Kitabı oku: «DIE DODERER-GASSE», sayfa 2

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WOHNHAUSANLAGE DER GEMEINDE WIEN, ERBAUT IN DEN JAHREN 1971 BIS 1973

Das war es also, wohin es mich verschlagen hatte. Nach Herrschaftshäusern, Villen und Stadtpalais war ich im Gemeindebau gelandet. Eine Übelkeit versuchte aufzusteigen, und da es nicht mein Körper sein konnte, der Rebellion ankündigte, lag die Vermutung nahe, meine Trübsal schlüge sich auf Maries Magen. Ihre wachsende Unruhe bestätigte mir, dass mein ästhetisches Empfinden sowie stilistische Werturteile für sie Geltung hatten. Der Konnex zwischen uns – und erstmals dachte ich an ein wir bei Marie und mir –, unsere Verbindung würde mir ein Einwirken auf dieses unfertige Wesen ermöglichen.

Plötzlich überholten Kinder den Wagen, riefen einander Unverständliches zu. Sie sahen gewöhnlich aus, wirkten ein wenig gestutzt, in ihren Anlagen gehemmt, als wären sie vor einsetzender Entwicklung bereits ausgebremst worden. All das erhaschte ich durch beiläufigen Blick, da sie direkt am Ausguck des Wagens vorüberliefen. Vorzeitig abgestumpfte Kinder mit platten Nasen, kurzen Hälsen und mehrfach geflickter, über Generationen von Geschwistern abgetragener Gebrauchskleidung. Ein grauenerregendes Fluidum umgab diese Bagage, von denen bereits in ihrem zarten Alter Beängstigendes ausging.

Maries Kopf wurde schwerer, auch ihre Augenlider sanken immer öfter hinab, was meine Beobachtungen behinderte. Ich schloss daraus, dass das Rumpeln des Kinderwagens sie einschläferte, was wohl der Absicht der Mutter entsprach. Ich wünschte, Marie hielte noch ein Weilchen durch, um mir längere Aussicht zu gewähren. Ihr fiel der Kopf auf den Polster, aber sie mühte sich, anrückendem Schlaf zu widerstehen. Mit aller Kraft brachte sie ihr Haupt wieder hoch, riss ihre Augen auf, verschaffte mir Ausblick. Und der Aufwand lohnte sich. Wir näherten uns einer Kreuzung, ich sah ein Straßenschild. Es durchzuckte mich. Doderergasse, las ich ab.

Doderergasse!

Stolz und Entrüstung fuhren in mich wie ein heißer Blitz, dem man auszuweichen sucht, aber der dennoch trifft, weil man zielstrebig verfolgt worden war, er es auf einen abgesehen hatte. Dieser freudlose Ort am Ende von Wien war zweifelsohne nach mir benannt worden. Ich war geschmeichelt, aber in noch größerem Maße beleidigt. Namensgeber für eine solche Gasse? Doderergasse – ein Gässchen?! Dessen Bewohner mit Sicherheit nicht wussten, wer oder was ein Doderer war. Eine Frechheit, die mir post mortem angetan worden war, als hätten all die sträflichen Vernachlässigungen zu Lebzeiten nicht genügt.

Aber da hinein in diesen gemischt-gefühligen Moment dämmerte mir, dass es kein bloßer Zufall sein konnte. Ich, neugeboren in einer nach mir benannten Gasse, auf engstem Raum in Lebensgemeinschaft mit einem Mädchen. Dahinter musste sich Absicht verbergen. Sollte Marie mein Anfang sein? Meine Möglichkeit, ein neues Leben zu verwirklichen? Könnte ich aus ihr allein mein neues Dasein gebären? Ich wollte tiefer sinken, eindringen, hinuntersteigen zum Boden dieses Gedankens, aber Marie schlief ein und mein Bewusstsein pausierte.

FRÜHSOMMERLICHE HITZE DRÜCKTE durchs offene Fenster ins Kinderzimmer. Der dünne Vorhang war zwecks leichteren Luftaustauschs zur Seite gerückt worden und schwang schwach aus, zu müde für heftigere Exaltationen. Wer sich hingegen wach und unbeeindruckt von jedweder Temperatur zeigte, war Marie. Sie zog sich an den Holzstäben des Gitterbetts hoch, ein Kunststück, das ihr bereits seit einigen Tagen gelang und welches ich maßgeblich als Resultat meiner beharrlichen Unterweisungen betrachtete.

Auf wackeligen Beinen stand sie im Bett, wippte kräftig auf und ab, sodass ihre schwere Stoffwindel etappenweise abwärts rutschte, was dem Kind zufriedenstes Lachen entlockte und mich mit zunehmender Geruchsbelästigung quälte. Marie blickte an sich herab, bemaß den von ihrer Windel zurückgelegten Weg, den sie mit weiteren Hüpfern zu vergrößern trachtete. Natürlich hätte ich sie von ihrem fragwürdigen Vergnügen abbringen und zu geistreicherer Tätigkeit hinleiten können, doch galt es, Marie bei Laune zu halten, sonst würde sie künftige Mitarbeit verweigern, worauf unmäßig viel Zeit für die Rückeroberung ihrer Bereitschaft aufgewendet werden müsste. Daher unterdrückte ich meine Übelkeit, die ohnehin nur noch überkommene Konvention sein konnte, und überließ Marie ihrer kindlichen Freude über die neu entdeckte Wirkmacht ihres Tuns. Ich lenkte mich mit der Betrachtung des trägen Vorhangs ab, versuchte Sonnenverlauf und Wolkenbildung unter Beobachtung zu halten und gönnte mir zwischenzeitlich einige abfällige Bemerkungen zur Wanddekoration, die zweifelsfrei eine wenig zu empfehlende Geschmacksrichtung anzeigte, einschließlich einiger Mutmaßungen über Maries Eltern, die jene Entgleisung zu verantworten hatten.

Animiert von meinem Werturteil, widmete auch Marie der Tapete nähere Beachtung. Mit einer Hand klammerte sie sich zwecks gesicherter Stabilität am Gitterstab fest, die andere streckte sie aus und berührte die Wand, respektive die sich darauf befindliche Tapezierung. Ihr entkam ein Laut höchsten Entzückens. Zusätzlich meinte sie: »Da«, und klatschte ihre Handfläche auf die grafisch reduzierte Wiedergabe von gelb-braunen Blumen. Einige Male wiederholte sich dieser Vorgang, dann hielt Marie inne und ertastete mit ausgestrecktem Zeigefinger den Zusammenstoß zweier Tapetenbahnen. Andächtig in ihre Arbeit versunken, fuhr ihr kleiner Finger die Papierkante ab und fand eine geeignete Stelle, an der sie ihren Fingernagel ansetzte und am Papier kletzelte, als wollte sie die darauf abgebildete Blume pflücken. Kaum war ihr gelungen, einen Teil der Papierblume zu lockern, nahm sie das Stück zwischen Zeigefinger und Daumen und zog sachte daran. Ich war von der Präzision ihrer Fingerfertigkeit und in weit größerem Maße von der mühelosen Ablösbarkeit des Tapetenstreifens überrascht. Auch Marie war davon angetan. Sie stand mit weit geöffnetem Mund im Gitterbett, die volle Windel auf Höhe der Knie, die eine Hand am Haltegriff, in der anderen die zwischen ihr und der Wand aufgespannte Blumentapete. Je stärker sie daran zog, desto größer wurde der Teil. »Da«, meinte sie, was zweifellos meine Einschätzung der Lage bestätigte. »Da«, lachte sie nochmals über die Tapete. Schon schlug ihre Freude in Unmut um. Denn je mehr sie daran zerrte, desto länger wurde das Stück, umso schwieriger gestaltete sich dessen Handhabung.

Ich gab ihr zu bedenken, dass alles auf den Winkel ankomme. Sie stand zu nahe an der Wand. Ein Zurückweichen war ihr nicht möglich, ein Ablassen von der wirklich grässlichen Tapete widerstrebte ihr. Ich wirkte auf Marie ein, allein es wirkte nicht. Sie verlegte sich auf das ihr probat scheinende Mittel des sirenenartigen Geschreis, welches prompt die Mutter ins Zimmer rief. Mich sprach aus dieser Szene unser gemeinsamer ästhetischer Nenner an, der eine Basis bildete, auf die ich bauen wollte. Ich spürte, sie vertraute meinem Geschmacksurteil, wenn auch bei holpriger, oft zögerlicher Übernahme.

Einige Wochen später saß Marie mitten im Kinderzimmer auf dem Töpfchen. Die Mutter stand am Resopaltisch, über den sie ein dickes Tuch gelegt und somit zum Bügeltisch umfunktioniert hatte. Sie führte das Bügeleisen den Ärmel eines Männerhemds entlang, machte dabei routinierte Bewegungen, um letzte Fältchen zu glätten. Jedes Mal, wenn sie das Eisen beiseitestellte, zischte Dampf aus an der Unterseite befindlichen Löchern, wie aus den Nüstern eines erbosten Drachens. Marie hielt vom Töpfchen aus die Vorgänge am Bügeltisch unter Observation. Wärme und Feuchtigkeit hingen wie eine Glocke im Zimmer. Die Abendnachrichten dudelten aus dem Radio. Der Mutter sonst so geordnetes Haar war durch den Dampf aufgelöst, ihr Gesicht von Hitze und Anstrengung gerötet. Ich spürte, wie die drückende Wärmeglocke Marie angenehm war, wie sie es genoss, aus den Bewegungen ihrer Mutter mit dampfendem Bügeleisen einen Rhythmus auszumachen. Die wiederkehrenden Zischlaute, das Glucksen der im Wasserbehälter umherschwappenden Flüssigkeit, das Hintergrundrauschen des Radios, das alles lullte Marie ein, dass ich fürchtete, sie fiele in Schlummer und von ihrem Topf.

Ich muss dabei erneut auf das unerfreuliche Gebiet der Hygiene eingehen, denn obwohl ich bereits weit über ein halbes Jahr in Maries Körper lebte, hatte ich mich noch nicht an dessen Unzulänglichkeiten gewöhnt. Es störte mich frappant, dass sie nach wie vor auf Windeln angewiesen war, ja mehr noch, kreidete ich mir Maries Unvermögen höchstpersönlich an. Schon längst hätte sie mit mir als intimstem Mitbewohner vollständige Kontrolle über ihre Körperfunktionen erlangen müssen. Mich beschämte, dass Marie noch nicht stubenrein war. Während der Prozedur des Töpfchensitzens haderte ich mit meinen bisherigen Erfolgen. Wäre Marie ein normales Kind gewesen, gehörten ihre Entwicklungsstufen und der Umgang mit ihren Exkrementen ebenfalls zur Sphäre der Normalität. Aber mit mir als ständigem Begleiter hätte sie erheblich reifer sein, die Phase der Selbstbesudelung längst hinter sich lassen und sich der Sehnsucht nach dem Geruch des Lavendelwassers zuneigen müssen. Stattdessen saß sie sehr entspannt in dampfender Atmosphäre, die Latzhose mit Apfel-Aufnäher schoppte sich um ihre Beine, ihr nackter Po hatte sich im Töpfchen festgesaugt. Den Daumen im Mund befingerte sie jüngst dort eingezogene Milchzähne. Die Mutter richtete das Wort an sie, ich hörte nicht hin, war auch ich vom Dampfe leicht benebelt. Ich merkte, wie Marie etwas zurückbrabbelte und sich anschickte, sich zu erheben. Dabei stützte sie sich mit beiden Händen auf dem Boden ab, reckte ihr nacktes Hinterteil in die Höhe, was einen lauten Plopp erzeugte und ein Odeur freisetzte, das einer noch nicht einmal Einjährigen nicht zuzutrauen war. Sie richtete sich auf und wollte nichts eiliger tun, als ihr Erzeugnis einer eingehenden Prüfung samt Tiefenbohrung zu unterziehen.

Ich wurde inwendig laut, was Marie ein wenig stocken ließ. Das Ploppen musste die Mutter alarmiert haben, jedenfalls hatte sie sich von ihrem Bügeltisch gelöst und war auf Marie losgestürzt. Sie hielt Marie erfolgreich von obangezeigtem Plan ab, lobte sie über vollbrachtes Produkt und ging mit ihr ins Badezimmer. Nach Abschluss der Reinigung lachte Marie, da sie ganz so wie ich zur Sauberkeit neigte und froh war, wenn ihre Malheurs beseitigt wurden. Sie setzte sich auf den Fliesenboden des Badezimmers, schlüpfte in ihre Unterhose, fand sogar in die Latzhosenbeine. Ja, ich konnte stolz sein, die Fortschritte der letzten Monate waren gewaltig. Meine Unzufriedenheit und latente Ungeduld mussten sich aus anderer Quelle speisen.

Marie wackelte an der Hand ihrer Mutter vom Bad durchs Vorzimmer dem Kinderzimmer entgegen. Da traf mich die Erkenntnis wie jene Faust, die sprichwörtlich ums Auge kreist, um dann und wann zuzuschlagen. Ich war in den vergangenen Monaten nach anfänglicher Orientierungslosigkeit und Akklimatisierung derart intensiv mit Marie beschäftigt gewesen, dass ich mich und mein Ziel aus dem Visier verloren hatte. Dennoch fühlte ich unentwegt dessen Existenz, wenn auch unter schwerem, schwarzem Samt verborgen.

Kaum im Zimmer, eilte Marie ihrem Töpfchen zu, eine Berührung mit diesem wusste die Mutter zu verhindern. Und da geschah eine innere Verschiebung in mir. Die einzelnen Teile, deren ich bisher ansichtig geworden war, ergaben plötzlich Sinn.

Meine Wiedergeburt, das wurde mir in diesem unscheinbaren Moment bewusst, konnte nur einen Zweck haben. Am Ende meines ersten Lebens hatte ich meinen Roman No. 7/III unfertig zurücklassen müssen. Das Fragment, so erkannte ich nun, sollte in meinem neuen Leben wieder aufgenommen werden. Ja, allein aus diesem zweiten Leben würde R7/III möglich. Ich musste zum Unvollendeten zurückkehren und meine Arbeit fortsetzen, zum Abschluss bringen.

Wie ein Gestirn, ein neu eingefangener Mond ging dieses Leben jetzt auf. Meine Neugeburt in Marie war dazu bestimmt, mein Opus magnum zu vollenden. Und hierfür würde ich ihr meinen Willen aufoktroyieren.

II. KINDERFREUNDE

MARIE ERWACHTE, UND ICH schaute in das braune Glasauge von Johnny dem Stoffhund. Neben ihm ragte ein Ohr des Plüschhasen Häschen hervor. Beide waren Wächter über Maries Schlaf und schirmten die linke Flanke ihres Betts gegen nächtliche Ungeheuer ab. Marie blinzelte. Draußen schickte sich ein Spätsommertag an, sonnig zu werden. Er ließ genug Licht ins Zimmer, damit Marie ihre Bettdecke angstfrei zurückschlagen konnte. Darunter lagen zwei namenlose Brummbären, die Maries Beine absicherten. Baby-Puppe Susi hielt ihrer stattlichen Größe wegen ganz allein die gesamte rechte Seite von Eindringlingen frei.

Ich hörte keinen Laut, auch nicht von den Nachbarn, die sich abends, an Wochenenden und feiertags gerne in handfesten Streitereien ergingen, doch zu früher Morgenstunde lieber ruhten. Daher wollte ich den beschaulichen Moment für Schreibübungen nützen. Marie wagte sich aus dem Bett, hopste zu ihrem Schreibtisch, von dem sie sich Malbuch und Buntstifte holte. Wieder zurück, zog sie die Decke bis über beide Ohren, kuschelte sich bäuchlings vor dem Buch zurecht. Während sie die Felder des Malbuchs mit Farben ausfüllte, stiftete ich sie zu einigen Buchstaben auf den freien Flächen neben der Zeichnung an. Ihr Ordnungssinn lehnte sich gegen mein Drängen auf, aber meine Beharrlichkeit überzeugte Marie. Am Rande des Blatts probierte sie sich an Os und Ls in Endlosschleife. Einem Uneingeweihten mochten diese Übungen freilich wie Kritzeleien vorkommen, aber auf das Urteil von Ahnungslosen konnte noch nie erhebliches Gewicht gelegt werden. Aus meinem Leben als Romancier wusste ich über langwierige Vorarbeiten Bescheid, jahrzehntelange Annäherungen auf dem Weg zum großen Werk, welches sich aus vielen Teilabschnitten zusammensetzte. Meine Arbeit mit Marie erinnerte mich daran, wie zahlreich und winzig jene Schritte gewesen waren. Sie war ein regelrechtes Lehrstück in Geduld, denn während ich schon bereit für die Konzeptionierung meines Romans war, musste sie sich noch das Alphabet aneignen. Man kann eben keine Fenster in ein Haus ohne Fundament setzen. Doch ich wusste, Roman No. 7/III war mein eigentlicher und einziger Roman und mit ihm, unter seinem Zeichen, begann ich das Unternehmen eines neuen Lebens: nicht weniger als das.

Marie hielt den Stift in der Faust ihrer linken Hand und setzte Kringel neben die Strichzeichnung einer Matrjoschka, die sie beinahe vollständig in Rot- und Grüntönen ausgemalt hatte. Sie streckte ihre Zungenspitze aus dem Mundwinkel und neigte ihren Kopf, was ihrer gesteigerten Konzentration geschuldet war. Redlich mühte sie sich den Stift an den Ausgangspunkt des Buchstabens zurückzuführen, doch immer driftete die Kurve auf dem Weg im Rund ab und wurde statt zu einem Kreis zu einer Spirale, die sich nach innen verengte oder nach außen zentrifugierte. Marie kämpfte gegen jedwede Abweichung an, wollte meinen Vorgaben zu klarem, sauberem Schriftbild entsprechen, doch dem Stift wohnte ein widerspenstiges Eigenleben inne. Wie oft sie ihre Kreise auch wiederholte, stets kräuselten sich Spiralen über das Blatt, die in der wohlmeinendsten Lesart als L-Loop interpretierbar waren. In Anbetracht der frühen Stunde und der sich tagsüber noch bietenden Gelegenheiten, befand ich meine Geduld für Maries Übungen als ausgereizt. Sie sollte sich dem Ausmalen der restlichen Matrjoschkas widmen, beschloss ich, und sofort ergriff sie einen gelben Buntstift. Da die Kinderzimmertür abends nur angelehnt wurde, damit Marie während des Einschlafens vor Dunkelheit bewahrt blieb, drang plötzlich ein von der Mutter im Vorzimmer verursachtes Rumoren zu uns herein. Ich bat Marie, nachzusehen. Sie stolperte zur Tür, öffnete und spähte hinaus, wo die Mutter zwischen Bad und Küche herumhetzte. Sobald sie Marie am Türrahmen entdeckte, wollte sie ihre Tochter mit Betriebsamkeit anstecken.

»Marie, beeil dich, heute ist doch dein erster Kindergartentag«, sagte sie.

Wochenlang hatte ich Marie davon abgehalten, sich mit diesem unerfreulichen Themenkomplex abzugeben. Als unabwendbares, aber nicht weiter erkleckliches Ereignis wollte ich mir die verbleibende, frei verfügbare Zeit nicht durch allzu intensive Auseinandersetzung mit einer ungewissen Zukunft verleiden. Freilich polemisierte ich gegen den Kindergartenantritt als einen Lebensabschnitt, in den Marie, fünfjährig, den Windeln entwachsen, des aufrechten Gangs mächtig, hineingepeinigt werden sollte. Ich legte ihr schonungslos die Härte der bevorstehenden Epoche dar: Verlust jeglicher Selbstbestimmung sowie Aufgabe autonomer Einteilung der Tagesfreizeit – dass Maries Eltern ihr und folglich auch mir Schlafens- und Mahlzeiten vorschrieben, war ohnehin eine unverzeihliche Anmaßung. Der billige Bestechungsversuch der Eltern, die glaubten, mit einer blauen Umhängetasche Marie Lust auf die bevorstehende Vertreibung aus dem Paradies zu machen, wurde selbstredend boykottiert. Hierbei wies ich Marie – Präferenzen und Gusto kennend – wiederholt auf fehlendes Rosa und Ermangelung an Glitzer hin, wodurch sie die Tasche rigoros ignorierte. Doch als artige Tochter unterlag sie nach Wochen der Auflehnung letztendlich den Worten ihrer Mutter. Sie glaubte, alle großen Kindergartenkinder trügen eine solche Tasche und dass sie im Umkehrschluss durch das Tragen der Tasche schon zum großen Kind würde.

Als Marie am Türrahmen lehnte, das Nachthemd noch voller Bettwärme, die nackten Füße schon mit der Kälte der Vorzimmerfliesen infiziert, nahm ich dennoch ihren Widerstand gegen das herandrängende Schicksal war. Zu abstrakt war es bislang am Horizont gestanden, aber nun durch die zur Eile mahnende Mutter belästigte es Marie regelrecht. Sie wollte zurück ins Bett, wollte zu ihren Malutensilien, zu ihren Stofftieren, zu freiem Tun und Lassen. Was auch immer im Kindergarten sein mochte, es war abzulehnen, wenn sie sich dafür derart hetzen musste.

Die Mutter schob Marie unter einem Sermon an Versprechungen in die Küche, setzte sie an den Tisch, wo Kakao im Schnabelhäferl und Gugelhupf warteten. Dann war die Mutter wieder im Vorzimmer, wo sie Schminke und Frisur vervollständigte. Dank meines Zutuns war Marie längst der Schnabelhäferl-Phase entronnen und konnte vorbildlich aus Keramik- und Porzellantassen trinken, sowohl beid- als auch einhändig. Aber emotional hing sie noch an dem Kipp- und Aufsteh-Effekt, als bedürfe sie dieser symbolischen Verheißung.

Mir verschlug es den Appetit, ohnehin kein vorrangiges Bedürfnis nach dem Tod, aber auch Marie kaute lustlos am letzten Stückchen Kuchen und baumelte mit den Beinen. Die Mutter ermahnte erneut zur Eile, zog sie an der Hand ins Bad, wo mit einem feuchten Waschlappen über das Gesicht gewischt und der Zahnhygiene gefrönt wurde. Marie hatte ihre eigene rosa Kinderbürste mit glitzerndem Prinzessinnenaufkleber, sowie eine rosa Zahnpaste. Die sah widerlich aus, roch ebenso, aber wurde von Marie geliebt und ab und zu auch gelutscht. Nach dem Bad schob die Mutter Marie ins Kinderzimmer, steckte sie in Feinripp-Unterwäsche, Wollstrumpfhosen und Hängekleid. Dann bürstete sie Maries Haare und band diese links und rechts der Ohren zu Zöpfen.

»So, jetzt hopp«, war der Aufruf zu finaler Ausstattung. Marie schlüpfte in Schuhe und Jacke. Dank vorhandenem Zippverschluss konnte sie ihre Schuhe bereits alleine anziehen, manchmal jedoch verkehrt. Für die Aufdeckung des Irrtums waren meine Hinweise ungenügend, bedurfte es einer außenstehenden Person. Dann wurde noch die blaue Tasche umgehängt und die Wohnung verlassen.

Auf dem Weg an neuzeitlichen Wohnblöcken und parkenden Autos vorbei, wimmerte Marie an der Hand ihrer Mutter.

»Bitte gib mich nicht weg. Ich will bei dir bleiben«, sagte sie.

Mich rührte die deckungsgleiche Gesinnung in unserer Koexistenz, auch wenn sie von unterschiedlichen Zielsetzungen geprägt war. Die Mutter dementierte, von Abschiebung könne keine Rede sein, vielmehr würde Marie aufgrund allzu guter Unterhaltung nicht mehr nach Hause wollen, wenn sie nachmittags von der Mutter abgeholt werden würde. Sie sprach von unermesslichen Mengen an Spielsachen und Kontaktmöglichkeiten mit anderen Kindern. Marie weinte.

Wir bogen von der Doderer- in die größere, geradlinige Adolf-Loos-Gasse ein. Genau besehen, war die Doderergasse nichts weiter als ein Weg, der von der Adolf-Loos-Gasse abzweigte und nach wenigen hundert Metern wieder zurückführte, nur ein Umweg, beinahe beleidigend. Von der Ecke aus wurde ich eines eingeschoßigen Betonquaders am Ende der Besiedlung gewahr. Hinter dem grauen Rechteck breitete sich ein Jungwäldchen aus, dort wo die Stadtgrenze verlief, diese gleichsam versinnbildlichend. Zwischen Maries Tränen hindurch leuchtete mir das Emblem des städtischen Kindergartens entgegen. Ein rotes Herz, in dem weiße, stilisierte Figuren eines Mädchens und eines Bubens einander die Hand reichten und Kinderfreuden suggerierten. Ich war skeptisch.

Auf den Stiegen zum Eingang des Kindergartens feuerte die Mutter ihr hinterhältigstes Argument ab, das auf Maries edelsten Wert abzielte. »Marie, sei vernünftig, die Mama muss arbeiten gehen«, sagte sie und hielt die Tür auf.

Sogleich missachtete Marie meine Worte, richtete sich an ihrem Ideal auf, wollte ein vernünftiges, großes Mädchen sein, woran zusätzlich ihre blaue Umhängetasche erinnerte. Sie streckte ihren Rücken durch, versuchte ihr Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen, hielt den Kopf hoch und betrat einen langen Korridor, der sich wie eine dunkle Schlucht durch das Gebäude zog.

Marie machte große Augen, ich sondierte die Umgebung. Alles wirkte funktional und schmucklos. Kinder liefen kreuz und quer, einige lachten und schrien, andere sahen stumpf, die Mehrheit suspekt aus. Als letztes Aufbegehren schlug ich Marie vor, sich auf den Boden zu werfen, mit Händen und Beinen um sich zu schlagen, lauthals zu schreien. Sie sollte der Verbannung in diesen Haufen unzurechenbarer Kinder und der Überantwortung an die Willkür inkompetenter Aufsichtspersonen nicht zustimmen. Dass es sich um unfähiges Personal handelte, wusste ich sofort, als ich einer Repräsentantin in blauem Arbeitsmantel ansichtig wurde. Die Tante baute sich vor Marie auf, entnahm ihrer Manteltasche Knabbereien, die sie sich unverzüglich in den Mund steckte. »Na, junges Fräulein, freust dich schon?«, fragte sie.

Marie blieb im Moment des ersten Feindkontakts ton- und bewegungslos. Ihre Mutter stupste sie an, sie solle der Tante die Hand schütteln. Marie gehorchte. Dann ging sie eingeklemmt zwischen Mutter und Aufsichtsperson den Korridor entlang, bis diese ihr wie ein Verkehrspolizist den Weg versperrte und sie in die seitlich gelegene Garderobe einwies. Dort war an den Wänden eine durchgehende Leiste mit Haken angebracht, darunter standen Holzbänke mit Ablagen für Straßenschuhe. Das Mobiliar war kindlichen Körpermaßen angepasst.

Marie sollte sich einen freien Haken für ihre Jacke aussuchen. Nachdem sie einen Platz gefunden hatte, tauschte sie ihre Schuhe gegen Hauspatschen; der Akt läutete ihre Eingewöhnung ein. Die Tante zeigte ihr den angrenzenden Waschraum. Auch hier war alles auf Kindsdimension genormt. Ich spürte, wie die Größenverhältnisse Zuneigung in Marie erregten. Ein Verhalten, das mir an Marie nicht unbekannt war. Sobald etwas oder jemand sich an sie adaptierte, war ihre Sympathie geweckt. »Dann wollen wir mal«, sagte das Aufsichtspersonal, steckte nochmals Knabbereien in den Mund und ging vor Marie in die Kindergruppe. Auf diesem Weg griff Marie nach der Hand ihrer Mutter, denn Vernunft braucht Rückenstärkung.

Es tat sich ein heller Raum mit Fensterfront auf. Tische und Stühle waren wie der Rest der Ausstattung kindgerecht. Im ersten Rundumblick sah ich eine Spiele- und Lese-Ecke, ein Puppenhaus samt Küche. Ein von Jahren und Gebrauch mitgenommenes Schaukelpferd wurde von einem jungen Reiter traktiert. An einer Brio-Eisenbahn waren Kinder über die penible Einhaltung des Fahrplans zu Ungunsten des weiteren Streckenausbaus in Konflikt geraten. Vor dem Fenster erstreckte sich ein weitläufiger Garten mit Sandkiste, Klettergerüst und Schaukel. Alter Baumbestand ließ mich auf ein wenig Erholung im Grünen hoffen.

Marie war von dem sich bietenden Bild angetan. Auch die vorhandenen Musikinstrumente – ich nahm Klanghölzer, Xylophon, Triangel und Blockflöten aus – imponierten ihr. Im Bezug auf Bindungsfähigkeit zur Aufsichtsperson witterte ich Maries Bedenken, aber auch ihren guten Willen, alles in ihrer Macht Stehende für ein gutes Auskommen aufzubringen. Was ihre Aussicht auf eine gelungene Kindergartenexistenz trübte, war die Vielzahl wildgewordener Insassen. Sie wollte eintauchen in das Geheul naturnaher Eingeborener, aufgehen im Trubel, Teil jener Gruppe werden, der sie künftig angehören sollte. Aber sie argwöhnte, dass ihr dieser Wunsch verwehrt bleiben würde. Hier stand sie mit mir als stillem Teilhaber, und dort spielten die anderen. Dazwischen Fremde.

Die Mutter nutzte Maries Chok-Starre, drückte ihr ihre Lieblingspuppe in den Arm, die sie zwecks besserer Eingewöhnung und gesteigerter Behaglichkeit mitgenommen hatte, versprach eine Abholung in wenigen Stunden und verabschiedete sich mit einem Kuss auf Maries Scheitel. Marie klammerte sich an ihre Puppe, überblickte das vorherrschende Chaos und hätte aus einem Gefühl grenzenloser Verlassenheit weinen mögen, wenn sie nicht instinktiv gefühlt hätte, sich mit dieser Geste nur noch weiter ins Abseits zu schießen.

Es dauerte nicht lange und es kam ein Mädchen namens Katharina heran, das reges Interesse an Maries Puppe bekundete. Bisher hatte mir die Gelegenheit gefehlt, Marie den Unterschied zwischen objektbasierter Begierde und realer Zuneigung auseinanderzulegen. Deshalb glaubte Marie sofort, Katharina nähme Anteil an ihrer Person. Ein Irrtum, wie sich noch herausstellen würde. Dem Betrug spielte Katharinas Aussehen in die Hände. Ein liebliches Gesicht wurde von dunklen Haaren umrahmt, ein roter Haarreifen kontrastierte perfekt mit großen Augen. Katharina war zwar schmächtiger als Marie, aber ein Jahr älter. Zusätzlich wies sie einige Monate Vorsprung in der Kindergartenpraxis auf.

Angestachelt von der ihr entgegengebrachten Aufmerksamkeit, führte Marie die Raffinessen ihrer Puppe vor. Dazu setzten sich die beiden etwas abgelegen auf Würfelhocker. Marie drehte die Puppe um, schob deren Pullover in die Höhe, öffnete eine auf dem Rücken befindliche Klappe. In einer Vertiefung lag eine winzige, blaue Schallplatte. Marie zeigte, wie diese abgespielt werden konnte, dabei auf notwendiger Vorsicht und Behutsamkeit insistierend.

»Ich bin müde, ich möchte schlafen«, gab die Puppe wieder, was beide Mädchen zum Lachen brachte.

Ich war mir der Albernheiten, die genügten, um Menschen zu unterhalten, bereits des Längeren bewusst, auch dass Marie in ihrer Kindlichkeit dieses Niveau noch unterbot. Ich sah darüber hinweg, ließ es ihr unter Berücksichtigung ihres mangelnden besseren Wissens und im Zuge eines gewissen Ausgleichs zu der an sie gestellten Anforderung durchgehen.

Katharina wollte den Mechanismus selbst ausprobieren. Sie bedrängte Marie so lange, bis diese ihr die Puppe aushändigte. Sogleich machte sie sich an die präzise Befingerung des Objekts, welches seiner Müdigkeit erneut Ausdruck verlieh. Wieder amüsierte das die Mädchen ungemein. Marie eilte in die Garderobe, entnahm ihrer Tasche weitere kleine Schallplatten in diversen Farben, wobei jede für eine andere Äußerung stand. Die Platten wurden nacheinander in den Puppenrücken eingelegt und abgespielt. Das Gaudium kannte keine Grenzen.

Kinder, die ebenfalls das Geheimnis der sprechenden Puppe ergründen wollten, wurden von den beiden schroff abgewiesen. Kaum gegründet, bildete ihre Zweisamkeit einen hermetischen Kreis um die beiden, den niemand betreten durfte, widrigenfalls er mit Blessuren zu rechnen hatte. Schon in meinem früheren Leben konnte ich beobachten, welch beschämende Eigenschaften Intimität hervorbrachte. Begab sich ein Mensch in Gesellschaft, bildeten sich Eifersucht und Besitzansprüche wie zwangsläufig aus ihm heraus. Und wiewohl die Zweisamkeit die kleinstmögliche Gesellschaft darstellt, bringt sie die blühendsten Auswüchse hervor.

Während Marie ihre neu gewonnene Freundin völlig vereinnahmte, sie mit ihrer Gegenwart förmlich einspann, merkte ich Katharinas Wunsch, sich der Puppe zu bemächtigen. Ich sah ihre begehrlichen Blicke, sah die Zahnräder ihres kriminellen Gehirns ineinandergreifen und den Plan zur feindlichen Übernahme aushecken. Ich rechnete mit einem Überraschungsschlag, der Marie vom Hocker boxen würde, worauf sich Katharina die Puppe unter den Arm klemmen und sie nie wieder hergeben würde. Aber Katharina fiel eine trefflichere Perfidie ein. Sie heuchelte Bewunderung, hielt die Puppe im Arm, spielte wieder und wieder die Schallplatten ab, sprach höchstes Lob aus. So gerne würde sie dieses Wunderwerk ihren Eltern zeigen. Vielleicht könnte sie mit der Präsentation des Mechanismus ihre Eltern überzeugen, ihr eine ebensolche zu kaufen, es wäre sehr liebenswürdig von Marie, wenn sie ihr die Puppe für diesen Zweck überließe.

Marie zögerte. Sie wollte ihren Schatz nicht fremden Händen überantworten. Gleichzeitig wollte sie die frisch geschlossene Freundschaft nicht gefährden. Ich warnte vor Katharina der Bösen. Marie streichelte über das Haar ihrer Puppe, die längst nicht mehr aus Katharinas Klauen befreit werden konnte. Zwischen mahnenden Worten zu Pflege und Obsorge gab Marie ihr Einverständnis zur Verschleppung.

Sobald dies ausgesprochen war, brach Katharina jeglichen Kontakt zu Marie ab und widmete sich exklusiv dem Spielzeug, das nunmehr in ihr Eigentum übergegangen war. Marie war verunsichert ob Katharinas plötzlicher Wandlung. Kurz hoffte sie, das Verhalten ihrer Freundin normalisiere sich nach einiger Zeit, Katharina verliere ihr Interesse, retourniere den illegitimen Besitz und wende sich wieder ihr, Marie, zu. Aber schon bröckelte ihr kindlicher Glaube, wonach sich alles von selbst regeln und einrenken könnte.

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