Kitabı oku: «Die Zauberfabrik », sayfa 3
„Wirklich? Eine Zeitmaschine?“, fragte Mrs. Belfry mit hochgezogenen Augenbrauen. „Das ist aber aufregend!“
Oliver nickte. „Seine alte Fabrik liegt nicht weit von hier. Ich dachte, ich schaue sie mir mal an.“
„Das solltest du wirklich tun“, sagte Mrs. Belfry und lächelte ermutigend. „Als ich in deinem Alter war, habe ich Physik geliebt. Die anderen Kinder haben mich damit immer aufgezogen, weil sie nicht verstehen konnten, dass ich lieber Schaltkreise baute als mit Barbies zu spielen. Eines Tages kam mein Lieblingswissenschaftler in unsere Stadt, um eine Folge seiner Wissenssendung zu drehen. Ich hatte hinterher die Gelegenheit mit ihm zu reden und er hat mir damals gesagt, dass ich meine Leidenschaft niemals aufgeben sollte. Auch wenn andere es komisch fanden, ich bin immer meinen Träumen gefolgt. Hätte ich damals nicht mit ihm geredet, wäre ich heute vielleicht nicht hier. Du darfst nicht unterschätzen, wie wichtig aufmunternde Worte sind von einer Person, die du verehrst. Besonders wenn dir sonst niemand Mut zuspricht.“
Mrs. Belfrys Worte trafen Oliver mitten ins Herz. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich beschwingt und lebendig. Jetzt hatte er fest vor, die Fabrik zu finden und seinen Helden persönlich zu treffen.
„Danke, Mrs. Belfry“, sagte er grinsend. „Bis zum nächsten Mal!“
Und damit sprang er den Gang hinunter. „Folge deinem Traum!“, hörte er Mrs. Belfry hinter sich rufen.
KAPITEL DREI
Oliver kämpfte sich gegen die starken Sturmböen zur Bushaltestelle. Dabei konzentrierte er sich auf den einzigen Lichtblick, der ihm in diesem trostlosen, neuen Kapitel seines Lebens geblieben war: Armando Illstrom. Wenn er die Fabrik und den Erfinder wirklich ausfindig machen könnte, wäre sein Leben nicht mehr so trostlos. Vielleicht würde er in Armando Illstrom einen Verbündeten finden. Jemand, der an einer Zeitmaschine gearbeitet hatte, würde bestimmt mit einem Jungen auskommen, der versuchte, sich unsichtbar zu machen. Einer wie Armando würde ganz sicher mit Olivers Eigenarten klarkommen. Wahrscheinlich wäre er noch viel verschrobener als Oliver selbst!
Oliver kramte in seiner Tasche und holte einen Zettel heraus, auf den er die Adresse der Fabrik gekritzelt hatte. Sie war weiter von der Schule entfernt, als er zuerst gedacht hatte. Er würde ein paar Stationen mit dem Bus fahren müssen. In seiner anderen Tasche suchte er nach Kleingeld und stellte fest, dass er gerade noch genug Geld vom Mittagessen übrig hatte. Erleichtert stellte er sich an die Bushaltestelle.
Während er wartete, tobte der Wind unablässig. Wenn es noch schlimmer wurde, würde er bald nicht mehr gerade stehen können. Auch die anderen Leute schoben sich nur mit Mühe an dem kleinen Bushäuschen vorbei durch den Wind. Hätte sein erster Schultag ihn nicht so ausgelaugt, würde er über den Anblick lachen, aber jetzt hielt ihn nur noch der Gedanke an die Fabrik auf den Beinen.
Als der Bus schließlich kam, stieg Oliver schnell ein. Er war ebenso heruntergekommen wie die meisten Autos in diesem Viertel. Im Bus roch es nach kaltem Fritteusenfett und Zwiebeln. Sein Magen knurrte, was ihn daran erinnerte, dass er wahrscheinlich wieder das Abendessen verpassen würde. Vielleicht war es doch nicht so schlau gewesen, sein letztes Geld für den Bus anstatt für etwas zu Essen auszugeben, doch der Gedanke an Armandos Fabrik war Olivers ganzer Antrieb. Welche Hoffnung hätte er noch, wenn er jetzt nicht wenigstens versuchte, die Fabrik zu finden?
Der Bus rumpelte über die Straßen. Melancholisch sah Oliver aus dem Fenster. Mülltonnen lagen achtlos auf der Seite, ihre Inhalte waren vom Wind überall verteilt. Die Wolken waren so finster, dass sie beinahe schwarz waren.
Langsam waren die Straßen dünner besiedelt und die Gegend wirkte noch verlassener. Die wenigen Gebäude wirkten noch baufälliger. Immer wieder hielt der Bus an, um Fahrgäste aussteigen zu lassen. Diesmal war es eine erschöpft aussehende Mutter mit ihrem quengelnden Baby. Als der Bus wieder anfuhr, stellte Oliver fest, dass außer ihm niemand mehr mitfuhr. Die Stille wurde ihm unheimlich.
Schließlich fuhren sie an einer Haltestelle vorbei, deren Schild verrostet und verblichen war. Schnell stellte Oliver fest, dass er hier richtig war. Er rannte nach vorne zum Fahrer.
„Kann ich bitte hier aussteigen?“, fragte er.
Der Fahrer sah ihn mit müden, roten Augen an. „Drück auf Stopp.“
„Meinen Sie, ich soll…“
„Wenn du aussteigen willst, musst du den Knopf drücken“, wiederholte er.
Seufzend drückte Oliver auf die rote Taste und eine Glocke ertönte. Mit erhobenen Augenbrauen sah er den Fahrer an. „Kann ich jetzt aussteigen?“
„An der nächsten Haltestelle.“
Oliver war frustriert. „Ich muss aber hier aussteigen!“
„Dann hättest du früher drücken sollen.“
Verärgert ballte Oliver die Fäuste. Dann merkte er, wie der Bus langsamer wurde und neben einem Schild hielt, dass nur noch ein rostiges Rechteck war. Quietschend öffneten sich die Türen.
„Vielen Dank auch“, murmelte Oliver und stieg rasch aus. Auch aus der Nähe konnte er nicht lesen, was einst auf dem Schild gestanden hatte. Nur die Spitzen einiger Buchstaben ließen erahnen, dass die Schrift sehr altmodisch war.
Der Bus verschwand in einer Wolke aus Abgas. Sofort wurde Oliver bewusst, wie einsam und verlassen er jetzt war. Doch sowie er sich umdrehte, erschien ein sehr vertraut aussehendes Gebäude vor ihm. Es war das Gebäude aus seinem Buch! Er hatte Armando Illstroms Fabrik gefunden! Er hätte sie überall erkannt. Die Bushaltestelle musste damals, zur Blütezeit der Fabrik, den Arbeitern gedient haben. Jetzt war Oliver dankbar, dass der Busfahrer sich so stur gezeigt und ihn an genau der richtigen Stelle abgesetzt hatte.
Nur dass das Gebäude um einiges verfallener war, als Oliver gedacht hätte. In der langgezogenen Gebäudefront waren mehrere Fenster eingeschlagen. Es brannte kein einziges Licht und Oliver hatte nicht den Eindruck, dass sich irgendjemand dort aufhielt.
Was, wenn Armando doch bereits gestorben war? Ein Erfinder, der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges gearbeitet hatte, musste inzwischen wahnsinnig alt sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr am Leben war, war nicht gerade gering. Was würde Oliver machen, wenn er ihn nicht antreffen würde?
Ein Anflug von Verzweiflung wallte in ihm auf, als er auf das marode, alte Gebäude zuging. Aus der Nähe sah er, dass sämtliche Fenster im Erdgeschoss mit Brettern vernagelt waren. Eine riesige Eisentür, die einst der Haupteingang war, war mit einem dicken Schloss gesichert. Wie sollte er jetzt hineingelangen?
Langsam ging er an der Außenwand entlang, wobei er sich durch einen Dschungel von Brennnesseln und Efeu schlagen musste. An einem Fenster entdeckte er einen Spalt zwischen den Brettern. Er blickte hinein, aber es war zu dunkel um etwas zu erkennen. Immer weiter ging er, bis er an der Rückseite der Fabrik angekommen war. Dort befand sich ein weiterer Eingang. Anders als der Haupteingang, war dieser Hintereingang nicht abgesperrt. Im Gegenteil, sie stand sogar einen Spalt offen.
Mit klopfendem Herzen schob er sie weiter auf. Sie ließ sich nur langsam und schwerfällig bewegen. Dabei knarrte das verrostete Metall laut. Das war kein gutes Zeichen, dachte Oliver enttäuscht. Wenn man sie auch nur hin und wieder benutzte, dürfte sie nicht so eingerostet sein.
Dennoch drückte sich Oliver durch den Spalt hinein und fand sich auf einmal mitten in der Fabrik wieder. Seine Schritte hallten, es war pechschwarz und Olivers Augen brauchten ein paar Augenblicke, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er schien jedoch auf einmal viel intensiver hören und riechen zu können, was das fehlende Augenlicht kompensierte. Es roch nach Staub und Metall, wie es für verlassene Häuser typisch war.
Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, endlich besser sehen zu können. Langsam tastete er sich voran. Bald konnte er ein großes Gerät aus Holz und Metall ausmachen, das ihn an einen überdimensionalen Kochtopf erinnerte.
Er berührte die Seite und der Topf begann in seiner Metallfassung zu schwingen wie ein Pendel. Gleichzeitig drehte es sich. Oliver vermutete, dass es etwas mit der Kartierung des Sonnensystems und der Platzierung der einzelnen Planeten zu tun haben könnte, die um verschiedene Achsen rotierten. Was genau der Zweck dieses Geräts war, war ihm jedoch schleierhaft. Er ging weiter und fand bald das nächste merkwürdige Objekt. Es bestand aus einer Reihe von Metallstreben mit einer Art mechanischem Arm und einem Greifer in Form einer Hand. Oliver drehte an einem schweren Rad und der Arm begann, sich zu bewegen.
Sieht aus wie ein Arcade-Spiel, dachte Oliver.
Es bewegte sich wie einer dieser mechanischen Arme bei den Geräten, mit denen Kinder für eine Münze versuchen konnten, ein Spielzeug aus einem Glaskasten zu fischen. Nur dass dieses Gerät viel größer und bestimmt auch stärker war.
Oliver berührte die Finger der Greifhand. Sie hatten die gleiche Anzahl an Gelenken wie eine echte Hand und jedes Gelenk war erstaunlich beweglich. Oliver fragte sich, ob Armando Illstrom versucht hatte, einen Roboter zu bauen. Er hatte viel darüber gelesen; Roboter mit menschlichen Gliedmaßen, die dazu konzipiert wurden, bestimmte Bewegungen auszuführen, wie tippen oder stapeln.
Oliver ging weiter. Überall fand er großartige Maschinen, die still standen wie erstarrte Riesen. Die meisten waren aus Holz und Metall und bestanden aus vielen kleinen Einzelteilen wie Zahnräder, Drahtseile, Hebel und Flaschenzüge. Alles war mit Spinnweben und Staub überzogen. Oliver versuchte ein paar davon in Gang zu setzen und scheuchte dabei mehrere Insekten auf, die sich in den Nischen und Kanten der Maschinen eingenistet hatten.
Doch seine Begeisterung schwand, als Oliver bewusst wurde, dass die gesamte Fabrik tatsächlich verlassen und halb verfallen war. Der Staubschicht nach zu schließen war seit Jahrzehnten keiner mehr hier gewesen.
Mit zunehmendem Unbehagen eilte Oliver durch die ganze Fabrik und warf in jeden Raum einen kurzen Blick. Nichts deutete darauf hin, dass außer ihm noch jemand in dem riesigen Gebäude war. Hoffnungslos stand er in einer finsteren Lagerhalle, umgeben von den Hinterlassenschaften eines Mannes, den er zwar verehrte, aber niemals treffen würde. Dabei brauchte er Armando Illstrom so sehr. Er brauchte einen Retter, der ihm aus seiner Verzweiflung holen würde.
Aber das war nur ein Traum.
Und dieser Traum war gerade geplatzt.
*
Die gesamte Rückfahrt über rang Oliver mit seiner Enttäuschung. Er war sogar zu deprimiert um in seinem Buch zu lesen.
Als er an der richtigen Haltestelle angekommen war, stieg er auf die regennasse Straße. Schnell hatte der Regen ihn durchweicht, doch Oliver fühlte sich so niedergeschlagen, dass er es kaum wahrnahm.
Zu Hause angekommen fiel ihm wieder ein, dass er noch keinen eigenen Schlüssel zu seinem neuen Zuhause bekommen hatte. Er hatte keine andere Wahl als anzuklopfen und sich auf das gefasst zu machen, was ihn dort erwartete.
Die Tür wurde fast sofort geöffnet und Chris stand mit einem dämonischen Grinsen vor ihm.
„Du kommst zu spät zum Essen“, sagte er schadenfroh. „Mom und Dad sind fast ausgeflippt.“
Hinter Chris ertönte die schrille Stimmer seiner Mutter: „Ist er das? Ist das Oliver?“
„Ja! Und er sieht aus wie eine nasse Ratte!“, rief Chris zurück.
Oliver konnte ihm ansehen, dass er sich auf die Standpauke freute, die er von seinen Eltern bekommen würde. Er drückte sich an Chris vorbei und hinterließ kleine Pfützen im Gang.
Mom kam ihm entgegen und starrte ihn an, Oliver konnte nicht sagen, ob Wut oder Erleichterung in ihrem Blick zu lesen war.
„Hi Mom“, sagte er schwach.
„Wo hast du gesteckt? Sieh dich nur an!“
Falls sie wirklich erleichtert war, ihn zu Hause zu haben, dann konnte sie das gut verbergen. Jedenfalls nahm sie ihn nicht in den Arm. Das tat sie eigentlich nie.
„Ich musste nach der Schule noch etwas erledigen“, sagte Oliver ausweichend und zog seinen nassen Pullover aus.
„Streberklasse?“, stichelte Chis.
Mom streckte die Hand nach dem nassen Pullover aus. „Gib den her, ich wasche ihn. Jetzt komm endlich rein, dein Essen wird kalt.“ Sie seufzte.
Sie drängte Oliver durchs Wohnzimmer, aber er merkte sofort, dass seine Sachen nicht mehr dort waren, wo er sie hinterlassen hatte. Jemand hatte sie bewegt. Zuerst dachte er, dass es an der Matratze lag, die sein Vater anscheinend für ihn in die Nische geschleppt hatte und dann alles einfach darauf abgelegt hatte, aber dann sah er die Steinschleuder zerbrochen auf seiner Decke liegen und den Deckel seines Koffers offenen stehen. Voller Schreck fiel sein Blick auf die Rädchen und Materialien, die völlig verbogen und verdreht auf dem Boden verteilt waren und aussahen, als wäre jemand darauf herumgetrampelt. Sein geheimes Projekt!
Er wusste sofort, dass Chris es getan hatte. Wütend funkelte er ihn an. Sein Bruder machte ein unschuldiges Gesicht. Bestimmt hatte er sich auf Olivers Reaktion gefreut.
„Du warst das!“, zischte Oliver.
Chris steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich auf die Absätze wie die Unschuld in Person. „Keine Ahnung, wovon du redest“, sagte er und unterdrückte ein Grinsen.
Das war zu viel! Nach allem was sich in den vergangenen Tagen zugetragen hatte, konnte Oliver sich nicht mehr zurückhalten. Er explodierte.
Ohne nachzudenken warf er sich auf seinen Bruder. Der kam nur leicht aus dem Gleichgewicht, einerseits weil er so groß und stark war, andererseits weil er mit Olivers Attacke gerechnet hatte. Er lachte dreckig und schob Oliver mit einer Hand von sich.
Oliver schlug blind um sich, traf seinen Bruder jedoch nicht.
„SCHLUSS DAMIT! HÖRT JETZT AUF!“, rief Dad vom Esstisch.
„Ich mache gar nichts! Oliver ist einfach ausgerastet!“, rief Chris zurück.
„Du weißt genau, was los ist!“, schrie Oliver und wirbelte seine Fäuste durch die Luft.
„Weil ich auf deine komischen kleinen Dinger getreten bin?“, knurrte er gerade so leise, dass die Eltern ihn nicht hören konnten. „Oder weil ich diese dämliche Schleuder kaputt gemacht habe? Du bist so ein Freak, Oliver!“
Oliver gab es auf, nach seinem Bruder zu treten.
„Ich HASSE diese Familie!“, schrie er.
Er rannte in seine Nische, sammelte die kaputten Spiralen und Platten ein und verstaute sie in seinem Koffer.
Mom und Dad waren aufgebracht.
„Was fällt dir ein!“, donnerte sein Vater.
„Nimm das zurück“, rief seine Mutter.
„Das war endgültig zu viel“, sagte Chris und grinste fiese.
Während seine Familie auf ihn schimpfte, wusste Oliver, dass es nur einen Ort gab, an den er flüchten konnte – seine Traumwelt.
Er schloss die Augen und blendete ihre Stimmen aus.
Plötzlich war er wieder in der Fabrik. Nur war sie diesmal nicht düster und es gab dort auch keine Spinnweben. Sie war sauber und die Maschinen funkelten im hellen Licht.
Oliver staunte über diese Herrlichkeit. Aber wie zuvor begrüßte ihn dort kein Armando Illstrom. Kein Verbündeter. Kein Freund. Selbst in seiner Fantasie war er mutterseelenallein.
*
Als alle ins Bett gegangen waren, wurde es still im Haus. In der Stille beruhigte sich Oliver bald und er versuchte, seine Schätze zu reparieren. Es war hoffnungslos. Sie waren einfach zu kaputt. Er konnte sie nicht mehr retten, was hieß, dass er wieder von ganz vorne beginnen musste.
Er warf die Teile in seinen Koffer und donnerte ihn zu. Doch weil jetzt beide Verschlüsse kaputt waren, federte der Deckel direkt wieder auf. Oliver ließ sich seufzend auf seine Matratze fallen und zog die Decke über den Kopf. Erschöpft schlief er ein. Sein Traum begann damit, dass er aus seinem Fenster auf den kahlen Baum blickte. Dort standen wieder der Mann und die Frau, die er dort schon in der Nacht zuvor gesehen hatte. Schweigend hielten sie sich an den Händen.
Oliver trommelte an die Scheibe.
„Wer seid ihr?“, rief er.
Die Frau lächelte verständnisvoll. Ihr Lächeln war warm und freundlich; sogar noch freundlicher als Mrs. Belfrys Lächeln.
Doch keiner der beiden sagte etwas. Sie standen nur da und lächelten.
Oliver öffnete das Fenster. „Wer seid ihr?“, rief er noch einmal, doch diesmal ging seine Stimme im Wind unter.
Keine Antwort. Sie sahen ihn nur einladend an.
Als Oliver durch das Fenster klettern wollte, begannen die Figuren zu flattern und zu zucken, als wären sie Hologramme, die unter der flackernden Straßenlaterne langsam verschwanden.
„Wartet!“, rief er. „Wartet auf mich!“
Er stürzte sich halb aus dem Fenster und rannte über die Straße. Mit jedem seiner Schritte verblassten sie mehr.
Als er endlich bei ihnen ankam, waren sie kaum mehr zu sehen. Er griff nach der Hand der Frau, aber seine Hand glitt durch sie hindurch, als wäre sie nur ein Geist.
„Bitte sagt mir, wer ihr seid!“, bettelte er.
Der Mann öffnete den Mund, aber Oliver hörte nicht, was er sagte. Er wurde immer verzweifelter.
„Wer seid ihr? Warum beobachtet ihr mich?“, rief er noch einmal.
Der Mann und die Frau waren jetzt fast nicht mehr zu sehen. Wieder sagte der Mann etwas und diesmal hörte Oliver ein leises Flüstern.
„Du musst deinem Schicksal folgen…“
„Was?“, stammelte Oliver. „Was meint ihr? Ich verstehe nicht…“
Doch bevor sie noch etwas sagen konnten, verschwanden sie endgültig.
„Nein! Kommt zurück!“, rief er in den Wind.
Und auf einmal, als würde sie ihm ins Ohr flüstern, hörte Oliver die Stimme der Frau. „Du wirst die Menschheit retten.“
Oliver öffnete die Augen. Er lag wieder auf der Matratze in seiner Nische. Blaues Morgenlicht fiel durch das Fenster und glitzerte auf seiner schweißnassen Stirn. Sein Herz hämmerte wie wild. Der Traum hatte ihn tief berührt. Was hatte er zu bedeuten? Welchem Schicksal sollte er folgen und wie sollte ausgerechnet er die Menschheit retten? Wer waren die beiden überhaupt? Gab es sie wirklich oder waren sie ein Produkt seiner Fantasie? Oliver wusste nicht was er glauben sollte.
Bald hatte sich die erste Verunsicherung gelegt. Ein vollkommen neues Gefühl keimte in Oliver auf.
Hoffnung.
Plötzlich hatte er das Gefühl, dass ein bedeutungsvoller Tag vor ihm lag und dass sich die Dinge sehr bald ändern würden.
KAPITEL VIER
Olivers gute Laune wurde noch besser, als sich herausstellte, dass er in der ersten Stunde Physik bei Mrs. Belfry hatte. Selbst als er zügig über den Pausenhof ging und dabei den Bällen auswich, die ihm um die Ohren flogen, hielt seine Begeisterung an.
Er kam zum Treppenhaus und fügte sich in den Strom von Kindern ein, die ihn in den vierten Stock schwemmten. Dort löste er sich aus der Masse und ging leichtfüßig die letzten Schritte zum Klassenzimmer.
Er war der erste an diesem Morgen und sah Mrs. Belfry in ihrem braunen Baumwollkleid, wie sie vor ihrem Pult stand, auf dem eine Reihe von Modellen aufgebaut war: ein Heißluftballon, eine Rakete, ein Flugzeug und ein Doppeldecker.
„Geht es heute ums Fliegen?“, fragte Oliver fröhlich.
Mrs. Belfry, die ihn nicht hatte kommen hören, zuckte zusammen.
„Ach Oliver, du bist es! Guten Morgen!“, sagte sie. „Ja, das ist richtig. Ich nehme an, du weißt schon einiges darüber?“
Oliver nickte. In seinem Erfinderbuch gab es ein ganzes Kapitel über das Fliegen, von den ersten Heißluftballons, die die beiden Montgolfier-Brüder in Frankreich erfunden hatten, über die frühen Flugzeuge der Wright-Brüder, bis hin zur modernen Raumfahrttechnik. Auch diesen Teil hatte er so oft gelesen, dass er den Text fast auswendig kannte.
Mrs. Belfry lächelte Oliver zufrieden zu.
„Vielleicht kannst du mir helfen, es den anderen zu erklären“, sagte sie.
Mit rotem Kopf setzte sich Oliver an seinen Platz. Er sprach nicht gerne vor den anderen Kindern, vor allem, wenn er ohnehin schon Gefahr lief, als Streber abgestempelt zu werden. Er legte eigentlich keinen gesteigerten Wert darauf, diesen Ruf noch zu bestätigen. Doch Mrs. Belfrys Lächeln sagte ihm, dass Oliver sich nicht für sein Wissen schämen, sondern stolz darauf sein sollte. Er hatte sich einen Platz in der ersten Reihe ausgesucht. Wenn er schon vor den anderen reden musste, dann sollten sie ihn wenigstens nicht schief über die Schulter ansehen. Außerdem würde er so nur die Blicke der anderen Kinder in der ersten Reihe zu sehen bekommen. Was hinter seinem Rücken geschah, war ihm egal.
Schon strömten die anderen Kinder in den Raum. Es wurde lauter. Oliver hatte noch nie verstanden, wie die anderen so viel zu reden hatten. Er konnte zwar endlos lange über Erfindungen und Wissenschaft reden, aber abgesehen davon hatte er nicht viel zu sagen. Er verstand auch nicht, warum die anderen ständig über Dinge reden wollten, die im Grunde völlig unbedeutend waren.
Mrs. Belfry hielt die Arme in die Höhe, um die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich zu ziehen. Es dauerte eine Weile, bis alle still wurden. Nie hätte sie ihre sanfte Stimme erhoben, deswegen ging leider viel Zeit verloren, bis sie endlich anfangen konnten.
„Heute habe ich ein Problem, das wir zusammen lösen werden“, begann sie und hielt ein Holzstäbchen in die Luft. „Wer hat eine Idee, wie wir es schaffen können, dass das hier fliegt?“
Gemurmel machte sich breit.
„Werfen sie es einfach!“, rief eine Stimme aus den hinteren Reihen.
Mrs. Belfry warf es. Es flog kaum einen Meter, bevor es zu Boden segelte.
„Das sah für mich eher nach fallen aus. Ich möchte, dass es fliegt.“
Paul, der Junge, der sich in der letzten Stunde über Oliver lustig gemacht hatte, meldete sich zu Wort. „Schießen Sie es mit einem Gummiband, dann fliegt es weiter.“
Mrs. Belfry nickte. „Gar keine schlechte Idee. Aber das hier ist nur ein Modell. Der echte Pfahl ist drei Meter lang.“
„Dann bauen Sie ein Katapult!“, rief jemand anderes.
„Oder einen Düsentrieb“, rief eine weitere Stimme.
Die Kinder lachten, aber Mrs. Belfry brachte schnell wieder Ruhe in die Klasse.
Oliver rutschte auf seinem Stuhl herum. Er wusste genau, wie man das Stäbchen zum Fliegen brachte. Man musste nur schlichte physikalische Gesetze anwenden.
„Genau dieses Problem mussten die Brüder Wright lösen, als sie das erste Flugzeug der Welt bauen wollten. Sie mussten den Flug der Vögel nachahmen. Sie mussten aus dem hier“ – sie hob das Stäbchen in die Luft – „Flügel machen, mit denen man fliegen kann. Weiß irgendjemand, wie das funktioniert?“
Ihr Blick wanderte zu Oliver. Er schluckte. Einerseits wollte er wirklich nicht vor der ganzen Gruppe reden, andererseits wollte er Mrs. Belfry beweisen, wie schlau er war.
„Man muss Auftrieb erzeugen“, sagte er leise.
„Was hast du gesagt?“ Mrs. Belfry forderte ihn auf, es noch einmal laut für alle zu wiederholen, obwohl sie ihn ganz sicher verstanden hatte.
Zögerlich wiederholte er seine Antwort. Sowie er es gesagt hatte, lief er rot an. Er spürte förmlich in seinem Rücken, wie dreißig Augenpaare ihn anstarrten.
„Was genau ist Auftrieb?“, fragte Mrs. Belfry weiter.
Oliver befeuchtete seine trockenen Lippen und schluckte seine Beklommenheit herunter. „Auftrieb nennt man die Kraft, die der Schwerkraft entgegenwirkt. Schwerkraft zieht alle Objekte zum Erdmittelpunkt und Auftrieb wirkt entgegengesetzt.“
Von irgendwo hinter sich hörte er Pauls leise Stimme, wie er ihn nachäffte. „Auftrieb wirkt entgegengesetzt.“
Als sich Gekicher breitmachte, verspannten sich Olivers Nackenmuskeln.
Mrs. Belfry hatte offensichtlich nichts mitbekommen.
„Aha“, sagte sie, als wäre die Information neu für sie. „Das klingt kompliziert. Wie kann man denn der Schwerkraft entgegenwirken? Ist das überhaupt möglich?“
Oliver rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum. Er wollte nichts mehr sagen, das ihnen noch mehr Angriffsfläche bot, aber außer ihm wusste scheinbar keiner die Antwort. Mrs. Belfry sah ihn aufmunternd an.
„Das ist überhaupt nicht kompliziert“, sagte Oliver schließlich, „um Auftrieb zu erzeugen, muss man regulieren, wie schnell die Luft um ein Objekt strömt. Das erreicht man, indem man die Form des Objekts ändert. Für Ihr Stäbchen bedeutet das, dass Sie einen Kamm oder eine Kante auf die Oberseite kleben müssen. Wenn es sich vorwärts bewegt, strömt die Luft oben und unten in unterschiedlich geformten Linien. Oben ist die Linie gebogen, unten glatt, also nicht unterbrochen.“
Oliver beendete seine Erklärung und presste die Lippen aufeinander. Er hatte nicht nur die Frage beantwortet, sondern das ganze Phänomen erklärt. Das würde den anderen jede Menge Zündstoff bieten.
„Könntest du das für uns aufzeichnen?“, fragte Mrs. Belfry.
Sie hielt Oliver eine Kreide hin. Er sah sie mit großen Augen an. Erwartete sie wirklich, dass er vor allen an die Tafel ging, wie eine wandelnde Zielscheibe?
„Lieber nicht“, murmelte er.
Mrs. Belfry sah ihn verständnisvoll an. Wahrscheinlich hatte sie begriffen, dass er sich dabei nicht wohlfühlte, mehr noch, dass es für ihn fast unmöglich war.
„Vielleicht kann jemand anderes an die Tafel malen, was Oliver gerade erklärt hat“, forderte sie die Klasse auf.
Samantha, ein vorlautes Mädchen, das immer um Aufmerksamkeit heischte, sprang auf und kam nach vorne. Mit Mrs. Belfrys Hilfe malte sie, was Oliver beschrieben hatte.
Aber sobald sich Mrs. Belfry umdrehte, spürte Oliver etwas gegen seinen Hinterkopf fliegen. Er sah nach unten, wo ein zusammengeknüllter Zettel lag. Er versuchte, ihn zu ignorieren.
„Hey“, zischte Paul, „Nachricht für dich!“
Oliver seufzte, hob den Zettel auf und strich ihn glatt. Mit krakeliger Schrift stand darauf geschrieben Rate mal, was noch fliegen kann.
Schon spürte Oliver eine weitere Papierkugel an seinem Kopf. Und noch eine. Und noch eine.
„HEY!“, rief Oliver und sprang auf.
Mrs. Belfry drehte sich um. „Was ist hier los?“, fragte sie streng.
„Wir finden gerade heraus, welche Dinge noch fliegen können“, flötete Paul unschuldig. „Ich habe Oliver aus Versehen getroffen.“
Mrs. Belfry sah skeptisch aus. „Oliver?“, fragte sie und sah ihn eindringlich an.
Oliver setzte sich wieder und ließ den Kopf hängen. „So war es wohl“, sagte er leise.
Samantha beendete ihre Zeichnung und Mrs. Belfry wandte sich wieder der Klasse zu. Sie zeigte auf die Tafel, wo jetzt ein Diagramm von einem Flügel zu sehen war, der nicht gerade, sondern gebogen war, wie ein Tropfen, der auf der Seite lag. Zwei Strichlinien zeigten die Luft an, die einmal gerade unter dem Flügel entlanglief und einmal gebogen an der Oberseite.
„Etwa so?“, fragte Mrs. Belfry. „Ich verstehe immer noch nicht, wie das Auftrieb erzeugt.“
Oliver war klar, dass Mrs. Belfry sehr genau Bescheid wusste. Er hätte gern geantwortet, aber da er bereits mit Papierkügelchen bombardiert worden war, zögerte er.
Auf einmal wurde ihm etwas klar. Egal was er tat oder sagte, es würde Paul und die anderen nicht davon abhalten, sich über ihn lustig zu machen. Entweder würde er sich zurückhalten und ohne jeden Grund fertig gemacht werden, oder er beteiligte sich am Unterricht und würde für seine Intelligenz bestraft werden. Die Wahl war nicht schwer.
„Auch wenn die Luft zwei verschiedenen Bahnen folgt – wie hier – dann wirkt die Schwerkraft nach wie vor nach unten“, begann er. „Aber wenn man Isaac Newtons drittes Bewegungsgesetz heranzieht – nämlich dass jede Kraft eine gleichwertige Gegenkraft erzeugt – dann wird klar, dass als Gegengewicht zu dieser nach unten wirkenden Kraft der Luftzug unter dem Flügel Auftrieb erzeugt.“ Er kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
Mrs. Belfry sah ihn triumphierend an. „Das ist absolut richtig, Oliver.“
Sie drehte sich wieder um und setzte ein paar Pfeile in die Zeichnung ein. Oliver spürte eine Papierkugel an seinem Kopf, aber diesmal reagierte er gar nicht. Es war ihm egal, was seine Klassenkameraden über ihn dachten. Wahrscheinlich waren sie nur neidisch, dass er coole Sachen wusste, wie Isaac Newtons Grundgesetze der Bewegung, während sie nur zerknülltes Papier durch die Luft schießen konnten.
Er schlang die Arme fester um sich und ignorierte, was ihn alles traf. Stattdessen konzentrierte er sich auf Mrs. Belfrys Zeichnung. Neben einen nach unten zeigenden Pfeil schrieb sie abwärts gerichtete Kraft, neben einen nach oben gerichteten Pfeil schrieb sie aufwärts gerichtete Kraft.
„Was ist mit Heißluftballons?“, rief jemand von hinten. „Die funktionieren nicht so, fliegen aber trotzdem!“
Oliver drehte sich nach der Stimme um. Sie gehörte einem mürrisch aussehenden Jungen mit dunklen Augenbrauen und einem tiefen Grübchen im breiten Kinn. Er hatte zusammen mit Paul die Papierkügelchen geworfen.
„Da geht es um ein ganz anderes physikalisches Gesetz“, erwiderte Oliver, „Der Ballon fliegt, weil heiße Luft aufsteigt. Die Montgolfier-Brüder, die den Heißluftballon erfunden haben, haben festgestellt, dass die heiße Luft den Ballon zum Steigen bringt, wenn sie im Inneren gesammelt wird und die Außenluft kälter ist.“
Jetzt sah der junge noch mürrischer aus. „Und Raketen? Die gehen ohne Flügel und ohne Ballon in die Luft. Wie funktioniert das, Herr Superschlau?“
Oliver lächelte. „Wieder Newtons drittes Gesetz, nur dass diesmal Antrieb anstatt Auftrieb wirkt. Antrieb ist das gleiche Prinzip, das auch bei einem Dampfmotor wirkt. Eine kontrollierte Explosion an einem Ende verursacht Bewegung in die andere Richtung. Aber da eine Rakete bis ins Weltall fliegen soll, muss die Explosion massiv sein.“