Kitabı oku: «Samuel, der Tod»

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Nadja Christin

Samuel, der Tod

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Impressum neobooks

Kapitel Eins

An einem grauen Novembermorgen eilt Maurice DuMont zu seiner Arbeitsstelle, völlig in Gedanken versunken und nicht ahnend, dass er sein Ziel niemals erreichen wird.

Monsieur DuMont ist ein stattlicher Mittvierziger, dessen bisheriges Leben wie ein schlechter Traum an ihm vorüber zog. Seine Frau, eine ewig nörgelnde, falsche Blondine, die mit den Jahren immer griesgrämiger wurde, sitzt zuhause ihren breiten Hintern auf geerbten Esszimmerstühlen platt. Nur Maurices Kinder sind sein ganzer Lebensinhalt. Die Zwillingsmädchen Anne und Marie geben ihm einen Grund, wieso er sich jeden Morgen aus dem Bett schält und zur Arbeit geht.

Die großen Hallen des Elektronikkonzerns NEC Corporation sind nur einige Gehminuten von seinem schmucken Häuschen entfernt, somit brauchen die DuMonts nur ein Auto, was wiederum dem Haushaltsbudget zugutekommt. Nicht, dass Maurice wenig Geld verdienen würde, immerhin ist er im Vorstand von NEC, wenn auch auf einer der untersten Stufen. Aber Florence, seine Frau, kann nicht genug Euros zwischen ihren gierigen Wurstfingern spüren, auch, wenn sie es sofort wieder für irgendeinen Schnickschnack ausgibt.

In Gedanken ganz mit seinen kleinen Mädchen beschäftigt, blickt Maurice nicht links noch rechts, eilt nur den feuchten Gehweg entlang, die heiligen Hallen der NEC in einiger Entfernung vor sich.

Plötzlich hinter ihm ein Rascheln, Maurice hebt den Kopf, ohne seinen schnellen Schritt zu verlangsamen, sieht er sich um. Doch er kann nichts entdecken.

»Maurice DuMont?«, erklingt es mit einem Mal laut hinter ihm.

Erschrocken dreht er sich um, gerät beinahe ins Straucheln, hält an. Aber vor ihm liegt nur die graue Straße, ein wenig Dunstschleier, sonst ist nichts zu sehen.

»Ich hätte schwören können …«, murmelt er und sieht genauer hin.

Der dunstige Nebel scheint sich zu verdichten, beginnt Formen anzunehmen. Zuerst ist es nicht ganz klar, was sich daraus ergeben könnte, aber mit der Zeit ist sich Maurice sicher, dass es eine menschliche Gestalt darstellen könnte.

»H-Hallo? Wer ist da? «, fragt er leise in den milchigen Schleier hinein.

Der Nebel verschwindet genauso rasch, wie er gekommen ist. Einen Moment stiert Monsieur DuMont nach vorne, dann schnauft er entrüstet. Ich bin wohl noch nicht ganz wach, denkt er und will sich gerade umdrehen, als jemand in sein Ohr flüstert:

»Ich bin der Tod, Maurice. Deine Zeit neigt sich dem Ende zu.«

Entsetzt wirbelt DuMont herum. Dicht vor ihm steht jemand. Ein schwarzer Umhang verhüllt die gesamte Gestalt, sodass Maurice nicht einmal genau bestimmen könnte, ob es eine Frau oder ein Mann ist. Eine große Kapuze verhüllt den Kopf und das Gesicht liegt im Schatten. Nur zwei rote, glühende Punkte leuchten ihn aus dem Dunklen heraus an. Wie hypnotisiert starrt er auf diese feurigen Kohlenstücke.

»W-Wer sind Sie?«, fragt Monsieur DuMont, er verspürt kaum Furcht, nur eine eigenartige Mischung aus Faszination und Schrecken.

»Ich sagte es bereits.« Die Stimme des Fremden klingt dunkel und scheint in Maurices Kopf einen seltsamen Nachhall zu erzeugen.

»Ich bin der Tod und deine Zeit ist abgelaufen, Maurice DuMont.«

»Nein …«, haucht er und alles an ihm scheint zu zittern.

Auch wenn Maurice bisher mit beiden Beinen fest im Leben stand, und weder an Gott noch an die andere Seite glaubte, so weiß er doch mit einem Mal, dass der leibhaftige Sensenmann vor ihm steht und seine Seele will. Er erkennt es mit der gleichen Klarheit, wie er auch weiß, dass ihm graue Haare aus den Ohren wachsen, oder er drei Muttermale an der rechten Schulter hat, die zusammen ein beinahe perfektes Dreieck bilden.

Die Erkenntnis schießt auf ihn zu, wie ein tosender Hurrikan: Ich muss jetzt sterben.

Er kann nicht ausweichen, oder Schutz suchen, die Worte treffen ihn wie ein Schlag mit dem Hammer. Immer wieder schwirrt der Satz durch seinen Kopf, so lange, bis sich die einzelnen Worte vereinen und nur noch einen völligen Blödsinn ergeben.

»Nein!«, ruft er erneut, nun schon lauter. Er versucht nach hinten auszuweichen, aber kaum hat dieser Plan in seinem Kopf Gestalt angenommen, schon schießt ein Arm unter dem dunklen Umhang hervor und packt ihn am Handgelenk. Mit weit aufgerissenen Augen starrt Maurice auf die Hand des Fremden.

Er sieht seine eigene, rot und rau vor Kälte, seine Manschettenknöpfe und die Ärmel seines grauen Anzuges. Aber all das ist es nicht, das ihm einen solchen Schrecken versetzt.

Es ist die Hand des Fremden. Keine Haut umspannt sie, kein Fleisch, keine Muskeln sind zu sehen. Nur die blanken Knochen und weiße Sehnen, die den skelettierten Arm zusammen halten. Ein grausamer Schauer läuft über Maurices Rücken, alle Nackenhaare stellen sich auf. Er will flüchten, am liebsten so weit weg, wie es nur geht. Aber auch diesmal ist der Tod schneller.

Der seltsame Fremde packt Maurices zweiten Arm und zieht ihn unbarmherzig zu sich heran.

»Du wirst jetzt einen Blick in meine Augen werfen«, sagt der Tod. »Hab keine Furcht, es ist schnell vorbei.«

Monsieur DuMont hebt vom Boden ab, der Fremde zieht ihn zu sich hoch, sodass sie auf Augenhöhe sind. Seine Füße baumeln beinahe einen halben Meter über dem Asphalt. Maurice startet einen letzten, verzweifelten Versuch, sich aus dieser ausweglosen Situation zu befreien.

»Bitte … Bitte. Ich will noch nicht sterben … Ich bin verheiratet, habe zwei süße kleine Kinder … die … die brauchen mich doch … BITTE …«

In seiner Verzweiflung fängt der dicke Monsieur zu weinen an. Er heult so sehr, dass ihm ein wahrer Wasserfall die Wangen hinunter rinnt.

»Bitte … nicht …«

Er schluchzt und zieht die Nase hoch.

»Ich soll dich verschonen, weil du … kleine Kinder hast?«, ertönt es spöttisch aus der Kapuze heraus.

Hektisch nickt Maurice mit dem Kopf, Tränen und Rotz fliegen um ihn herum.

»Ja, ja. Genau … bitte … ich bin noch zu jung zum sterben. Meine Mädchen sind erst zehn Jahre, sie brauchen mich doch noch.«

Hart stellt der Tod den Menschen auf den Gehweg zurück. Beinahe wäre Maurice hingefallen, da seine Beine einfach nachgeben wollten, mit letzter Kraft hält er sich aufrecht.

»Zehn Jahre«, sagt der Tod düster und beugt sich näher zu Maurice. »Zehn lausige Jahre gebe ich dir. Mach das Beste daraus. Sonst …«

Monsieur DuMont faltet die Hände, als wollte er beten, in seinem Kopf erklingt nur der eine Satz: zehn Jahre. Er hat einen Aufschub bekommen. Innerlich jubelt er bereits.

Da zieht der Fremde seine Kapuze zurück. Was zum Vorschein kommt, lässt Maurices Herz beinahe stillstehen. Den Mund zu einem stummen ›O‹ geformt, starrt er sein Gegenüber an.

Der blanke Knochenschädel glänzt hell im trüben Morgenlicht. Aus den Augenhöhlen starren unerbittlich zwei glühenden Kohlestücke auf ihn herab. Als der Totenschädel spricht, hat Maurice das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Der knochige Kiefer bewegt sich nur ein wenig, im Inneren ist keine Zunge zu sehen. Also, überlegt Maurice flüchtig, womit spricht dieser Kerl denn eigentlich.

»Ich hole dich vor deiner endgültigen Stunde, wenn ich sehe, dass du deine Zeit nicht sinnvoll nutzt.«

»Ja … ja … ja«, erneut wackelt DuMont hektisch mit dem Kopf, als wollte er ihn sich selbst von den Schultern schleudern.

Ohne ein weiteres Wort dreht der Tod sich um und geht den Weg, den Maurice gekommen ist.

Monsieur DuMont lässt langsam die Atemluft entweichen, er ist sich nicht sicher, ob er das gerade alles nur geträumt hat, oder ist er wirklich soeben dem Tod von der Schippe gesprungen. Er sieht an sich herab, alles wirkt normal. Nur an seinem Handgelenk ist die Haut ein wenig rot. Probehalber bewegt Maurice das Gelenk, so als wollte er jemandem winken, alles gut, scheint nichts gebrochen oder verstaucht zu sein, nichts, was ihn heute von der Arbeit abhalten könnte.

Schon strafft er die Schultern, hebt den Fuß an, um sich endlich in Richtung Arbeit aufzumachen.

Vor sich sieht er, durch den leichten Dunst hindurch, den Rücken einer bekannten Gestalt. Sein Arbeitskollege, Henri Sabatier. Vielleicht nicht gerade sein Lieblingskollege, aber jetzt wäre ihm sogar seine Schwiegermutter recht – Hauptsache ein Mensch.

Maurice hebt einen Arm, vollendet seinen letzten Schritt und öffnet bereits den Mund, um Henri lautstark zu begrüßen.

Da schießt etwas von links auf ihn zu, stößt ihn weiter hinter die Büsche. So unerbittlich und schnell, dass Maurice es noch nicht einmal richtig mitbekommt. Er ist nicht mehr in der Lage einen Schrei hinaus zubrüllen.

Bei dem Zusammenstoß bricht mit einem leisen Knacken sein Genick. Das erleichterte Lächeln, über Henris Auftauchen, noch auf den Lippen, die Luft noch in seinen Lungen, stirbt Monsieur Maurice DuMont einen raschen Tod. Ohne zu erfahren, wer oder was ihn tötete.

Henri Sabatier dreht sich flüchtig um, runzelt die Stirn. Ihm ist so, als habe er irgendetwas gehört.

Aber hinter ihm ist nur die leere und dunstige Straße. So zuckt er mit den Schultern, schimpft sich selbst einen ängstlichen Idioten und schwört sich, zum wiederholten Mal, ab morgen mit dem Trinken aufzuhören.

*

Das Ding unterdessen, zieht und zerrt den toten Maurice tiefer in die dicht bewachsene Vegetation hinein. Langsam und genussvoll beginnt es den Menschen aufzufressen.

Niemandem, der an diesem trüben Novembermorgen den gleichen Weg wie der arme Monsieur DuMont nimmt, fallen die seltsamen Geräusche auf, die das fellüberzogene Monster verursacht, als es Maurices Kopf wie eine Walnuss knackt.

Erst als helles Blut über den Gehsteig rinnt und sich mit der Nässe vereint, lässt das Tier von seiner Beute ab.

Satt und zufrieden legt es den massigen Kopf in den Nacken und lässt ein schauriges Heulen erklingen. Dann verschwindet es im dunstigen Frühnebel, so als hätte es nie existiert.

DuMonts Blut fließt über den Weg, in den Rinnstein und von dort in einen Abwasserkanal.

Die Dunkelheit legt sich bereits wie eine undurchdringliche Decke über das Land, als sich ein Paar Scheinwerfer durch die engen Straßen der kleinen Gemeinde schneiden.

Cisai-Saint-Aubin bietet einem Reisenden nicht viel, weder im Sommer, noch jetzt, im kalten und tristen November. Das kleine Dorf hat eine überschaubare Anzahl von Einwohnern, ein Geschäft und eine Schankstube, eine Handvoll Sehenswürdigkeiten und das war es bereits. Nichts, das einen Touristen lange aufhält. Saint Aubin liegt abseits der Bundesstraßen, auf halber Strecke von Paris nach Caen, nur für jene zu finden, die es auch finden wollen.

Zielsicher biegt der Fahrer von der Le Bourg in eine kleine Seitenstraße ein, parkt nahe der Mauer und stellt den Motor ab.

Einen Moment verharrt er im Wagen, legt die Hände auf das Lenkrad und starrt durch die Frontscheibe.

Wie schnell doch ein Jahr vergeht, denkt er und verzieht den Mund zu einem flüchtigen Lächeln.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verrät ihm, dass es bis 20.00 Uhr noch drei Minuten sind. Er wird pünktlich sein, wie die vergangenen vierzig Jahre auch.

Jedes Jahr im November wiederholt sich die Szene. Er bleibt die letzten drei Minuten wartend in seinem Wagen sitzen, begutachtet seine Finger, prüft, ob die Krawatte richtig gebunden ist und das kein Fleck die Hose verunstaltet. Beinahe so, als besuche er seine Mutter, die ihm mit einem angefeuchteten Taschentuch einen unsichtbaren Fleck aus dem Mundwinkel wischt. Dabei trifft er nur einen Freund, wenn auch einen langjährigen und sehr guten Freund.

Ein rascher Seitenblick auf die Uhr, noch eine Minute.

Er begutachtet sich selbst im Rückspiegel, streicht sich über die kurzen dunklen Haare und holt eine Sonnenbrille aus der Halterung.

Trotz der Dunkelheit, die draußen herrscht, muss er seine Augen verbergen. Zu schrecklich wäre die Reaktion der Menschen, wenn sie einen Blick auf diese feurigen, roten Augen werfen könnten. Auch dass es bereits schon spät ist, schützt ihn keineswegs, die Vergangenheit hat ihm gezeigt, dass man sich auf vieles verlassen kann, nur nicht auf das Verhalten eines fleischigen Lebewesens.

Entschlossen steigt er aus, schließt leise die wuchtige Autotür und drückt den Schlüssel. Ein kurzes Piepen, die Lichter blinken für eine Sekunde, dann ist alles wieder still.

»Auf ein Neues«, murmelt er vor sich hin.

Er geht die kurze Treppe hoch, an der Zypressengruppe vorbei und biegt rechts ab. Wie immer steht er viel zu schnell vor dem großen Gotteshaus. Die schwere Doppeltür ragt vor ihm in die Höhe, er streckt die Hand aus, legt sie auf die eiserne Klinke. Ein letztes Mal atmet er tief durch, dann betritt er die kleine Kirche von Saint Aubin.

*

Pfarrer Francesco sieht verstohlen auf seine Armbanduhr. Gleich ist es bereits acht Uhr, überlegt er, ich muss mich sputen, er wird wie immer pünktlich sein. Der Pfarrer streicht sich über den Kopf und die spärlichen Haare, die ihm noch geblieben sind. Man darf mit Gott nicht zürnen, wenn man mit großen Schritten auf die siebzig zugeht, selbst der Heilige Vater kann einem in dem Alter keine volle Haarpracht mehr versprechen.

Mit zittrigen Fingern wischt er sich über die Soutane, zupft einen unsichtbaren Fussel weg und zieht sie anschließend glatt.

Auch wenn Francesco nahe der siebzig ist, so wirkt er doch, als sei er höchstens fünfzig, mit einem sportlichen Körperbau, geschmeidigen Bewegungen und einer sanften Stimme, die jeden in seinen Bann zieht.

Francesco wirft einen Blick durch seine kleine Kirche, obwohl sie eigentlich bereits geschlossen ist, so halten sich hier doch noch drei Gläubige auf.

Eine ältere, vertrocknete Dame, die bei den Trauerkerzen betet, ein junger Mann, der in den Bankreihen scheinbar etwas verloren geglaubtes am Boden sucht, und eine Hausfrau, die die Statue der Jungfrau Maria anbetet.

Der Pfarrer hofft inständig, dass die drei bald diese Kirche verlassen werden, denn er erwartet heute hohen Besuch. Sein Gast kommt jedes Jahr zur gleichen Zeit und nur zu einem Zweck: um zu beichten.

Seit nun schon vierzig Jahren nimmt Pfarrer Francesco seinem alten Freund die Beichte ab. Jedes Jahr ist er aufs Neue entsetzt von den Dingen, die er ihm berichtet und doch werden dem Büßer jedes Mal die schrecklichsten Sünden vergeben.

Der Geistliche blickt auf seine Uhr, Punkt acht Uhr.

Mit einem heiseren Quietschen schwingt die Doppeltüre auf, kalte Novemberluft strömt in die Kirche, lässt die drei Gläubigen erschauern. Als packe sie etwas im Genick, drehen sie ihre Köpfe gleichzeitig in Richtung Tür, wer mag zu so später Stunde noch die Kirche heimsuchen?

Auch Francesco sieht seinem späten Besucher entgegen, sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Er hat sich wahrlich kein bisschen verändert, denkt der Pfarrer, er sieht noch genauso aus, wie vor vierzig Jahren:

Die schlanke Gestalt, das schmale Gesicht, braune Haare, alles noch wie damals, er ist kein bisschen gealtert. Nur die Sonnenbrille, stellt Francesco schmunzelnd fest, ist diesmal eine andere. Er passt sie der jeweiligen Mode an und die besagt in diesem Jahr, dass sie schmal und länglich zu sein hat.

Selbst an seiner Kleidung hat der späte Besucher nichts verändert. Der lange Wollmantel verbirgt die schmale Gestalt, darunter, kaum noch sichtbar, ein maßgeschneiderter, grauer Anzug, mit unauffälliger Krawatte und schwarzen Schuhen.

Kaum hat die alte Dame, nahe den Trauerkerzen, einen Blick auf den späten Gläubigen geworfen, schlägt sie ein Kreuzzeichen, erhebt sich und verlässt eiligst die Kirche, dabei versucht sie möglichst zu verhindern, dass sich ihr Weg und der des Neuankömmlings kreuzen.

Ebenso die dicke Hausfrau, die beim Blick auf den Fremden ein leises Keuchen erklingen lässt, schlägt das Kreuz vor der Jungfrau und strebt eiligst dem Ausgang zu.

Nur der junge Mann, in den Bänken, scheint immer noch etwas Wichtiges am Boden zu suchen.

Erleichtet, da sein Gotteshaus nun fast leer ist, geht Francesco auf seinen Besucher zu, streckt die Hände aus, um ihn zu begrüßen.

»Mein Sohn«, sagt er und ergreift die kalten Hände seines Gegenübers.

»Sei mir gegrüßt. Es ist lange her, seit du das letzte Mal den Weg zu mir fandest.«

»Francesco«, es klingt so, als könnte seine Stimme Glas zerschneiden. »Es freut mich, dich wohlbehalten anzutreffen.«

Jetzt endlich scheint auch der junge Mann in den Sitzreihen aufmerksam geworden zu sein. Erst zieht er den Kopf zwischen die Schultern, als wehe erneut ein eisiger Wind durch die Kirche, dann dreht er sich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck um. Seine Augen zucken zwischen dem Pfarrer und dem Fremden hin und her. Der leibhaftige Teufel ist in diese Kirche eingedrungen, stellt der Mann voller Panik fest. Wieso unternimmt Pfarrer Francesco nichts dagegen?

Rasch erhebt er sich, strauchelt und fällt beinahe zwischen die Bänke.

»P-Pfarrer«, stottert er und kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

»Pfarrer, seid auf der Hut. Er … er ist der Leibhaftige.« Der junge Mann stolpert aus den Bankreihen, fällt auf den Mittelgang. Auf allen Vieren bewegt er sich rückwärts von Francesco und seinem Gast weg. Immer wieder zeigt er auf den Fremden und stottert:

»Er ist es … der Leibhaftige … der Tod … er wird uns alle holen.«

»Was redest du denn heute für wirres Zeug, Anton?«, sagt Francesco mit milder Stimme, »das ist ein guter Freund von mir.«

Mit einem Ruck hilft er dem jungen Mann auf die Beine.

»Es ist besser, du gehst nun nach Hause, Anton. Deine Mutter wird bereits auf dich warten und sich sorgen.«

Anton nickt wie ein Besessener, seine Augen immer noch zwischen dem Pfarrer und dem Fremden hin und her werfend.

»Ja, ja … nach Hause … nur weg hier.«

Er reißt sich von Pfarrer Francesco los und rennt stolpernd und strauchelnd zum Ausgang.

Mit einem lauten Knall, der in der gesamten Kirche wiederhallt, schließt sich hinter ihm die große Flügeltür.

Der Besucher hebt fragend eine Augenbraue.

»Das war Anton«, meint der Pfarrer, auf die ungestellte Frage hin. »Er ist ein bisschen … nun ja, anders, drücken wir es mal so aus. Geistig nicht ganz auf der Höhe, aber sonst ein gütiges Mitglied dieser Gemeinde, immer hilfsbereit und …«

Der Fremde hebt eine Hand, was den Redefluss des Pfarrers sofort stoppt.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Francesco. Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten sollte. Immerhin räume ich deine Kirche, alleine mit meinem Auftauchen.«

Gnädig winkt der Pfarrer ab. »Sie werden alle wiederkommen, so wie es auch die Lämmer zur Schlachtbank zieht. Sie sind nichtsahnend und … und dumm. Sorge dich nicht um mich und meine Kirche, mein Sohn.«

»Ich sorge mich nicht, Francesco. Höchstens, dass es zu spät für meine Beichte wird.« Damit streckt er seine schlanken Finger aus und zeigt auf den reichverzierten Beichtstuhl, der an der linken Seite unschuldig auf seine Büßer wartet.

»Pater Francesco, nehmt mir die Beichte ab, auf dass mir die Sünden der Vergangenheit vergeben werden.«

Der Pfarrer schmunzelt erneut.

»Mein Sohn«, meint er. »Dazu bist du doch hier.«

Gemeinsam begeben sie sich zu dem großen Beichtstuhl, der wie ein riesiger Schrank wirkt, das Eichenholz auf Hochglanz poliert, die reichen Verzierungen glänzen matt im spärlichen Licht der Kirche. Der Pfarrer nimmt auf der linken Seite Platz, schließt die Türe und schiebt das Gitter zur Seite. Sein Besuch muss sich auf seiner Seite auf die Knie begeben. Vor dem vergitterten Trennfenster faltet er die Hände, schließt die Augen und atmet einmal tief durch.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Meine letzte Beichte ist genau ein Jahr her, Francesco. Auch heute möchte ich den Heiligen Vater erneut um Vergebung meiner Sünden bitten.«

»Dies sei dir gewährt, Samuel«, murmelt der Pfarrer. »Doch bitte ich dich zuvor, dass du in diesem Heiligen Stuhl deine Brille abnimmst. Ich möchte dir gerne in die Augen blicken, während du bereust.«

»Francesco, du weißt genau …«

»Bitte«, unterbricht der Pfarrer ihn. »Sei nicht albern. Jedes Jahr das Gleiche? Das ist doch nicht dein ernst.«

Nur zögernd nimmt Samuel seine Sonnenbrille ab, verstaut sie in der Manteltasche. Den Blick gesenkt, auf seine gefalteten Hände, beginnt er seine Beichte:

»Ich bereue, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Erbarme dich meiner, Herr.«

Francesco seufzt leise.

»Wie oft im letzten Jahr hast du gesündigt, mein Sohn?«

»Einhundert zwanzig Mal«, antwortet Samuel.

»Oh«, meint der Pfarrer erstaunt. »Das ist viel weniger als sonst.«

Samuel hebt langsam den Kopf, sieht durch das vergitterte Fenster direkt in Francescos blaue Augen.

Auch wenn sie schon lange befreundet sind, so scheint es dem alten Mann doch, als bohre sich der Blick in ihn hinein. Als wühle sich eine gewaltige Kraft durch seine Eingeweide, auf der Suche nach seinem Herzen, um es unbarmherzig zu zerquetschen.

Francesco schnappt ein paar Mal nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er kann seine Augen einfach nicht aus Samuels Blick lösen, so gerne er das auch möchte. Ein lautes Keuchen entschlüpft ihm und er sinkt auf seinem harten Stuhl in sich zusammen.

»Verzeih«, murmelt Samuel und sieht erneut auf die gefalteten Hände. »Ich vergesse immerzu, dass du nur ein Mensch bist.«

»Schon gut«, Francesco räuspert sich verhalten. »Ich … ich habe selbst schuld.«

Ein leichtes Lächeln überzieht das Gesicht seines Freundes. »Da gebe ich dir recht.«

»Also, wo waren wir?«, der Pfarrer streicht sich über das spärliche Haar, versucht sich zu sammeln.

»Du wolltest wissen, warum es im letzten Jahr so wenig Sündenfälle waren«, erinnert ihn Samuel.

»Ach ja«, Francesco hat das merkwürdige Gefühl, völlig neben sich zu stehen. »Also? Wieso so wenige?«

»Ich begann die größte Sünde, in dem ich gegen meinen eigenen Kodex verstieß«, antwortet Samuel leise. »Ich ließ sehr viele Anwärter einfach ziehen. Kinder, ganze Familien, junge Männer, auf die zu Hause eine kleine Kinderschar wartete … nun ja«, Samuel zuckt flüchtig mit den schmalen Schultern. »Eben solche Menschen.«

»Du … du hast sie verschont?« Francesco ist völlig erstaunt.

»Ja«, sagt sein Freund schlicht.

»Verzeih mir die Frage, mein Sohn. Aber … wieso hast du das getan?«

Ein weiteres Mal zuckt Samuel mit den Schultern.

»Einen genauen Grund kann ich nicht angeben.

Es …«, er seufzt kurz. »Ich habe mich einfach besser dabei gefühlt.«

»Besser gefühlt?«, wiederholt Francesco leise den Satz. Dann schüttelt er ungläubig den Kopf.

»Ich verstehe nicht«, sagt er nach einigen Sekunden. »Du lässt sie einfach … gehen? Meinst du das so?«

»Ich gebe ihnen einen Aufschub«, antwortet Samuel. »Zehn Jahre. Sie sollen ihre zusätzliche Zeit weise nutzen.«

Völlig fasziniert schüttelt der Geistliche erneut seinen fast kahlen Schädel.

»Pater Francesco«, sagt sein Freund in seine angestrengten Überlegungen hinein. »Sprecht mich bitte von meinen Sünden los.«

»Nennt mich nicht immer Pater, Samuel. Ich bin nur Pfarrer, aber das habe ich dir bereits hundertmal gesagt.«

Ein leichtes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht.

»Weißt du noch, wie oft du einen der Anwärter laufen ließt?«

Der Büßer hebt den Kopf, rasch blickt Francesco auf seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß ruhen. Nicht noch einmal will er in diese roten Augen sehen, dieses Glühen, das anscheinend direkt aus der Hölle entsprungen zu sein scheint, diesmal wird es ihn umbringen.

»Es hält sich ungefähr die Waage, mein Freund«, sagt Samuel.

Also darum ist in diesem Jahr die Zahl so niedrig, denkt Francesco. Er erinnert sich an all die Jahre davor, da belief sich die Zahl von Samuels Opfer auf mindestens drei-oder vierhundert.

Dem Pfarrer fällt noch etwas anderes auf, sein Freund ist noch wortkarger, als sonst. Samuel hat noch nie viel gesprochen, aber heute muss er ihm jeden Satz förmlich aus der Kehle zerren.

»Samuel, was ist los mit dir? Bedrückt dich etwas? Sprich mit mir, du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst.«

»Es ist … nichts. Ich bin nur müde«, erwidert er.

Der Geistliche lässt ein heiseres Kichern vernehmen.

»Müde? Du?«, er schlägt sich eine Hand vor den Mund, um einen Lachanfall dahinter zu ersticken. Es ist aber auch zu komisch, da sitzt der Tod persönlich in seinem Beichtstuhl und behauptet müde zu sein. Ein Dämon, der bereits seit Anbeginn der Zeit existiert. Rasch denkt Francesco an etwas anderes, er kennt seinen Freund, ausgelacht zu werden gehört nicht gerade zu den Dingen, die er gut ertragen kann.

Der Pfarrer stellt sich Jesus vor, wie er in den Himmel auffährt und von Engelsposaunen dort begrüßt wird. Langsam lässt der Drang zu Lachen nach. Niemand ist darüber erfreuter, als er.

»Verzeih«, flüstert Francesco und räuspert sich unauffällig.

»Es freut mich, dass ich dich erheitern konnte, Pater«, meint Samuel und lächelt schief. »Aber können wir jetzt bitte fortfahren?«

»Sicher«, verstohlen hüstelt der Geistliche in seine Faust.

»Bereust du deine Sünden, mein Sohn?«

»Natürlich«, antwortet der Tod. »Jede einzelne davon. Aus tiefstem Herzen.«

»Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden.

Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Der Pfarrer vollzieht das Kreuzzeichen, ohne Samuel anzublicken. Er hat Angst, sich in den Höllenaugen zu verlieren und selbst in die ewige Verdammnis hinab gezogen zu werden.

Mit rauer Stimme antwortet Samuel:

»Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.«

Auch er bekreuzigt sich.

»Danket dem Herrn, denn er ist gütig«, Francesco schiebt eine Kunstpause ein, aber der Tod nickt nur.

»Der Herr hat dir deine Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.«

»Amen«, meint Samuel und erhebt sich rasch.

»Bis zum nächsten Jahr, Francesco.« Samuel schließt die Beichtstuhltüre hinter sich und will so schnell es geht, diese Kirche verlassen. Er fühlt sich heute hier nicht wohl, hat ein merkwürdiges Gefühl, ganz so, als geschieht in absehbarer Zeit etwas Grausames, etwas Schlimmes und das genau vor seinen Augen.

»Warte, mein Sohn.«

Der Pfarrer beeilt sich aus dem Beichtstuhl heraus zu kommen, läuft hinter Samuel her und packt ihn am Arm. Er sieht, dass sich Muskeln und Fleisch unter seiner Hand befinden, dennoch hat er das seltsame Gefühl, als spürte er unter dem Mantel nur einen dürren Knochen. So als umgebe den Tod lediglich eine, für Menschen sichtbare Hülle, bestehend aus Haut, Muskeln und Fleisch.

Irritiert zieht Francesco seine Hand zurück, sieht auf Samuels Arm und kann es kaum fassen was er gerade fühlte.

»Was wolltest du noch, Pater?« Der Tod ignoriert Francescos verunsicherten Blick.

»Ich … ich weiß es nicht mehr«, murmelt der Pfarrer. Er hat wirklich vergessen, warum er seinen alten Freund aufgehalten hat. Mit dem Griff an seinen Arm scheinen alle Erinnerungen, Wünsche und Hoffnungen, aus Francesco gewichen zu sein.

»Wie gesagt«, sagt Samuel und wendet sich um. »Bis zum nächsten Jahr, Pater Francesco.«

»Hm«, murmelt der Pfarrer vor sich hin und stiert weiter auf seine eigene Hand, fährt mit dem Daumen über die Finger.

Er kann es immer noch nicht glauben, was gerade geschah.

Erst, als sich mit einem lauten Geräusch die Kirchentüre schließt, erwacht der Geistliche aus seiner Starre.

Mit einem leisen Aufschrei sieht er sich um, er ist völlig alleine.

Ein Seufzer der Erleichterung erklingt aus seinem Mund. Er strafft seine Schultern und begibt sich in sein eigenes, heiliges Zimmer, um sich an einer guten Flasche Scotch zu vergreifen.

Erst als die Flasche bereits zur Hälfte geleert ist, gestattet sich Francesco, erneut darüber nachzudenken, dass der Tod scheinbar anfängt, die Totgeweihten zu verschonen.

Tief in seinem Sessel vergraben, das spärliche Haar wirr um seinen Schädel, und ein Glas mit köstlicher, bernsteinfarbener Flüssigkeit gefüllt, wirft er den Kopf in den Nacken und lacht laut und herzhaft.

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