliver bisher noch nicht aufgefallen war. Ein großes D stand darauf. Sein Leuchten sagte ihnen, dass sie eintreten konnten.
Oliver und Hazel halfen Esther auf die Beine. Auch wenn sie schon wieder besser stehen konnte, brauchte sie immer noch Hilfe. Oliver und Hazel stützten sie, die anderen folgten.
„Das D steht für Diskussion“, erklärte Ralph. „Auch wenn es heute vielleicht nicht viel Raum für Diskussion geben wird.“
Als sie in den Saal kamen, sah Oliver sich um. Er wirkte fast wie eine Kirche, mit langen Bänken in Hufeisenform. In der Mitte stand Professor Amethyst an einem Rednerpult. Die Stimmung war ernst.
Die Kinder setzten sich und Professor Amethyst begann zu sprechen.
„Die Schule wurde angegriffen…“, begann er mit donnernder Stimme. Die Kinder waren mucksmäuschenstill, „…von feindlichen Sehern. Solche, die sich von ihrer Aufgabe abgewendet und mit dem Bösen verbündet haben.“
Ein Raunen ging durch die Reihen. Der Direktor senkte den Blick. Er sah fast beschämt aus, dachte Oliver, als ob er die Seher, die sich gegen ihn stellten, als persönlichen Misserfolg empfand. Er wirkte jetzt noch entschlossener, den richtigen Weg zu verteidigen und zu predigen.
„Sie haben versucht, die Kugel von Kandra zu stehlen, um die Schule zu zerstören. Der Angriff konnte dank unserer furchtlosen Wachen und Lehrer abgewendet werden. Und dank der schnellen Reaktion zweier mutiger Schüler, die den Alarm ausgelöst und eine erste Verteidigung aufgebaut haben.“
Er sah direkt zu Esther und Oliver. Oliver rutschte nervös auf der Bank hin und her.
Der Direktor sprach weiter. „Ich habe den Riss in unserem unsichtbaren Schild wieder repariert, aber die Gefahr ist noch nicht gebannt. Die Feinde konnten diese Schwachstelle nur entdecken, weil jemand ihnen geholfen hat. Ich befürchte, dass sich ein Verräter unter uns befindet. Ein Spion.“
Diesmal war das Raunen noch lauter. Oliver sah zu seinen Freunden. Vor allem Ralph sah beunruhigt aus. Simon war noch blasser als sonst. Esther nahm Olivers Hand und er drückte sie.
„Für die nächsten achtundvierzig Stunden werden eure Stundenpläne deaktiviert“, fuhr Professor Amethyst fort. „Ich werde mit den Kollegen beraten, wie wir vorgehen können und ich möchte, dass ihr alle diese Zeit nutzt, um euch auszuruhen und Kraft zu sammeln. In zwei Tagen wird der Unterricht ganz normal fortgesetzt.“
Oliver sah auf seinen Stundenplan und bemerkte, dass er grau geworden war. Keine Koordinaten, Uhrzeiten oder Buchstaben waren darauf zu sehen. Zum ersten Mal seit er hier angekommen war, war nicht jeder seiner Schritte vorgeschrieben. Er kam sich seltsam frei vor.
Nach der Ankündigung strömten alle aus dem Saal und gingen zur E-Halle. Esther hatte sich mehr oder weniger erholt, doch Oliver ging zur Sicherheit dicht an ihrer Seite. Alle waren still und nachdenklich, als sie sich an einen Tisch setzten und anschnallten.
Der Tisch erhob sich und rastete an seinem Platz ein. Die Förderbänder brachten eine große Auswahl an bunten Lebensmitteln, doch niemand hatte richtigen Hunger. Sie waren immer noch fassungslos. Schließlich brach Simon das Schweigen.
„Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber ich fürchte mich.“
„Ich auch“, stimmte Hazel zu.
„Es war wirklich knapp“, sagte Ralph. „Wenn sie es geschafft haben, die unsichtbare Mauer zu durchdringen, ist es kein Wunder, dass wir uns nicht mehr sicher fühlen. Was passiert, wenn sie wieder kommen?“
„Glaubst du, die Schule ist in Gefahr?“, fragte Simon.
„Professor Amethyst hat gesagt, dass der Riss verschlossen wurde“, warf Hazel ein.
„Aber er hat auch gesagt, dass es einen Spion in der Schule gibt!“, rief Walter.
Schweigend hörte Oliver zu, was seine Freunde zu sagen hatten. Der Angriff hatte auch ihn aus der Bahn geworfen. Er konnte spüren, dass alles sich verändert hatte. Die Kinder waren nicht mehr so sorglos und leichtfüßig wie zuvor. Stattdessen waren sie mit der harten Realität konfrontiert. Eine gute Sache gab es aber. Esther saß jetzt als neue Freundin bei ihnen.
War sie jetzt seine Freundin?, fragte er sich.
Er wusste nicht genau, wie er ihre Beziehung definieren sollte, aber er war sehr froh, sie an seiner Seite zu haben.
Nach und nach wählten die Kinder ihr Essen aus, aber sie stocherten nur lustlos in ihren Tellern herum, bis die metallenen Arme kamen, um das Geschirr abzuräumen. Dann sank der Tisch auf den Boden und sie verließen die Halle.
Sie brauchten nicht abzusprechen, wohin sie gehen sollten. Sie machten sich auf den direkten Weg zum Schlafsaal. Die Tür blinkte weiß, die Schüler konnten eintreten. Professor Amethyst hatte angeordnet, dass sie sich ausruhen sollten. Oliver war dankbar, denn er war sehr erschöpft.
Ichiro war im Dienst. Sein übliches Lächeln wirkte matt. Er wies den Kindern ihre Schlafkapseln zu, ohne die flotten Sprüche, die er sonst für sie parat hatte.
Oliver hatte seine Kabel und Monitore schnell angeschlossen. Er wollte einfach nur die Aufregung des Tages hinter sich bringen. Sobald er verkabelt war, drückte er den weißen Knopf und fiel in einen tiefen Schlaf.
*
Oliver stand auf einem hohen Gebäude. Obwohl er die Schule für Seher nie von außen gesehen hatte, wusste er instinktiv, dass sie es war. Er konnte die schimmernde, blasenartige Schutzbarriere sehen, die sich rund um das Gebäude bog und die weiten grünen Felder des Schulgeländes umgab.
Olivers Blick fiel auf etwas in der Ferne. Er sah eine Bewegung. Ein dunkles Gebilde zog sich über den Horizont.
Es war eine Armee, die einheitlich und zielgerichtet marschierte.
Oliver erschrak. Die Armee kam direkt auf die Schule zu!
Als sie näher kamen, konnte er weitere Details erkennen. Ihre Uniformen waren in dunkler Khakifarbe. Sie erinnerten Oliver an die Uniformen des Zweiten Weltkrieges. Die Soldaten manövrierten etwas, eine Art Waffe auf einer metallischen Trage mit Rädern. Sie sah aus wie eine Rakete mit einem seltsamen, eiförmigen Körper und herausstehenden Drähten. Oliver begriff sofort.
Die erste Atombombe! Er hatte ein Bild davon in seinem Erfinderbuch gesehen.
Die Armee erreichte die schimmernde Grenze der Schutzmauer und blieb in einer plötzlichen, gleichmäßigen Bewegung stehen. Oliver beobachtete entsetzt, wie die Soldaten die Bombe in Position brachten und auf die Wand richteten.
„Sie wollen die Schule vernichten!“, flüsterte er.
Auf einmal trat eine einzelne Figur aus der Reihe der Soldaten. Er ging zu der Bombe und hielt seine Hand über einen großen roten Knopf. Dann hielt er inne und blickte direkt zu Oliver.
Bestürzt schrie Oliver auf. Er hatte ihn sofort erkannt.
Es war Lucas!