Kitabı oku: «Gewaltlosigkeit im Islam», sayfa 2
Die praktische Umsetzung des gewaltlosen Ethos im Islam
Während die Propheten auf Gewalt verzichtet oder zumindest sie einzig und allein auf Grundlage der Selbstverteidigung einer souveränen Gesellschaft stark eingeschränkt haben, legt die Menschheitsgeschichte Zeugnis darüber ab, dass der Mensch, so Saʿid, seit jeher dazu tendiere, ein Anhänger des ersten Mörders zu sein. Damit haben sich die Befürchtungen der Engel bei der Erschaffung des Menschen bewahrheitet, als sie Gott gegenüber äußerten:22
(…) Willst Du auf ihr [der Erde] einen einsetzen, der auf ihr Verderben anrichtet und Blut vergißt? (…) (2:30)
Die intellektuelle Wiedergeburt – nicht nur der Muslime –, sondern aller Menschen bestünde darin, dem gewaltlosen Sohn Adams und seinem Bekenntnis zu folgen, das da lautet:
Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen.
Der Reifungsprozess und Triumph für jeden Menschen bestünde in der Selbstgewissheit, dass ein anderer Mensch ihn zwar töten könne, aber es niemals gelingen wird, ihn selber zu einem Mörder zu degradieren.23 „Und noch immer“, so Saʿid, „kommt die Botschaft dieses Textes bei uns Muslimen nicht an. Aber auch Jesus sagte: ,Und wer dich schlägt auf eine Backe, dem biete die andere auch dar‘, und doch verübten auch Christen Gewalt im Namen der Religion (…).“24
Das Ethos des gewaltlosen Sohnes Adams verpflichte den Muslim dazu:
1) jede Schmähung, jedes psychisch und physisch zugefügte Leid durch das Vertrauen auf Gott (tawakkul ) geduldig zu ertragen. Saʿid verweist hierbei auf folgenden Vers:25
Und warum sollten wir nicht Gott vertrauen, da Er uns doch unseren Weg bereits gezeigt hat? Wahrlich, wir wollen geduldig ertragen, was ihr uns an Leid zufügt, und Gott sollen alle Vertrauenden vertrauen. (14:12)
2) Weiter darf ein Muslim in seinem Handeln nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern stattdessen soll er den Hass, der ihm begegnet, durch entgegengesetztes Tun in Liebe umwandeln. Abermals stützt sich Saʿid auf die Offenbarung:26
Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden. (41:34)
3) Soll der Muslim die Strukturen pathologischer Gewalt erforschen und durch gesellschaftliche Erziehung und Reformen durchbrechen. Saʿid führt den Vers heran:27
(…) Gewiß, Gott verändert die Lage eines Volkes nicht, solange sie sich nicht selbst innerlich verändern. (…) (13:11)
Hierzu reiche es aber nicht aus, sich lediglich mit religiösen Texten zu beschäftigen, sondern das Studium der menschlichen Geschichte müsse herangezogen werden. Ein Gang durch die Geschichte würde den Muslimen helfen zu erkennen, dass Gewalt strukturell nur durch einen demokratischen Rechtsstaat eingedämmt, domestiziert und reguliert werden könne.28
Ein Rechtsstaat sei der Gerechtigkeit als ausgleichendes Maß zwischen den Menschen verpflichtet und würde daher Gewalt überflüssig machen. In Saʿids Denken stellt der Rechtsstaat den Übergang vom Primat des Stärkeren zum Primat des Rechts dar.29
4) Der Muslim soll den Pluralismus in der Welt als notwendige Folge des Fortschreitens menschlicher Geschichte und Entwicklung akzeptieren. Jedes Bemühen, den Islam zu ideologisieren, ihn in eine unlebendige statische religiöse Konformität und starre soziale Ordnung zu transformieren, liefe der menschlichen Erfahrung von Dynamik zuwider.30
So erteilt Saʿid jeglicher singulären Islamauslegung eine Absage. Bereits der mittelalterliche Gelehrte Ibn Taimiyya (gest. 1328) hätte anerkennen müssen, dass ständig alles auf den Qurʾān und die sunna zurückführen zu wollen oder dort belegt zu finden, keine praktikable Lösung sei. Schließlich habe jede islamische Schule, ob theologischer oder rechtlicher Prägung, ihre eigene Hermeneutik.31 Ebenso habe der vierte Kalif des Islam, Ali ibn Abi Talib (gest. 661), es unterlassen auf Grundlage des Qurʾān mit den extremistischen Kharidjiten zu diskutieren, da dieses aufgrund ihrer ganz anderen Interpretationsweise zwecklos sei und nur in ein Nebeneinanderher-Reden gemündet hätte.32
Zwischen den Zeilen äußert Saʿid damit natürlich auch seine Kritik an gewalttätigen Gruppierungen und deren Absolutheitsansprüchen: Es könnten keine Reformen zum Besseren von jenen erhofft werden, deren Vorstellungskraft nicht weiter reiche, als Veränderungen durch Mordanschläge und Revolutionen herbeizuführen, da diese sich damit in die Tradition des ersten Mörders begeben, mit der Zivilisation brechen und die Menschheit wieder in den Naturzustand zurückführen, wo das Recht des Stärkeren vorherrscht. Wie kann also von ihnen eine bessere Welt erhofft werden?33 Es könne keine legitime und friedvolle Gesellschaft geschaffen werden, wenn man selber zu Gewalt, Einschüchterung und Zwangsmitteln greife, um die eigenen Überzeugungen durchzusetzen. Eine Revolution ermutige nur andere, die gesellschaftliche Ordnung auf gleichem Wege abermals zu stürzen. Dadurch entstünde ein bösartiger Kreislauf von Umstürzen, der letztendlich die Entstehung von Diktaturen begünstige. Saʿid verweist hierbei auch auf die islamische Frühzeit:
In der islamischen Geschichte finden wir die vier rechtgeleiteten Kalifen, die nach dem Propheten regiert haben. Keiner von ihnen ist durch Gewalt an die Macht gekommen und keiner von ihnen hat die Macht seinen Söhnen vererbt. Dennoch starben drei von ihnen durch Mord. Und nach dem vierten Kalifen kehrte die Macht zum Schwert und zur Herrschaftsvererbung zurück. Bis heute lebt die islamische Welt im Schatten des Schwertes, des Putsches und der Vererbung der Herrschaft.34
Stattdessen sollen Muslime, die in einem Unrechtsstaat leben, so handeln, als sei er ein Rechtsstaat, um zu versuchen, ihn genau dazu zu machen.35
5) Der Muslim soll mittels transparenter Organisationen und Stiftungen eine islamische Infrastruktur schaffen, durch die zum Islam eingeladen, das Gute geboten und das Schlechte verurteilt wird. Damit würden Muslime zeitgemäß dem prophetischen Lebensmodell folgen und als demokratische Akteure Teil des öffentlichen Diskurses sein.36
6) Muslime dürfen das islamische Engagement in der Gegenwart niemals von dem geschichtlichen Wissen trennen, dass die umma oftmals nicht entsprechend der prophetischen Handlungsmaxime gehandelt hat. Dies sollten Muslime sich schonungslos eingestehen und dafür auch Verantwortung tragen. Gerade durch Letzteres beweise sich der Mensch als würdig, Gottes Statthalter auf Erden zu sein. Saʿid verweist auf die islamische Urgeschichte, als Adam und seine Frau für ihre Schuld die Verantwortung übernahmen, indem sie Gott um Vergebung baten, statt die Schuld aufeinander abzuwälzen und von sich zu weisen (siehe Sure 7, Vers 23).37
Mit Verweis auf Muhammad Iqbal schreibt Saʿid, dass die einzigen Kriterien, um eine Zivilisation oder Religion nach geschichtlichen Maßstäben zu bewerten, jene seien, welche Art von Individuen sie hervorgebracht und die Menge an Gutem, die diese der Menschheit beschert haben.38
Kritikern eines Gewaltverzichtes gibt Saʿid zu bedenken, dass je mehr Menschen sich dem zivilen Ungehorsam anschließen, desto unmöglicher sei es für einen Diktator, auch nur gegen einen Einzelnen gewaltsam vorzugehen, schließlich könne dieser ja nicht sein gesamtes Volk auslöschen. Wenn jedoch die Unterdrückten ihre Unterdrücker gewähren lassen, so sind sie mit schuld an ihrer Unterdrückung. Die Menschen müssten den Unterdrückern ihre freiwillige Knechtschaft aufkündigen.39 Ein Regimewechsel benötige also keine Gewalt, was gerade die gewaltlose iranische Revolution von 1979 bewiesen habe.40 Saʿid geht davon aus, dass in jedem Tyrannen und Unterdrücker doch noch ein Funke Menschlichkeit, Achtung und Güte vorhanden ist, an den erfolgreich durch den gewaltlosen Widerstand appelliert werden kann, so wie in der Urgeschichte, als der erste Mörder sich eingesteht: „O weh mir! Bin ich zu kraftlos, wie dieser Rabe zu sein und die Missetat an meinem Bruder zu verbergen?“ Und so wurde er reumütig.
Letztendlich hat jedoch gerade der Bürgerkrieg in Syrien deutlich gemacht, dass ein Diktator durchaus fähig ist, für den eigenen Machterhalt sich gegen sein Volk zu wenden und sich zugleich in seiner Position zu halten. Hier muss also kritisch Saʿids Idealismus an der Realität gemessen werden.
Saʿid konzentriert sich in seiner Exegese von Sure 5, Vers 27–32 auf den gewaltlosen Sohn Adams, vernachlässigt dadurch jedoch dessen gewaltsamen Bruder. Dessen Darstellung im Qurʾān bietet noch einige interessante Lehren. An keiner Stelle rechtfertigt dieser sein Handeln, denn für Mord kann es keine Rechtfertigung geben. Er gelangt schließlich in Sure 5, Vers 31 selber zu dieser Feststellung. Die Gewalt wird nicht gerechtfertigt, sondern narrativ verurteilt, zugleich wird er durch seine Reue der Blutrache entzogen.41
Hoffnung ist der Anfang aller Dinge
Gleichwohl die Menschen, so Saʿid, allegorisch und ideell Nachkommen eines Mörders seien und die menschliche Geschichte sich als eine Geschichte des Tötens lese, bestünde die berechtigte Hoffnung, dass die Menschen geistige Nachkommen des gewaltlosen Sohnes Adams werden.42
Hoffnung schöpft er aus zwei Begebenheiten, die im Qurʾān berichtet werden. Zum einen, nachdem die Engel ihre Befürchtungen hinsichtlich der Erschaffung des Menschen ausgesprochen hatten, entgegnete ihnen Gott ein für den Menschen hoffnungsvolles:43 „Siehe, Ich weiß, was ihr nicht wißt.“ (2:30), womit Gott aussagt, dass der Mensch sich über seine Gewalttätigkeit erheben kann. Und zum anderen beweise die Geschichte des Volkes Jonas, dass Gesellschaften sich zum Besseren ändern können.44
Damit ist Saʿid ein Denker eines islamisch begründeten Gewaltverzichtes in einer gewaltvollen Zeit. Wie notwendig und wichtig solche Denker sind, wird deutlich, wenn wir einen Moment innehalten und uns klarmachen, dass der vernunftbegabte Mensch die Waffen zu seiner eigenen Auslöschung erschaffen hat. Das Einüben in Gewaltlosigkeit auf lokaler wie globaler, auf der Mikro- wie der Makroebene ist somit nicht nur eine Unabdingbarkeit, sondern die einzige verbliebene rationale Option. Saʿid hat dies als einen Reifeprozess bezeichnet, ob die Menschheit jedoch jemals in das Stadium des Erwachsenseins eintritt, muss sich erst noch zeigen. Doch Hoffnung ist der Anfang aller Dinge.
3 Siehe ausführlich: Murtaza, Muhammad Sameer (2012).
4 Siehe ausführlich: Murtaza, Muhammad Sameer (2015).
5 Siehe ausführlich: Murtaza, Muhammad Sameer (2016).
6 Vgl. Current Islamic Issues (1998).
7 Said, Jawdat (o. J.3).
8 Vgl. Humeid, Bashar (2006).
9 Al Shami, Leila (2016).
10 Vgl. ebda.
11 Vgl. Böhm, Andrea (2017: 9).
12 Ebda.
13 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 27).
14 Vgl. Said, Jawdat (o. J.3).
15 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 43-50).
16 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 46).
17 Vgl. Said, Jawdat (o. J.3).
18 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 50).
19 Vgl. ebda. (54); Baghajati, Adnan; Said, Jawdat (2015: 12).
20 Vgl. Current Islamic Issues (1998).
21 Vgl. Amos, Deborah (2012).
22 Vgl. Humeid, Bashar (2006).
23 Vgl. Said, Jawdat (o. J.1: 52).
24 Baghajati, Adnan; Said, Jawdat (2015: 12).
25 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 43).
26 Vgl. Said, Jawdat (o. J.1: 49).
27 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 101).
28 Vgl. Said, Jawdat (o. J.3).
29 Vgl. Current Islamic Issues (1998).
30 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 21-23).
31 Vgl. ebda. (118); Ibn Taymiyya (2017: 57-58).
32 Vgl. Humeid, Bashar (2006).
33 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 37).
34 Baghajati, Adnan; Said, Jawdat (2015: 12-13).
35 Vgl. Said, Jawdat (o. J.2).
36 Vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 109).
37 Vgl. ebda. (121).
38 Vgl. Said, Jawdat (o. J.1: 31).
39 Vgl. Graswurzelrevolution (2015: 10).
40 Vgl. Current Islamic Issues (1998).
41 Vgl. Hofheinz, Marco (2016: 141-142).
42 Vgl. Said, Jawdat (o. J.2).
43 Vgl. Said, Jawdat (o. J.1: 49).
44 Vgl. ebda. (49-50).
Der Lehrer: Maulana Wahiduddin Khans gewaltloser ğihād
Islam ist Frieden. Unentwegt hört man seit den Tagen des 11. Septembers 2001 von jungen Muslimen diesen Satz. Man kann ihn kritisieren als eine Verdrängung der Tatsache, dass auch der Islam, wie jede andere Religion und Weltanschauung, über ein Gewaltpotenzial verfügt. Man kann ihn beanstanden, da Terroristen muslimischen Glaubens sich wiederholt auf den Islam beziehen und ihre Taten mittels Versen aus dem Qurʾān legitimieren. Man kann ihn in Zweifel ziehen, da muslimische Autoren wie Sayyid Qutb, Muhammad Abd Al-Salam Farradsch (gest. 1982) und Abul Aʿla Maududi (gest. 1979) eine Auslegung des Islam hervorgebracht haben, die Legimitationsgrundlage ist für Terroristen muslimischen Glaubens. Man kann ihn zurückweisen, da er keine kritische Auseinandersetzung mit gewalttätigen Interpretationen des Islam und deren Denkern fördert und somit schließlich keine Veränderung bewirkt.
Andererseits, kann man eine solche denkerische Leistung von einem gewöhnlichen Gläubigen verlangen? Ist dies nicht vielmehr die Aufgabe von muslimischen Gelehrten und Intellektuellen?
„Islam ist Frieden“, drückt dieser Satz, ausgesprochen von einem Ali-normal-Muslim, nicht eine Ablehnung von Gewalt im Namen der Religion aus? Drückt er nicht eine Abscheu vor Terroristen muslimischen Glaubens aus? Drückt er nicht einen Trotz gegenüber den Handlungen muslimischer Gewalttäter aus, die immer wieder das Gegenteil bekräftigen? Muslime, die überzeugt sind, dass der Islam eine Friedensreligion ist, sind nicht nur der Gewalt im Namen des Islam leid, sondern der Gewalt an sich. Damit sind sie die Adressaten einer sich den Herausforderungen der Zeit stellenden islamischen Friedenslehre und Lehre der Gewaltlosigkeit, wie sie der indische Gelehrte Maulana Wahiduddin Khan (geb. 1925) vertritt.
Maulana Wahiduddin Khan
Khan gehörte auf dem Subkontinent zunächst zu jenen Gelehrten, die sich für das ideologische Islamverständnis Maududis begeistern konnten. Ungefähr 1949 trat Khan in den indischen Ableger von Maududis Organisation ein, der Jamaat-e Islami Hind (Islamische Gemeinschaft Indiens). Maududi predigte, schrieb und forderte in Pakistan eine islamische Revolution, wobei er hierbei mehr von der Französischen Revolution 1789 und der Oktoberrevolution 1917 inspiriert war als vom Qurʾān. Als Khan dies erkannte, distanzierte er sich von Maududi und dessen „politischer Lesart von Religion“45. Es sei nicht rechtens, politische Begriffe der Moderne auf den Propheten Muhammad zu übertragen und anachronistisch zurückzuprojizieren. Der Prophet sei kein politischer Führer und die umma keine Partei oder revolutionäre Bewegung gewesen, wie es so oft in Maududis Schriften heißt. Khan warnte, dass durch eine solche Umwandlung des Islam die Religion der politischen Manipulation ausgeliefert sei.46 Schließlich verließ der Gelehrte ca. 1965 die Organisation, um sich dann für eine kurze Zeit bis 1975 der apolitischen innerislamischen Missionsbewegung Tabligh Jamaat anzuschließen.47
Unabhängig davon gründete Khan 1970 in Delhi das Islamische Zentrum und 2001 das Zentrum für Frieden und Spiritualität, die beide einer islamischen Friedenstheologie und Aufklärungsarbeit verpflichtet sind. Als Autor von weit über 200 Büchern und Herausgeber der Zeitschrift ar-risāla (Die Botschaft) seit 1976 wurde er für sein Bemühen für Frieden zwischen den Religionen und gesellschaftliche Harmonie im Jahre 2000 mit dem Padma Bhushan, dem dritthöchsten indischen Zivilorden, und 2010 mit dem Rajiv-Gandhi-National-Sadbhavana-Preis, einer zivilgesellschaftlichen Auszeichnung, geehrt. Die Georgetown Universität in Washington zählte ihn im Jahr 2009 zu den 500 einflussreichsten Muslimen weltweit und bezeichnete ihn als den spirituellen Botschafter der Welt.48
Der indische Gelehrte ist sich bewusst, dass Gewalttätigkeit im Namen des Islam ein vielschichtiges Problem ist. Man darf es nicht ausschließlich theologisieren. Zugleich existiert ein entsprechendes Lehrgebäude, das im 20. Jahrhundert im Zuge der Dekolonisation größtenteils von Laien aufgebaut wurde. Die Utopie eines weltweiten theokratischen Staates, der alle Menschen gleich und gerecht behandelt, barg in sich stets ein Element des Ressentiments: Die einst Ohnmächtigen kehren zurück, um ihrerseits Rache an ihren ehemaligen Unterdrückern, den Kolonialmächten, zu nehmen, indem sie ihrerseits einen imperialistischen Staat errichten. Dies war also keinesfalls eine konstruktive Botschaft für das Morgen, sondern ein Sicheinfügen in die Spirale der Gewalt.
Khan sieht es als seine Pflicht an, hierüber eine innerislamische Diskussion anzustoßen in der Hoffnung, dieses Gebäude zum Einsturz zu bringen und somit Gewalttätern ihre Legitimationsgrundlage zu entziehen. Mit bloßen Distanzierungen von Gewalttaten, so Khans Position, sei es nicht getan. Das Problem von Gewalt im Islam müsse schonungslos untersucht, seine Zusammenhänge analysiert und eine Alternative angeboten werden, die über den Tag hinausreicht. Nur so könne ein muslimischer Gelehrter seiner Verantwortung für die konstruktive Mitgestaltung dieser Welt gerecht werden.49
Die Glorifizierung von Gewalt
Anthropologisch geht der Gelehrte von der Prämisse aus, dass der Mensch in sich sowohl ein Gewaltpotenzial als auch ein Friedenspotenzial besitzt. Je nachdem, zu welchem Selbstverständnis der Mensch über seine Rolle auf Erden gelangt, entwickelt er entweder eine Lebensweise, in der das Primat des Stärkeren oder das Primat der Barmherzigkeit gilt. Die jeweilige Lebensweise schafft wiederum eine entsprechende Kultur der Gewalt oder des Friedens.50
Nach Khan dominiert seit den frühesten Tagen der Menschheit bis in unsere heutige Zeit hinein eine Kultur der Gewalt, die sich in der Bewunderung für Kriege und Militärführer zeige. Bereits im Kindesalter werde man global auf diese Kultur geeicht, wenn im Geschichtsunterricht ausführlich die großen Militärkonflikte seit frühester Zeit und deren Strategen behandelt werden, während Friedenslehrer und Friedensstifter unberücksichtigt bleiben. Dadurch werde Kindern vermittelt, dass Militär und Krieg etwas Bedeutsames und militärische Führer Helden seien.51
Die muslimisch geprägte Welt stelle hierbei keine Ausnahme dar. Verbunden mit der raschen Expansion des Islam nach dem Tod des Propheten Muhammad 632, setzte zur Zeit der Umayyaden- (661–750) und der Abbasidendynastie (750–1517) die Entwicklung ein, das muslimische Heer zu motivieren, indem die Schlachten zur Zeit des Propheten zwischen der Oase Medina und der Handelsstadt Mekka glorifiziert wurden. Im Zuge dessen wurde der Prophet Muhammad als überragender Militärführer stilisiert. Prophetenbiografien erhielten den Titel maġāzī, was zu Deutsch militärische Unternehmungen bedeutet.52 So entstand im kulturellen Gedächtnis der Muslime der Eindruck, die islamische Frühgeschichte sei eine ununterbrochene Geschichte von Kriegen, Siegen und Eroberungen gewesen. Die Folgen waren, dass die muslimische Gemeinschaft den Glauben mit dem Anspruch verband, stets eine siegreiche, erfolgreiche und fortschrittliche zivilisatorische Kraft zu sein.53
Dieses etablierte Geschichtsbild wird nun von Maulana Wahiduddin Khan infrage gestellt. Er weist nach, dass der Prophet Muhammad an vier Kampfhandlungen beteiligt war, die der Verteidigung der Bevölkerung von Medina, nicht aber der Ausbreitung der Religion des Islam dienten. Es handelt sich bei ihnen um die Schlacht von Badr im Jahre 624 (2 n. H.), die Schlacht von Uhud im Jahre 625 (3 n. H.), die Schlacht von Khaibar im Jahr 629 (7 n. H.) und die Schlacht von Hunain im Jahr 630 (8 n. H.). Die Zeitabstände zwischen diesen Kampfhandlungen erwecken nicht den Eindruck, als wäre die Frühzeit des Islam eine endlose Aneinanderreihung von Schlachten gewesen. Die Dauer der Kampfhandlungen all dieser Schlachten zusammengenommen betrug 1½ Tage. Der indische Gelehrte erinnert daran, dass das Prophetentum Muhammads fast 23 Jahre, genauer, 8.130 Tage, währte. Also stelle sich die Frage, warum die Muslime diesen 1½ Tagen über alle Maßen Beachtung schenken und sich nicht fragen, was der Prophet die restlichen 8.128 Tage seines Lebens getan hat.54
Nach dem türkischen Historiker Resit Haylamaz hatten die ersten muslimischen Chronisten eine besondere Vorliebe für Heldengeschichten. Deshalb sei der Prophet überwiegend als Kriegsheld dargestellt worden.55 Auch Haylamaz recherchierte, wie lange die einzelnen kriegerischen Auseinandersetzungen in der medinensischen Phase, die Muhammad selbst angeführt hat, gedauert haben. Er kommt sogar zu dem Schluss, dass es wohl nicht mehr als 13 Stunden waren und damit die Tradition widerlegt sei, Muhammad wäre ein großer Kriegsheld gewesen.56
Als Nächstes betrachtet Khan die Verwendung des Wortes ğihād im Qurʾān. Die eigentliche Wortbedeutung lautet Anstrengung. Damit ist ğihād zunächst einmal ein zentraler spiritueller Begriff im Islam, der alle Handlungen eines Gläubigen umfasst, mittels derer er sich auf Gott zubewegt. In der Zeit des Propheten Muhammad beinhaltete dies auch die Pflicht zur Selbstverteidigung gegen die Angriffe der Handelsstadt Mekka.57
Wäre Medina durch die Mekkaner erobert worden, wäre der Bevölkerung, Männer, Frauen und Kindern, nur die Wahl zwischen der Rückkehr in den alten henotheistischen Glauben oder Tod durch das Schwert geblieben. Die Abwendung vom Glauben an den einen Gott hätte zwar die Menschen in Medina vor dem Tod bewahrt, allerdings hätten sie sich am Jüngsten Tag vor Gott hinsichtlich ihrer Integrität verantworten müssen. Um also einem Gemetzel zu entgehen und sich zugleich weiterhin zum Islam bekennen zu dürfen, sei es den Muslimen nach 13 Jahren des Verächtlichmachens, des Verfolgtwerdens, des Gefoltertwerdens und des Getötetwerdens erlaubt worden, sich mittels Waffen zur Wehr zu setzen. Khan verweist auf nachstehende Verse aus der Offenbarung, die diese Erklärung untermauern sollen:58
Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. (2:190)
Erlaubnis [zur Verteidigung] ist denen gegeben, die bekämpft werden – weil ihnen Unrecht angetan wurde –, und Gott hat gewiß die Macht, ihnen beizustehen; jenen, die schuldlos aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, nur weil sie sagten: „Unser Herr ist Gott!“ Und hätte Gott nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt, wären (viele) Klöster, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen Gottes Name häufig gedacht wird, bestimmt zerstört worden. Und wer Ihm helfen will, dem hilft gewiß auch Gott; denn Gott ist stark und mächtig. (22:39–40)
Der Griff nach den Waffen zur Selbstverteidigung war allerdings das letzte Mittel, nicht das erste Mittel, um sich vor einem Aggressor zu schützen. Alle Verse im Qurʾān, bei denen es um Kampf geht, sind im Rahmen der Selbstverteidigung und eines bereits in Gang befindlichen Krieges zu lesen. Eine Interpretation hierüber hinaus dürfen sie nicht erhalten, da ansonsten die ursprüngliche Bedeutung dieser Verse verfälscht wird.
Maulana Wahiduddin Khan beklagt, dass weder Extremisten muslimischen Glaubens noch Nichtmuslime sich die Mühe machen würden, krasse Verse wie: Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt. Und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben; denn Verführung ist schlimmer als Töten. (…) (2:191) in ihrem Offenbarungskontext zu lesen. Nur ein Vers zuvor heißt es: Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. Stattdessen würden beide Seiten Verse wie Sure 2, Vers 191 aus ihrem Kontext herausreißen und sie in ihrer Propaganda als das Recht zum Krieg missverstehen. Gleiches könne man aber auch mit Matthäus 10,34–37 tun: Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, wobei jeder Christ über diesen Schriftumgang empört wäre.59
Khan unterscheidet nun bei zwischenmenschlichen Konflikten zwischen zwei Arten von ğihād: dem übergeordneten friedvollen ğihād, verstanden als gewaltlosen Aktivismus, und dem gewaltsamen ğihād, in Khans qurʾānischer Terminologie qitāl, zu Deutsch Kampf, im Sinne der Selbstverteidigung.60
Qitāl ist demnach nur ein Unteraspekt des ğihād, der nur dann zur Geltung kommen durfte, wenn alle friedvollen Handlungsmöglichkeiten gänzlich ausgeschöpft waren und die eigene Auslöschung bevorstand.61
Der indische Gelehrte widmet sich dann der Frage, wer im Islam überhaupt legitimiert sei, zur bewaffneten Selbstverteidigung aufzurufen. Diese Frage ist hinsichtlich zahlreicher Organisationen wie Al-Qaida, IS, Boko Haram und Hisbollah von höchster Aktualität. Sich auf das islamische Recht stützend, erklärt der Gelehrte, dass einzig der gewählte Vertreter aller Muslime – den es heute nicht mehr gibt – den Selbstverteidigungsfall ausrufen darf. Alle militanten Bewegungen, die sich auf den Islam berufen, stünden eigentlich im Widerspruch zu den islamischen Rechtsauffassungen, die diese Gruppierungen angeblich vorgeben, wiederherstellen zu wollen.62 Maulana Wahiduddin Khan verweist hierbei auf einen Vers aus der Offenbarung, der eine Befehlskette hinsichtlich Krieg und Frieden aufstellt:63
Und wenn ihnen etwas zu Ohren kommt, das Frieden oder Krieg betrifft, verbreiten sie es. Wenn sie aber (stattdessen) dem Gesandten oder denen, die Befehlsgewalt unter ihnen haben, berichteten, so würden diejenigen es erfahren, die dem nachgehen können. Und ohne Gottes Gnade gegen euch und Seine Barmherzigkeit wärt ihr sicher bis auf wenige Satan gefolgt. (4:83)
Folglich, so Khan, seien diese Milizen aus dem islamischen Rechtsverständnis heraus als Terrororganisationen einzustufen, die, obwohl sie sich auf den Islam berufen möchten, sich nur auf ein pervertiertes Unwesen namens Islam stützen können, das nicht dem Religionsverständnis von 1,5 Milliarden Muslimen weltweit entspricht.64
Die Einstufung als Terrororganisationen ergibt sich dabei nicht nur aus der widerrechtlichen Bemächtigung zum Ausrufen des bewaffneten ğihād, sondern weil der sogenannte ğihād dieser Gruppierungen nichts mehr gemeinsam hat mit der islamischen Auffassung von Selbstverteidigung. Mit der Erlaubnis, sich mittels Waffen zu verteidigen legte der Prophet Muhammad den Muslimen zugleich eine Kriegsethik auf, die einzuhalten ist:
Nichtkombattanten sind zu verschonen,
destruktive Wirtschaftskriegsführung
und unnötige Zerstörungen von Infrastruktur sind zu unterlassen.65
Diese Kriegsethik wird jedoch, so der indische Gelehrte, von den militanten Bewegungen, die sich so gerne auf den Islam berufen, gar nicht eingehalten. Darüber hinaus hätten Gelehrte, die bestimmten militanten Bewegungen nahestünden, zugunsten diesen die islamische Kriegsethik pervertiert, indem sie beispielsweise Selbstmordattentate für legitim erklärten. Khan benennt hierbei den ägyptischen Gelehrte Yusuf Al-Qaradawi, der Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft ist, die wiederum die Mutterorganisation der HAMAS ist. Khan hält Al-Qaradawi entgegen, dass die Selbsttötung niemals in der islamischen Geschichte als Märtyrertod verstanden wurde. Al-Qaradawi toleriere mit seinem Rechtsgutachten den im Islam rechtswidrigen Grundsatz, dass der politische Zweck alle Mittel heiligt. Politik, nicht der Qurʾān, werde damit zum wichtigsten Bezugspunkt im Denken dieses Gelehrten.66
Die Gleichsetzung von politischer Macht und Glaube, wie sie irrtümlicherweise von den Muslimen angenommen wurde, führte dann, so Khan, im Zuge des politischen Niedergangs der muslimischen Welt ab dem 18. Jahrhundert zu der Vorstellung, dass dies auch zugleich einen Niedergang des Islam bedeute. Khan macht jedoch unmissverständlich klar, dass es sich lediglich um einen Niedergang bestimmter Dynastien gehandelt habe. Der Glaube sei nicht gekoppelt an politische Macht. Nirgends im Qurʾān sei den Muslimen politische Herrschaft auf unbestimmte Zeit versprochen worden.67
Für den Gelehrten kann der Islam keine Religion der Gewalt oder der Gewaltverherrlichung sein, denn wie erkläre es sich dann, dass der Islam im Mittelalter eine der großen Menschheitszivilisationen hervorgebracht habe? Zivilisation befruchtet, Gewalt zerstört. Beides sind gegensätzliche Begriffe. Um die gegenwärtige Misere der muslimischen Gemeinschaft zu überwinden, müssten die Muslime für alle menschlichen Konflikte auf die Methode des Propheten Muhammad zurückgreifen, die Rache, Aggressionen und Vergeltung vermeide.68 Doch was bedeutet dies nun konkret?