Kitabı oku: «Das Trauma des "Königsmordes"», sayfa 10

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Eine düstere Stimmung liegt am 21. Januar 1793 über Paris. Man bewegt sich langsam und wagt es kaum, sich in die Augen zu schauen, wie ein zeitgenössischer Beobachter berichtet. Alle Geschäfte sind geschlossen, und eine »schreckliche Stille« lastet auf den Straßen. Trotz der in ihr enthaltenen späten Interpretation und des karrikierenden Untertons widerspiegelt die Kindheitserinnerung J.G. Millingens treffend die Empfindung vieler der Bewohner der Hauptstadt an jenem Tag. Er beschreibt seinen Begleiter, »dessen demokratischen Energien nun durch die Feierlichkeit des Tages gedämpft waren, und der trotz seiner Anstrengungen, gleichgültig zu erscheinen, dann und wann schluchzte und sich eine herunterrollende Träne abwischte«.90 Wir erwähnen diese individuelle Impression, weil sie deutlich macht, wie viele Jahre nach dem akuten Ereignis sowohl die seinen Akteuren eigene Ambivalenz als auch die auf diese bezogene ideologische Stellungnahme noch immer motivisch durchschimmern: Die beschriebene Person bezahlt ihre demokratischen Neigungen mit Leid und Trauer; hätten diese Neigungen nicht die Hinrichtung des Königs gezeitigt, so würde es sich auch erübrigen, ihn beweinen zu müssen. Die dialektische Umkehrung dieser Deutung würde ergeben, daß die Chance für die mögliche Emanzipation nur um den Preis des mit der Loslösung von den traditionellen Bindungen einhergehenden Schmerzes erreichbar wird. Auf diesem Weg gibt es eben kein Entrinnen vor der erforderlichen Durchbrechung der Tabuschranken.

Bis zum letzten Augenblick kann Cléry, der treue Diener des Königs, nicht glauben, daß man das Unberührbarkeitstabu übertreten werde. »Hoffen Sie, Sire,« sagt er zu Ludwig, »man wird nicht wagen, Sie anzutasten.«91 Jahrzehnte später überkommen den deutschen Historiker Ludwig Stacke ähnliche Empfindungen, als er die Situation an der Guillotine beschreibt: »Als ihn [Ludwig] die Henker ergriffen, um ihm das Sünderkleid anzuziehen, die Haare abzuschneiden und die Hände auf den Rücken zu binden, stieß er sie anfangs zurück, fügte sich aber auf die Erinnerung, daß sich auch Christus willig habe binden lassen, und daß er dadurch dem Heilande ähnlicher werde.«92 Die aggressive Berührung wird also nur mittels einer Analogie, welche Ludwig indirekt die Funktion des von Jesus dargebrachten Erlösungsopfers zuschreibt, faßbar, d.h. durch die sozusagen vorgezogene Wiederbelebung des zu »ermordenden« Vater-Königs. Das Haar des Königs, jener geheiligte und tabuisierte Körperteil der Herrscher früherer Kulturen, erhält in diesem Zusammenhang eine besondere symbolische Bedeutung: Ludwig bittet darum, seine Haare selber schneiden zu dürfen, wie Furet und Richet bemerken, aber man verweigert es ihm und besteht auf den öffentlichen Vollzug dieses Aktes durch den Henker. Carlyle hebt gar hervor, daß Locken vom geschnittenen königlichen Haar nach der Enthauptung verkauft werden.93 Das Attribut der Macht, das dem Haar seit dem Samson-Mythos zugeschrieben wird, seine Symbolik als Bestandteil jugendlicher Kraft und seine allegorische Bedeutung als Auflehnungsemblem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch die Assoziationen, die das Schneiden des Haars als Demütigungsakt in repressiven Situationen begleiten, bezeugen seine metaphorische Funktion als Ausdruck der Macht und der Heiligkeit in verschiedenen Zusammenhängen. Das öffentliche Schneiden der Haare des gestürzten Monarchen dient den Revolutionären demnach als eine quasi kultische Demonstration ihrer neuerdings erlangten Macht. Wenn sich das Unberührbarkeitstabu des Haars übertreten läßt, wird es nicht zu schwer sein, den nächsten Schritt zu vollziehen und das nunmehr entmachtete Haupt abzuköpfen. Der König selber ist sich offenbar der symbolischen Bedeutung der Situation wohl bewußt; noch in seinen letzten Augenblicken widersetzt er sich der Tabuübertretung. Edgeworth, Ludwigs Beichtpriester, berichtet, wie die Henkersknechte versuchen, den Monarchen zu fesseln. Er fragt sie, was sie vorhätten. Auf ihre Antwort hin, sie wollten seine Hände binden, reagiert er entrüstet: »Mich binden […]. Nein! Ich werde dies niemals zulassen: Tut, was ihr zu tun habt, aber ihr werdet mich niemals binden…«.94

Es stellt sich indes heraus, daß die Übertretung des Unberührbarkeitstabu auch die Kehrseite des von den Revolutionären verfolgten Zwecks zum Vorschein bringt. Das Blut des enthaupteten Herrschers erweckt das Entsetzen der um die Guillotine versammelten Massen. »Noch ist der Königsmythos nicht tot« deutet Göhring. »Dem Blut eines französischen Königs entströmt magische Kraft, denn er gilt als ein Gesalbter Gottes.«95 Der von Jacques Roux am Hinrichtungstag verfaßte Bericht vermerkt: »Sein Kopf fiel. Die Bürger tauchten ihre Piken und ihre Taschentücher in sein Blut.«96 Der Akt, der den Königsgedanken ausmerzen soll, erweckt spontan das Bedürfnis, sein Gedenken zu wahren; die kultische Tat zur Wahrung des Gedenkens symbolisiert widerum beide Aspekte der Ambivalenzempfindung: Einerseits drücken sich Bewunderung und Ehrfurcht durch die Erhöhung des königlichen Blutes zur Reliquie aus; andererseits exemplifiziert das Tauchen der Waffen in eben dieses Blut die gewalttätige Aggression.

Wir erinnern daran, daß dies auch die dem Stamm nach Beendigung der Totemmahlzeit zeremoniell auferlegten Reaktionen sind. Interessant ist demnach Stackes Assoziation bei der Beschreibung der Reaktion der Masse, als der Kopf des Königs durch den Henker hochgeschwungen wird: »Kannibalisches Gebrüll erscholl ringsrum und setzte sich weithin in die Stadt fort.«97 Göhring spricht von einer »Bewegung des Entsetzens«, die durch Tausende gegangen sei, Edgeworth erinnert sich an eine »ehrfurchtserregende Stille im ersten Moment«, und der Augenzeuge Philippe Pinel berichtet von einer »finsteren Bestürzung«, die sich plötzlich verwandelt habe; »Es lebe die Nation!« und »Es lebe die Republik!« klingt es nun von überall her, und ein Freuden- und Siegestaumel verbreitet sich, während »man im Reigen um das Schafott« tanzt.98 Dieser Übergang von der einen emotionalen Reaktion zur konträr entgegengesetzten erinnert aufs deutlichste an das stilisierte Ambivalenzverhalten im altertümlichen Totemkult. In der konkreten Situation ermöglicht er zweifelsohne die Entladung des psychologischen Drucks und der Spannung, welche über die Bevölkerung von Paris seit der Entscheidung über die Hinrichtung des Königs bis zu deren Vollzug lastet: »Ohne Leid und Tränen, aber doch mit instinktiver Angst und leicht unruhig erwartet, ersehnt man nur den Augenblick, wo es vorbei ist«, wie es Gascar formuliert.99 Die Revolutionäre, die die Liquidierung des Königs anstreben, fürchten seinen (amts)charismatischen Einfluß bis zum letzten Augenblick; als Ludwig den Versuch unternimmt, die um die Guillotine versammelten Zuschauer noch einmal anzusprechen, beginnen die Trommler auf Anweisung Santerres zu trommeln, und des Königs Stimme geht im ohrenbetäubenden Lärm unter.

Die Tat ist vollbracht, der König ist tot; ein Gefühl der Erleichterung bemächtigt sich der politischen Führer. Konservative Historiker, die sich bei der Verarbeitung des »Königsmordes« selber schwer tun, erfassen für gewöhnlich die psychologische Bedeutung dieser Erleichterung nicht. Der Umstand, daß am Abend nach dem »schrecklichen Morde« die Schauspielhäuser gedrängt voll waren, klingt bei Stacke zum Beispiel so, als habe man darin den schlagenden Beweis für die Empfindungslosigkeit und Grausamkeit der »Königsmörder« zu sehen. Carlyle, der sich auf den gleichen Tatbestand bezieht, scheint da etwas einsichtiger zu sein: »Abends in den Kaffeehäusern […] drückten die Patrioten einander noch herzlicher die Hand als sonst. Erst einige Tage nachher […] sah man ein, wie gewichtig die Sache war.«100 Gerade das Bedürfnis, zusammen zu sein, das Bedürfnis nach der Nähe der an der Tat Mitbeteiligten und nach der momentanen Bestärkung durch den noch mehr »als sonst« herzlichen Händedruck bezeugen das noch unklare Gefühl der »Brüdergemeinschaft«, daß sich etwas schicksalhaftes und bedrohliches zugetragen habe, etwas, das sich eben nicht anders als in der Gemeinschaft ertragen läßt. »Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich geblieben wäre«, bemerkt Freud in Beziehung auf den »Urvatermord«. Gleiches gilt für den 21. Januar 1793. Das Gemeinschaftsbedürfnis ist der Grund dafür, daß »in den Wintertagen, in denen sich die Hinrichtung des Königs vorbereitet, […] die politischen Aktivitäten aufgehoben, die Konflikte ausgestzt« scheinen; dieses Bedürfnis unterliegt auch der Wunschvorstellung des Freiwilligen Maurin in einem Brief aus der Armee eine Woche nach dem Ereignis: »Der Tyrann lebt nicht mehr, und die Bürger, die über sein Schicksal gespalten waren, sind alle einig […]«; Bouloiseau stellt also zurecht einen Zusammenhang zwischen Einigkeitsgefühl und Schuldbewußtsein her: »In diesem oder jenem Maß empfanden die Königsmörder Reue, ein Bedürfnis, sich im nachhinein zu rechtfertigen, und hatten das Gefühl, gegen göttliches Recht verstoßen zu haben. Ein Solidaritätsgefühl einigte sie nun.«101

Praktisch hielt diese Einheit jedoch nicht allzu lange an: In der Freudschen Hypothese des vorgeschichtlichen »Urverbrechens« wurden die Brüder nach der Liquidierung des Vaters zu Gegnern, die um die nunmehr freigewordene »Beute« der Horde konkurrierten; keiner sei indes stark genug gewesen, um die Rolle des Vaters mit Erfolg übernehmen zu können. Freud folgert daher, daß sich die Brüder zuletzt selber auferlegten, sich der inneren Herrschaft und der Paarung mit den Weibchen der Horde zu enthalten. Dies habe – »vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle«, wie er einfügend bemerkt – sowohl das Inzesttabu als auch das sozial begründete Verbot des Brudermordes durch die »Heiligung des gemeinsamen Blutes« zufolge gehabt.102

Analog läßt sich die Französische Revolution als eine Art Reproduktion des archetypisch konstruierten vorgeschichtlichen Ereignisses darstellen. Die Spaltung zwischen den Revolutionären, die schon während des Prozesses des Königs zutage kam, vertieft sich nun, nachdem die traditionelle Autorität endgültig vernichtet worden ist, zunehmend, und »schwere Zwischenfälle« ereignen sich in der Form eines blutigen Kampfes um das Recht, die neue Autorität verkörpern zu dürfen – ein Kampf, der in unterschiedlichen Varianten bis zum Erscheinen eines neuen Herrscher-«Vaters« in der Gestalt Napoleon Bonapartes andauert. Antirevolutionäre Historiker pflegen in dieser vom »Königsmord« abgeleiteten Entwicklung ihren kleinen Trost zu finden. Ludwig Stacke aktiviert gar Gottes Rache gegen die »Königsmörder«: »[…] der dämonische Geist, der sie zu Strafwerkzeugen in der Hand des Höchsten machte, hat sie auch gegen einander getrieben, daß sie sich in blutiger Verfolgung gegenseitig zu Tode hetzten.« Solche pseudoreligiös und apokalyptisch gefärbten Bilder sind für viele der Revolutionsdarstellungen charakteristisch, die im ideologischen Postulat fußen, daß es die Auflehnung gegen die legitime herkömmliche Autorität gewesen sei, welche den eigentlichen katastrophenträchtigen Grund für den grausamen Bruderkrieg, der infolge der nach dem Tod des Königs aktiver werdenden Konterrevolution ganz Frankreich erfaßte und den revolutionären Terror hervorbringen mußte, abgegeben habe.103

Den nahezu unumgänglichen Preis, den historische Kollektive dafür zahlen müssen, daß sie keine solche Auflehnung in ihrer Geschichte aufzuweisen haben, werden wir weiter unten noch durchleuchten können. Es sei jedoch schon hier angemerkt, daß sowohl die Historiker, welche die sich gegenseitig bekämpfenden »Königsmörder« mit Schadenfreude rezipieren, als auch diejenigen, welche die inneren Kämpfe der Revolutionäre von den der Hinrichtung des Königs inhärenten Auswirkungen ideologisch steril auseinanderhalten, an der mentalen Komplexität des Emanzipationsprozesses vorbeigehen und somit den wahren, ihm eigenen revolutionären Heroismus außer acht lassen. Berger und Luckmann, die die Legitimaion institutionalisierter Ordnung und die ihr auferlegte konstante Notwendigkeit, sich mit dem Chaos als alternativer Möglichkeit auseinanderzusetzen, erörtern, erinnern daran, daß die Verwirklichung der »konstanten Möglichkeit« des gesetzlosen Terrors sich immer dann nähert, wenn besagte Legitimation bedroht ist oder tatsächlich zusammenbricht: »Die Furcht, die den Tod eines Königs begleitet, besonders wenn er plötzlich und gewaltsam eintritt, zeugt von der Möglichkeit solchen Terrors. Oberhalb und jenseits aller Sympathiegefühle und pragmatischer politischer Belange, bringt der gewaltsame Tod eines Königs das Chaos in die Reichweite des Bewußtseins.«104 In diesem Sinn wirkt Robiquets Bemerkung, man sei nach Ludwigs Tod schnell zur Tagesordnung übergegangen, simplifizierend; und in eben diesem Sinn scheint uns die Schlußfolgerung von Furet und Richet, jenes »Schweigen eines ganzen Volkes beim Tod seines Königs« beweise, »wie tief der Bruch mit der jahrhundertealten Empfindungen der Menschen« schon gewesen sei, vorschnell zu sein.105 Wir sind der Auffassung, daß »sogar die Montagnards […] sich um die Zukunft [ängstigten]«, wie Bouloiseau herausstreicht, und daß also Vovelles erkenntnisreicher Deutung zuzustimmen sei: »Die Franzosen haben den Tod ihres Königs/Vaters/Helden auf verschiedenen Ebenen des Bewußtseins und der Wahrnehmung erlebt. […] Nach dem Verschwinden dieses schicksalsträchtigen Mannes sind zunächst Ersatzidole aufgetaucht, auf die sich die Sicherheitsbedürfnisse der revolutionären Bourgeoisie und von Teilen des Volkes projiziert haben.«106

Fügt man Stackes Bemerkung, daß drei Tage nachher niemand mehr »von dem schrecklichen Morde« gesprochen, Maurins Behauptung, daß sein Tod nicht einmal Mitleid hervorgerufen habe, und daß man nur noch von ihm rede, »um ihm die Ermordung des wackeren Pelletiers vorzuwerfen«, und die Einschätzung Philippe Pinels, daß man das »große Ereignis« entstellen werde, »so daß die Wahrheit bald aus dem Bewußtsein verschwunden sein wird«107, zusammen, so läßt sich die Komplexität der intensiven Verdrängung des traumatischen Erlebnisses, mit deren Hilfe sich viele der Zeitgenossen gegen die mit der Königstötung verbundenen Schwierigkeit der Ambivalenz wehren, widerspiegeln. So wird dem Abgeordneten Lepeletier, der wegen seiner Befürwortung der Hinrichtung des Königs am 20. Januar ermordet wurde, der Rang eines Sühneopfers beigemessen. Ulrich Gumbrecht erörtert dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Untersuchung der Marats Heiligung durch die Revolutionäre einwohnenden Logik: »[…] wenn als historisches Gesetz die Annahme gelten konnte, daß bedeutunde Ereignisse der Revolution […] stets durch den Tod eines Revolutionärs ›bezahlt‹ werden mußten, wie die Exekution des Königs durch die Ermordung des im Sommer 1793 bereits zum Märtyrer kanonisierten Lepeletier, dann war Marats Größe durch die seinem Tod vorausgehende ›Säuberung‹ des Konvents und durch die Verabschiedung einer neuen Konstitution erwiesen.«108 Es erhebt sich freilich die Frage: Wem muß man den Preis des »bedeutenden Ereignisses« bezahlen? Die Antwort ist: Dem Gewissen, dem Über-Ich, in dem sich jene Autorität, gegen die sich die Revolutionäre auflehnen, eingenistet hat. Paradoxerweise wird so Lepeletier zum Opfer, durch das die Revolutionäre/Söhne den »Mord« am König/Vater »sühnen«. Es stellt sich heraus, daß es leichter ist das königliche Haupt in der Wirklichkeit zu guillotinieren, als sich von ihm in der psychischen Realität zu trennen. Maurin, der junge Soldat, drückt demnach wohl am eindringlichsten sowohl die Schwierigkeit als auch die Hoffnung, die sich aus der neuen Situation ergeben, aus; im selben Brief, in dem es heißt, der König sei kein Gesprächsthema mehr, bemerkt er auch, daß das Volk, »das kräftig die Freiheit begehrt«, die mit dieser Freiheit einhergehenden Sitten noch nicht kenne und noch alle Male an sich trage, »die ihm seine alte Sklaverei gelassen habe«, um dann aber hinzuzufügen: »[…] die Mehrheit, die den Mut gehabt hat, von all den Gefahren umstellt, die ihr zu drohen schienen, für den Tod zu stimmen, ist imstande, etwas zu schaffen. Ich setze die größte Hoffnung auf sie.«109

In ihrem Versuch, die kollektiv-psychische Funktion der Revolutionsfeste und -feiern zwischen den Jahren 1789 und 1799 zu ergründen, unterscheidet Mona Ozouf zwischen »erlebtem Sinn« (sens vécu) und »gewolltem Sinn« (sens voulu). Ihre zentrale These hierbei ist, daß diese Einrichtungen den Sieg des durch Wunschvorstellungen der Realität beigemessenen Sinns über den durch die Einwirkungen objektiver Erlebnisse geprägten Sinnzuspruch ermöglicht und symbolisiert hätten.110 Gumbrecht bemerkt in diesem Zusammenhang, daß die Notwendigkeit hierfür aus dem Grunderlebnis der Revolutionäre resultiert habe, wonach die Zukunft nicht voraussehbar und demnach die Kontingenz der Aktivität der »anderen« zur Quelle der Furcht und Angst geworden sei, welche widerum zur Steigerung der Kontingenz selbst geführt habe.111 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß das Revolutionsdrama mit so vielen Geschehnissen und Begebenheiten von weitreichender Auswirkung angefüllt war, daß das Bedürfnis nach Bildung mentaler Mechanismen zur Auseinandersetzung mit der Dimension des in ihm verkörperten »Bruchs« zur Notwendigkeit werden mußte. Die Ungewißheit der Revolutionäre hatte die Entwicklung bestärkender Glaubenspattern zufolge, damit sie den kollektivpsychischen Stürmen der Ereignisse standhalten konnten.

Die Hinrichtung des Königs war in dieser Hinsicht ein archetypisches Ereignis, weil das mit ihm verbundene Verlusterlebnis an jene atavistischen Elemente rührt, die Freud als Quelle für die historische Werdung zivilisatorischer Einrichtungen (wie etwa der Religion) begreift. Wie oben, im Rahmen des komprimierten Abrisses der phylogenetischen Kulturtheorie, dargestellt, sieht er die Entstehung der Religion in der »Vatersehnsucht« und im von dessen gewalttätigen Beseitigung herrührenden Schuldbewußtsein begründet. In diesem Sinn ist die Religion als ein Mechanismus zu verstehen, der die irrationale Sühne jener Erbsünde ermöglicht, welche widerum der Befriedigung eines aus dem ungelösten Ambivalenzkonflikt entstandenen, ontogenetisch konstituierten Bedürfnisses nachkommt. So besehen verkörpert die Französische Revolution einen doppelten »Vatermord«: Nicht nur wird die traditionelle politische Autorität gestürzt, sondern es wird auch der Versuch unternommen, jene Institution zu entmachten, der die Funktion zukommt, die psychische Auseinandersetzung mit dem aus dem antiautoritären Akt hervorgehenden Schuldbewußtsein zu ermöglichen. Mehr noch: Da der exekutierte Herrscher ein »König von Gottes Gnaden« ist, symbolisiert das am 21. Januar 1793 geköpfte Haupt die Übertretung eines zweifachen Tabus: das gleichzeitige Vergehen gegen den König und gegen Gott selbst.

Viele Schichten des durch eine lange katholische Tradition geprägten französischen Volkes konnten eine Wende mit solch weitreichenden mentalen Implikationen nicht ertragen. Robespierre verstand dies wohl und bekämpfte die revolutionären atheistischen Strömungen, wobei er den Kult des Höchsten Wesens als eine Art Ersatz für die althergebrachte Religion zu etablieren versuchte. Auch dies half indes nichts. Die Französische Revolution schaffte es zwar, die Aureole der Monarchie von Gottes Gnaden zu zerstören, aber nicht Gottes Gnade Monarchie in den Sehnsüchten des einfachen Menschen zu beseitigen112; sie schaffte es nicht, jenen »Massenwahn«, wie er von Freud genannt wird, jene Sehnsuchtsüberbleibsel des Menschen nach einem erhöhten Vater, zu eliminieren.113

»Kann es einen überraschen, daß die Erklärung der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte durch die französische Konstituante am 26.August 1789 eine solche Verheerung anrichtete?« fragt Ullmann und fügt hinzu: »Der Boden war noch nicht reif für ein solches Denken, das vorläufig nichts mehr war, als akademische Spekulation: Der Einfluß der vorhergehenden rechtlichen und politischen Ideologie verwandelte solche weitreichende Erklärungen zu Instrumenten der Revolution, welche mit Gewalt eine Ordnung schuf, die keine historischen, sozialen oder politischen Wurzeln in der Vergangenheit hatte.«114 Demgegenüber vertreten wir die Auffassung, daß die Schlüsselereignisse der Revolution sehr wohl in der »Vergangenheit« verankert seien, daß sie gar die dramatischste Reproduktion der »Vergangenheit« in der Neuzeit darstellten; es kommt halt nur darauf an, von welcher »Vergangenheit« die Rede ist. Ullmann meint die evolutionäre Werdung des sich seit dem Mittelalter entwickelnden Europas; wir beziehen uns auf jenes prä- bzw. metahistorische revolutionäre Ereignis, das die Beseitigung der Vaterherrschaft und die Konstituierung der Brüdergemeinschaft zeitigte. Ullmann behauptet, die Brüder seien im Jahre 1789 für eine solche Umwälzung noch nicht reif gewesen, und daß die »Verheerung« demgemäß unabdingbar gewesen sei; wir behaupten, daß die Reife der Brüder nicht im Entscheidungsbereich des Historikers liegen könne – die Brüder erheben sich immer dann, wenn sie sich der unumwundenen Notwendigkeit einer Auflehnung bewußt werden. Das soll nicht besagen, daß dieser Prozeß leicht wäre; im Gegenteil: Es handelt sich um einen dermaßen gewaltsamen und elemantaren Vorgang, daß er an den psychischen Grundfesten des Menschen und der in ihnen verankerten Beziehung zur Welt rührt. Bei der Auflehnung gegen die Autorität ist der Ambivalenzkonflikt unumgänglich; aber dieser enthält auch ein Versprechen, jene emanzipatorische Verheißung, bei der jeder Abschnitt ihrer Verwirklichung mit einem neuen Ambivalenzgefühl einhergeht, das – wiederum – die potentielle Auflehnung gegen die Autorität in sich birgt. Die eigentlich relevante Frage ist daher, ob man es wagt, dieses emanzipatorische Ziel um den Preis der Abschiednahme von den traditionellen, Ehrfurcht gebietenden und durch Blendung hemmenden Autoritäten zu verfolgen. Die Revolutionäre von 1789 wagten es, indem sie sagten: »Die Großen erscheinen uns nur groß, weil wir auf den Knien liegen. Erheben wir uns also!«.115

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