Kitabı oku: «Soad und das Militär»

Yazı tipi:

NAJEM WALI

SOAD
UND DAS MILITÄR

ROMAN

Aus dem Arabischen

ins Deutsche übertragen

von Christine Battermann

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Soad wa al-Askar – –«.

© 2020 Darstoor, Bagdad

Die vorliegende deutsche Ausgabe wurde

in Zusammenarbeit mit dem Autor vollständig überarbeitet.

Erste Auflage

© 2021 by Secession Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Christine Batterman

Lektorat: Christian Ruzicska,

unter Mitarbeit von Barbara Wahlster

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.


Typographische Gestaltung: Erik Spiekermann, Berlin

Satz: Marco Stölk, Berlin

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN: 978-3-996639-035-4

eISBN: 978-3-96639-036-1

Für die Wiedergabe der Zitate verwendete Übersetzungen:

William Shakespeare: Hamlet. Prinz von Dänemark. Tragödie. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Herausgegeben von Dietrich Klose, Stuttgart 2001

Rimbaud: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann, Frankfurt 1992

Denis Dawydow: zit. nach Henri Troyat: Kopf in den Wolken, München 1979

Die Bibel nach Luthers Übersetzung. Lutherbibel. Revidiert 2017

Die reizende Ophelia. – Nymphe schließ’

In dein Gebet all meine Sünden ein!

SHAKESPEARE, HAMLET

Ophelia ist niemals ertrunken.

Sie liegt als unversehrtes Juwel unter den Trümmern.

MALLARMÉ, DIVAGATIONS

Auf stiller, schwarzer Flut, in der die Sterne schweben, Treibt, einer Lilie gleich, Ophelia entlang, Sehr langsam treibt sie hin, von Schleiern weiß umgeben …– Vom fernen Walde hört man eines Jagdhorns Klang.

RIMBAUD, OPHELIA

Zu viel hab ich geweint um eine Schöne, Zu viel geweint in meinen Nächten ohne Schlaf.

DENIS DAWYDOW

FÜR S. H. – in Erinnerung an einen Frühling, der nicht kam.

Inhalt

AM ANFANG WAR KAIRO

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

EINE ART NACHWORT

AM ANFANG WAR KAIRO

BIS ZU DEM AUGENBLICK, da ich mich von meinem koptischen Freund Mina Roxy Thomas verabschiedet und die Saraya-al-Azbakiya-Straße im Zentrum hinter mir gelassen hatte, hätte meine letzte Kairo-Reise noch als Routinetrip gelten können. Alles war wie bei meinen früheren Besuchen auch. Weder hatte ich etwas erlebt, was es wert gewesen wäre, nun davon zu berichten, noch war in der Stadt irgendetwas vorgefallen, was ihr einen Platz in den internationalen Nachrichten eingeräumt hätte. Von drei kleinen Explosionen einmal abgesehen – einer am Stadtrand, genauer gesagt in Gizeh, und einer weiteren vor dem Justizministerium. Bei der dritten handelte es sich um einen Knallkörper, den irgendjemand in Zamalek vor der Lufthansa-Niederlassung in der Straße des 26. Juli gezündet hatte. Die Warnung des deutschen Außenministeriums Ende Januar 2014, drei Tage vor meiner Abreise, war mir demnach höchst übertrieben erschienen, hatte man deutschen Touristen doch nicht nur geraten, am ägyptischen Wochenende, freitags und samstags also, im Hotel zu bleiben, sondern sich auch noch unter der Woche an einen sicheren Ort zurückzuziehen. Komische Idee, dachte ich, wer verreist denn schon, um seine Zeit im Hotel zu verbringen?

Mein Aufenthalt war von Anfang an wie geplant verlaufen. Ich war für einen deutschen Autor eingesprungen, der seine Lesung im Goethe-Institut Kairo aus Angst kurzfristig abgesagt hatte. Zunächst wohnte ich im Stadtzentrum in der Talaat-Harb-Straße und traf mich dort mit ein paar Freunden. Tagsüber fanden wir uns in der Innenstadt im Café Zahrat el-Bustan zusammen oder im Café Riche, zwei bekannten Treffpunkten für junge und ältere ägyptische Intellektuelle. Abends waren wir meist im Greek Club am Maidan Talaat Harb oder im Restaurant Le Grillon etwas trinken. Ich sah mir die Buchmesse in Nasr City an und spazierte durch Abbasiya, durch Dokki und Bab al-Louk, durch Azbakiya, Tawfikeya und Al-Hussain. Dann folgte mein Umzug ins Hotel Longchamps in Zamalek und die Lesung im Goethe-Institut mit anschließendem Abendessen im Restaurant Aperitivo. Die Lesung war gut besucht, die Präsentation meines neuen Romans ein Erfolg. Er handelt von der Freundschaft zweier Soldaten, eines Amerikaners und eines Irakers, die sich während des Kuwaitkrieges zufällig begegnen. Das Publikum zeigte sich an der Diskussion sehr interessiert, die sich hauptsächlich um die Rolle des Militärs im Allgemeinen drehte. Das Motiv meines Romans schien wie zugeschnitten auf die momentane Lage in Ägypten. Nur ein kleiner Teil der Besucher hielt sich mit Fragen zurück. Am nächsten Tag lud mich Mina Roxy Thomas zum Abendessen ins Hotel Windsor im Stadtzentrum ein, unweit des verkehrsreichen und belebten Maidan Ataba und doch recht abgelegen in einer Nebenstraße. Bei alledem war nichts geschehen, was ich unbedingt jemandem erzählen müsste. Selbst dass meine frühere Geliebte Kismet mich nicht hatte treffen wollen, obwohl wir uns während der gut sechs Jahre seit meinem letzten Aufenthalt in Kairo nicht mehr gesehen hatten – selbst diese Zurückweisung hatte nicht viel zu bedeuten. Dass eine Frau ihrem ehemaligen Freund ein Wiedersehen verweigert, kann einem in jeder beliebigen Stadt der Welt passieren.

Als man mich eingeladen hatte, die Lesung im Goethe-Institut zu übernehmen, fühlte ich eine angenehme Erregung und war neugierig zu sehen, wie mich Kairo diesmal empfangen werde. Seit meinem letzten Besuch 2008 war, wie man so sagt, viel Wasser den Nil hinuntergeflossen. Die ersten drei jener sechs Jahre, die noch der Ära Mubarak angehörten, waren relativ ruhig verlaufen, doch in den drei Folgejahren, genauer vom 25. Januar 2011 bis hin zu meiner Reise, hatten sich die Ereignisse überstürzt. Die Revolution, der sogenannte Kairoer Frühling, war über die Stadt hereingebrochen, aufregend für die Jugend, die, wie es schien, bereit und verzweifelt genug war, den Protest als eine Art Action zu betrachten, mit der sie nachholen konnte, was ihr unter Mubarak verboten war. Ich hatte die Ereignisse über die Medien verfolgt, und jetzt, als ich die Stadt durchstreifte, war ich enttäuscht. Was nicht etwa daran lag, dass ich auf der Suche nach außergewöhnlichen Geschichten zur Revolution keine einzige starke gefunden hätte, nein, es lag an mir selbst. Von mir war ich enttäuscht, weil ich mich unbewusst meiner Angst überlassen hatte, als wäre ich ein Tourist, der der Warnung des deutschen Außenministeriums brav Folge leistete. Die Nächte in meinem Hotel im Stadtzentrum, jeweils etwa zweihundert Meter vom Maidan Tahrir und dem Maidan Talaat Harb entfernt, verbrachte ich größtenteils wach, auf jeden Schritt lauschend und stets die Tür im Auge. Nie werde ich den Moment vergessen, als ich wegen eines Geräusches hochschreckte, das ich für eine nahe Explosion gehalten hatte, dann aber auflachen musste, als ich ein paar Katzen fauchen hörte, die beim gemeinsamen Kampf aufs Blechdach des Nebengebäudes gesprungen waren. Auch ich übertreibe also, sagte ich mir, genau wie jene Journalisten, die von der »spürbaren Gefahr und Anspannung« geschrieben hatten, die sie in den Straßen wahrnahmen. Das gestand ich dann auch am nächsten Abend meinem koptischen Freund Mina Roxy Thomas, der mit zwei Bekannten im Restaurant des Windsor auf mich wartete. Der eine von ihnen, ein britischer Mittdreißiger namens Samuel Horokis, arbeitete in einem Städtebauunternehmen. Die andere, Irina, war gerade dreißig geworden und russischer Abstammung, besaß jedoch die französische Staatsbürgerschaft. Sie arbeitete damals für eine christliche Organisation, die sich Asmaa nannte, was »Namen« bedeutet, und Familien frühgeborener Kinder fachlichen Rat und pädagogische Betreuung anbot. Ich sei selbst überrascht, wie sehr ich mich von den Übertreibungen, mit denen die Medien die Situation in Ägypten und speziell in Kairo schilderten, hätte beeinflussen lassen, erklärte ich den dreien offenherzig. »Deine Reise ist ja noch nicht zu Ende, warte mal ab!«, sagte Mina Roxy Thomas daraufhin. Ich wusste nicht, ob dieser Satz als Kommentar oder Warnung gedacht war. Doch als Mina mir an der Kreuzung Mohammed-Bek-Al-Alfi und Zakareya-Ahmed zum Abschied die Hand reichte, um anschließend in Richtung Orabystraße zu verschwinden, wiederholte er seine Aussage. Kaum aber hatte ich die Saraya-al-Azbakiya-Straße mit ihren zahlreichen Cafés und Restaurants hinter mir gelassen, um auf die Straße des 26. Juli zuzugehen, geschah, was alle meine bisherigen Überlegungen zu der Reise über den Haufen warf. Ich hörte hinter mir Schritte.

Zunächst vermutete ich, zu viel getrunken zu haben, und hielt diese Schritte, die auf dem Weg quer durch die sich auf beiden Straßenseiten drängenden fliegenden Händler ihren Rhythmus dem meinen anzupassen suchten, für die eines jener Touristenjäger, die in den späten Abendstunden immer unterwegs waren. Doch waren solche Leute für gewöhnlich nicht eher an Frauen interessiert? Hatte sich Irina nicht eben noch über derartige Belästigungen beklagt und Mina Roxy Thomas gebeten, ihr ein paar ägyptische Schimpfwörter auf einen Pappkarton zu schreiben, den sie bei Bedarf ihren Nachstellern unter die Nase halten wollte? Obwohl doch niemand von diesem mageren, scheuen und höflichen jungen Mann verlangen konnte, irgendwelche Schimpfwörter niederzuschreiben! Dies und Ähnliches schoss mir nun durch den Kopf. Auf jeden Fall fragte ich mich, ob diese Schritte, die mich zu verfolgen schienen, nicht einfach von einem der Tausenden von Marktbesuchern stammen mochten, auch wenn das rhythmische Geräusch auf dem Gehsteig gutes Schuhwerk verriet. Aber warum sollte dessen Besitzer nicht etwa ein wohlhabender Ägypter sein? Und warum sollte der nicht auch, genau wie ich, Richtung Maidan Falaki in Bab al-Louk gehen, um seinen Abend in einem Café zu beschließen, zum Beispiel im El Horryia, das spätabends immer rappelvoll war?

Natürlich dachte ich darüber nach, mich umzudrehen und einen Blick auf die Person zu werfen, die ihre Schritte den meinen rhythmisch anglich. Beinahe hätte ich meinen Gang beschleunigt, wäre ich mir nicht lächerlich vorgekommen. »So weit ist es also schon gekommen mit deinen Halluzinationen!«, dachte ich. Als sich die Schritte aber nun regelrecht an meine Fersen hefteten und ich die Geräusche der fremden von denen meiner eigenen Schuhe kaum mehr unterscheiden konnte, hörte ich plötzlich eine Stimme, die mir vertraut erscheinen wollte, deren Besitzer ich aber nicht sogleich identifizieren konnte, etwas in mein Ohr flüstern. Ich war also nicht betrunken, es ging tatsächlich um mich, und dieser Mann forderte mich nun auf, links in die nächste Gasse einzubiegen! Wie seltsam, dachte ich mir. Und hätte ich mich nicht an die Stimme erinnert, wäre ich wahrscheinlich losgerannt oder hätte um Hilfe gerufen. Zumindest aber wäre ich seiner Aufforderung, ihm einfach zu folgen, gewiss nicht nachgekommen. Dank einer schwach glimmenden Laterne, die in jener engen Gasse brannte, konnte ich Gesicht und Statur des Mannes genauer in Augenschein nehmen und fand mich in meiner Vermutung bestätigt.

Es war Simon Syros, der mysteriöse Amerikaner, wie er bei all seinen Bekannten hieß. Ich hingegen hatte damals, als wir uns kennengelernt hatten, nichts Mysteriöses an ihm gefunden und ihn auch nie so genannt.

Ja, Simon und kein anderer stand in jener Nacht vor mir. Weder der Mantel, den er trug und der in Wahrheit einem Dschilbab ähnelte, noch der um seinen Hals geschlungene braune Schal, weder die dunkle Brille, noch die gestreifte Kappe auf seinem Kopf, die mich an ägyptische Schwarz-Weiß-Filme aus den Sechzigerjahren denken ließ, ja, nicht einmal der Bart, den er sich hatte stehen lassen, noch seine leicht verstellte Stimme – alles in allem, wie ich bald erfahren sollte, Versuche einer Tarnung – hatten mich daran gehindert, ihn wiederzuerkennen.

Ein paar Sekunden verharrten wir in jener kleinen Gasse. Wir umarmten einander, schließlich hatten wir uns gut dreizehn Jahre nicht gesehen. Allerdings vollkommen geräuschlos. Wer uns dort hätte stehen sehen, hätte sich gewundert, dass wir, anders als üblich, keinerlei Überschwang der Wiedersehensfreude zeigten. Simon flüsterte mir nur ins Ohr, dass er sich nicht länger in der Gegend aufhalten könne und dass wir besser seine Unterkunft aufsuchen sollten. Bevor ich, in der Annahme, er wohne noch immer in Zamalek, erwidern konnte, dass wir uns doch ein Taxi nehmen sollten, gebot er mir mit dem Zeigefinger zu schweigen. Dann zog er mich mit sich fort.

Wir ließen erst eine Gasse hinter uns, dann die nächste, bogen in zwei weitere ab, hier links, hier rechts, wieder rechts und wieder links, immer weiter durch die Nacht. Er ging schnell, zügig, zielstrebig, während ich mich an seiner Seite zu halten suchte. Ich hatte keine Ahnung, welchen Weg wir nahmen oder wo wir schließlich landen würden, und verließ mich auf seine Führung. Er kannte sich in dieser Gegend aus, vor allem kannte er die Lokale. Auch wenn er die meisten von ihnen in jener Zeit, als wir uns kennengelernt hatten, nie frequentierte, hatte er gern in einem von ihnen, dem Restaurant Arabesque mit seiner angeschlossenen Bar, Klarinette gespielt. Gewohnt hatte Simon damals stets in Gegenden, die von hier, wo wir jetzt herumliefen, weit entfernt lagen. Das Viertel hatte sich seitdem stark verändert. Wer in diese Gassen vordringen wollte, musste vor allem seine Sinne schärfen. Simons Art, sich fortzubewegen, sein wiederholtes Umwenden, deutete darauf hin, dass er erwog, verfolgt zu werden. Er hatte sich eine innere Landkarte erschaffen und im Gedächtnis bewahrt. Wie ein Schachprofi konnte er Dutzende Züge kombinieren. Kairo hatte im Auge dessen, der die Stadt nach einer gewissen Zeitspanne wieder aufsuchte, einen enormen Wandel erlebt. Einzig seine Einwohner hatten diese Veränderung erst vor drei Jahren wirklich wahrgenommen, als sie sich, eines Morgens beim Aufwachen, plötzlich ohne die Ordnungskräfte des Staates wiederfanden. Meine persönlichen Erinnerungen an Kairo erschienen mir nun wie ein Fotoalbum aus längst vergangenen Zeiten, in denen junge Paare Hand in Hand über die Nil-Promenade flanierten, die Mädchen in kurzen Röcken, die jungen Männer mit langem Haar und in engen Jeans. Man saß damals auf den Terrassen der offenen Cafés, lachte und genoss seine Freizeit. Heute war alles anders. Der religiöse Fanatismus hatte inzwischen das Land wie eine Epidemie überfallen, und zugleich glichen die Straßen, Gassen und Gässchen, durch die wir gerade zogen, einem offenen Markt, wo fliegende Händler von jedem noch so kleinen Stück Gehsteig Besitz ergriffen hatten. Wer für seinen Tisch keinen Platz mehr hatte finden können, musste improvisieren und Plastikplanen, große Tücher oder Pappstücke direkt auf den Boden ausbreiten, um seine Ware feilzubieten. Verkauft wurden Kleidung, Spiele und Elektroartikel, hier und da Dosen mit Softdrinks oder Esswaren, vor allem Ful und Taamiya. In dieser Gegend war die Landflucht der Ägypter mit Händen zu greifen. Aber, anders als ich zunächst vermutet hatte, war diese nicht der Grund dafür, dass die Einwohnerzahl Kairos in den letzten Jahren um ein Vielfaches angewachsen war, die Menschen hatten sich früher schlichtweg auf Friedhöfen, Müllkippen und den ringsum liegenden Hügeln niedergelassen und es nur selten gewagt, bis in die Stadt vorzudringen. In den letzten drei Jahren jedoch war dies vermehrt geschehen. Im Stadtzentrum war der Staat abwesend, seine Machtstrukturen zerfallen, die Polizei kaum präsent. Allein das Militär und seine Panzer waren überall gegenwärtig. Die Militärs hatten zunächst nicht in die Proteste eingegriffen und abgewartet, bis der Hass der Jugend gegen die Muslimbrüder aufgeflammt war. Damit war ihr Moment gekommen. Sie hatten das Vakuum genutzt, die Schwäche des Staates und der Polizei, um ihre Macht zu demonstrieren und als Beschützer der Protestierer auf den Plan zu treten.

Als wir nun endlich in eine menschenleere, enge dunkle Gasse traten, in der ein einziger Lichtstrahl von einem Balkon auf uns herableuchtete, blieb Simon stehen. »Komm mit hinauf!«, sagte er mit seiner nun natürlichen Stimme und wies auf ein Hotelschild an dem besagten Balkon. »Exquisite Getränke habe ich keine zu bieten, aber wir teilen, was ich habe.«

Das Layali al-Qahira gehört zu jenen Hotels, für die Kairo einst berühmt war. Die meisten dieser Etablissements belegen den ersten, zweiten oder noch höher gelegenen Stock eines in einer Sackgasse errichteten Gebäudes. Unterkünfte wie diese des Nachts zu betreten, ist für jemanden, der Kairo nicht kennt, beängstigend. Tagsüber lässt es sich vermeiden, mit dem alten, meist Angst einflößenden Lift nach oben zu fahren. Nachts allerdings wird es schwierig, die Treppen zu nutzen, auf denen die Bawwabs der Firmenbüros schlafen, die mehrere Stockwerke eines solchen Gebäudes belegen. Diese Häuser wurden Ende des neunzehnten oder Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet – geräumig, bequem und größtenteils vornehm gestaltet. Doch der einsetzende Tourismus mit seinen neuen Reisezielen zu diversen Badeorten und den Ufern des Nils sorgte dafür, dass die Hotels im alten Kairo ihren Glanz verloren und ihr Niedergang einsetzte. Sie füllten sich allmählich mit Gästen, die vom Land kamen oder als ledig lebende Angestellte aus Kairo selbst stammten oder als alleinstehende Frauen aus anderen Städten der Arbeit wegen hergezogen waren. Im Zuge dessen teilte man die alte Architektur neu auf, verkleinerte die einst großzügig gehaltenen Räume, riss Wände ein und baute zusätzliche Zimmer auf den Fluren, den Dächern, den Balkonen. Das Vienna Hostel etwa, meine Unterkunft während der ersten Tage meiner Reise, und das Windsor, wo ich noch ein, zwei Stunden zuvor etwas getrunken hatte, liefern Beispiele für das Leben im alten Kairo. Hier hatten sich bis in die Achtzigerjahre hinein die Vergnügungslokale und Bars aneinandergereiht, Seite an Seite mit Nachtclubs, in denen auf Bühnen gesungen und getanzt wurde, während die Gäste im Zuschauerraum vor ihren Getränken und Appetithäppchen saßen und zuhörten.

Das Hotel Layali al-Qahira wirkte, als könne es jeden Moment in sich zusammenbrechen. Selbst die steinernen Stufen, die zu Simons Zimmer hinaufführten, schienen unter unseren Tritten zu zerbröseln. Glücklicherweise ließen die vier oder fünf Männer, die sich in ihren oberägyptischen Dschilbabs und Kufijas mit Pappen als Betten auf den Treppenabsätzen schlafen gelegt hatten, den Gästen des Hotels einen kleinen Durchgang. Vielleicht war ihnen auch bewusst, dass der Aufzug nicht funktionierte – falls es überhaupt einen gab, mir war jedenfalls bei meinen beiden Besuchen dort keiner aufgefallen. Als wir die Treppen hinaufgingen, wirbelten wir mit jedem Tritt eine kleine Staubwolke auf, sodass ich mir größte Mühe geben musste, nicht zu niesen. Selbst die Wände und Decken im Hotel waren von einer dichten Staubschicht überzogen.

Simons Zimmer schließlich ähnelte einer Gefängniszelle, wie man sie aus dem Kino kennt oder einige von uns sie auch tatsächlich erlebt haben. Der Raum war klein und dunkel. Das Bett, auf dessen Rand ich mich setzte, besaß keine Pfosten, die Matratze war nicht bezogen, die drei kleinen Kissen und die Bettdecke ebenso wenig. In einer Ecke befand sich ein winziger Tisch. Toilette und Bad lagen auf dem Gang. Dass Simon, der früher höchst komfortabel in einer mehr als hundert Quadratmeter großen Wohnung in Zamalek gelebt hatte, deren Architektur dem Pariser Jugendstil verpflichtet war, nun in diesem Hotel in einem solchen Zimmer nächtigte, wunderte mich. Was mich allerdings noch mehr erstaunte, war der kleine Kocher auf dem Tischchen. Alles deutete darauf hin, dass er es vermied auszugehen und sich sein Essen selbst zubereitete. Die wenigen Teller und Löffel, die Gewürze und zwei angebrochene Tüten Zucker und Salz verstärkten diesen Eindruck.

»Nun siehst du, wohin es deinen Freund verschlagen hat«, sagte er und stellte sich ans Fenster, von dem sich, als er es öffnete, Staub erhob. »Hätte ich es dir in einem Café erzählt, hättest du mir nicht geglaubt.«

»Wie dem auch sei«, antwortete ich, »nun sehe ich es ja.«

»Wie dem auch sei«, nahm er meinen Satz auf Hocharabisch auf, »wir müssen unser Wiedersehen nach all den Jahren feiern.«

»Das machen wir, mein Freund!«, erwiderte ich lächelnd und neugierig darauf, was er in den vergangenen dreizehn Jahren erlebt haben mochte.

Am letzten Abend, an dem ich Simon gesehen hatte, war ich, wie an den Abenden zuvor auch, wegen meiner Geliebten Kismet ins Restaurant Arabesque gegangen. Sie sang hier hin und wieder mit einer Band aus drei Instrumentalisten, die Riq, Gitarre und Klarinette spielten. Mit Ausnahme des Klarinettisten, Simon, weiß ich ihre Namen nicht mehr, ich hatte aber auch kaum Kontakt zu ihnen. Wie gewöhnlich saßen Kismet und ich an jenem Abend an einem reservierten Tisch und warteten auf Simon, der sich noch schnell von seinen Kollegen verabschieden wollte. Als er wenige Minuten später erschien, sah ich ihn jedoch direkt auf einen an der Bar sitzenden elegant gekleideten Mann zusteuern, der, was mir merkwürdig erschien, der schummrigen Beleuchtung zum Trotz eine dunkle Sonnenbrille trug. Sein Alter war schwer zu schätzen, auf jeden Fall war Simon deutlich jünger als er. Tatsächlich hatte ich diesen Mann hier noch nie gesehen. Bei einem Getränk unterhielten sich die beiden. Der Mann hatte ein Glas Orangensaft vor sich stehen, Simon hingegen trank, wie üblich, ein Glas Rotwein. Während ihres gesamten Gesprächs kehrten uns die beiden den Rücken zu. Waren die Handbewegungen des Mannes aufgeregt? Ich bin mir nicht sicher. Dann sah ich plötzlich, wie er Simon am Arm festhielt und die Rechnung unterschrieb. Anschließend verließen sie gemeinsam die Bar.

Das hatte sich, soweit ich mich erinnere, im Frühjahr 2001 zugetragen. Ich hielt mich damals wegen einer Recherche über Tabus im arabischen und europäischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts etwas länger in Kairo auf. Nach besagtem Abend rief ich Simon mehrmals an, aber er nahm nie ab. Als ich schließlich seine Wohnung in Zamalek aufsuchte, sagte man mir, er lebe dort nicht mehr. Wohin er gezogen war, konnte mir der Bawwab nicht sagen. Die Concierge jedoch, Sitt Inayat, die zufällig zugegen war, ließ, als sie meine Frage vernahm, eine Bemerkung fallen: »Vielleicht arbeitet er ja heute bei Gott.« Hätte Kismet mir daraufhin nicht versichert, es sei dies nicht das erste Mal, dass Simon verschwunden war, hätte ich die Polizei gerufen oder gleich die amerikanische Botschaft alarmiert. Kismet hatte damals seit zwei oder drei Jahren schon an manchen Abenden mit der Band gesungen, wie sie mir sagte, und sie und ihre Musiker waren mindestens zweimal von Simons Abwesenheit überrascht worden: »Ganz plötzlich war er verschwunden, ohne ein Wort zu sagen!« Und jedes Mal hatte Simon tags darauf eine knappe Nachricht hinterlassen, dass er in ein paar Wochen zurück sei, wobei er auch nach seiner jeweiligen Rückkehr keinen überzeugenden Grund für sein plötzliches Verschwinden genannt hatte. Als Entschuldigung musste stets das Wörterbuch herhalten, an dem er seit Jahren arbeitete. Es habe ihn, so Kismet, gezwungen, hin und wieder zu verreisen. »So ist es halt mit ihm, er kommt und geht, wie er will«, seufzte sie. Wenn ich mich dann, bei meinen weiteren Kairo-Reisen, nach ihm erkundigte, machte sie nie einen Hehl aus ihrer Verwunderung über sein Benehmen. Ich erinnere mich noch an eine ihrer Bemerkungen, die mir lange in den Ohren nachklang und mich vorsichtig hatte werden lassen, vor allem, da die Beziehung zwischen ihr und mir gerade in eine kritische Phase getreten war: »Frag nicht nach ihm, sonst heißt es noch, du bist ein amerikanischer Spion!«

Und jetzt, nach all den Jahren, sah ich ihn wieder, Simon, den mysteriösen Amerikaner! Er hatte den Geschichten anderer gelauscht, nie jedoch etwas von sich selbst preisgegeben. Vielleicht lag darin der Grund, dass man ihn den mysteriösen Amerikaner nannte. Ich hätte ihn damals höchstens »Simon, den Dandy« genannt, da er stets einen weißen Anzug trug, ein weißes Hemd, ein weißes Einstecktuch und rote, auf Hochglanz polierte italienische Schuhe, und weil er nie, auch an den heißesten Sommertagen nicht, ohne eine entsprechend elegante Krawatte zu sehen war.

Mir war es, was er auch wusste, nie verdächtig vorgekommen, dass er neben seiner Tätigkeit als Verfasser eines Wörterbuchs noch weitere Berufe ausübte. Es hatte damals geheißen, er habe im Café Riche mit Leuten zusammengesessen, die in Nagib Mahfus’ Romanen Harafisch genannt werden, womit jene Clique gemeint ist, zu der Schauspieler, Dichter, Künstler, Ex-Militärs und andere zählten, die sich in ihren Freiheiten nicht beschränken lassen wollten. Was mich betraf, so fand ich sein Verhalten manchmal ein wenig sonderbar, weiter ging ich in meinen Interpretationen nicht. Als hätte ich auf diesen heutigen Moment gewartet, als hätte ich damals schon gewusst, dass der uns bekannte Simon, der anderen immer zugehört und die Menschen, die er kennenlernte, immer voller Neugier darum gebeten hatte, ihre Seelen vor ihm auszubreiten, eines Tages selbst an der Reihe sein würde, von sich zu erzählen.

Ich fragte ihn nicht, wo er all die Jahre gewesen sei, da ich ahnte, dass er mich gesucht und gefunden hatte, um es mir mitzuteilen.

»Tut mir leid, dass du in solch einer Lage bist«, meinte ich mit einem Seitenblick auf einige verstreut auf seinem Bett liegende ägyptische Zeitschriften. Was wohl eine Verlegenheitsbemerkung meinerseits war, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und fürchtete, dass unsere Blicke sich kreuzen könnten. Damit er den Satz nicht als Mitleidsbekundung verstand und sich ganz gegen meine Absicht gedemütigt fühlte, fügte ich hinzu: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich nach all diesen Jahren wiederzusehen!«

Wohl weil er nicht wollte, dass ich mich von den Schlagzeilen der offen daliegenden Zeitschriften ablenken ließ, die über die Öffnung und Durchsuchung des Grabes einer bekannten Schauspielerin berichteten und den Diebstahl eines einzigartigen Gemäldes aus einer Londoner Galerie erwähnten, sammelte er sie rasch ein und legte sie auf die kleine Kommode neben dem Bett. Doch statt ihn zu fragen, seit wann er denn Boulevardmagazine und Promiklatsch lese, musste ich plötzlich laut auflachen. Als er mich daraufhin erstaunt anblickte, wies ich darauf hin, dass er in seinen Kleidern wie ein oberägyptischer Bawwab aussah.

»Besser gesagt wie ein Bettler«, lachte er nun seinerseits und legte Mantel und Kopfbedeckung ab, sodass sein blondes Haar zum Vorschein kam. In mein Sichtfeld geriet auch eine kleine Pistole, die er wie die Geheimagenten im Film unter der Achsel trug. Es störte ihn offensichtlich nicht, dass ich die Waffe sah, vielmehr nahm er sie aus dem Holster und legte sie wie selbstverständlich aufs Bett. Anschließend entnahm er einem Schränkchen, das unter dem Kocher stand, eine Flasche Johnnie Walker Black Label, goss uns davon zwei Gläser ein, reichte mir eines und stieß mit mir an.

»Wie in alten Zeiten!«, sagte er charmant, als wolle er mir zu verstehen geben, trotz seiner Lage von seinem Leichtsinn nichts verloren und unsere Freundschaft nicht vergessen zu haben. »Nur ohne Eis«, fügte er noch lächelnd hinzu, und spielte damit auf den Scotch an, mein bevorzugtes Getränk, das er damals in seiner Wohnung gern für mich bereitgehalten hatte.

Simon allerdings begnügte sich nicht mit einem einzigen Glas, sondern schenkte uns immer wieder nach, bevor wir überhaupt ausgetrunken hatten. Als Trinker kannte ich ihn nicht. Früher, in der Bar Arabesque, hatte er gern Rotwein bestellt, nur in seiner Wohnung in Zamalek hatte er, mir zuliebe, meist Whisky getrunken. Ich hatte plötzlich wieder seine kleine Bar mit ihren diversen Getränken vor Augen, die kaum angerührt waren. Damals hatte er das mit der Erklärung kommentiert, Amerikaner und Engländer würden sich solche Flaschen als Anlass für ein Gespräch hinstellen, um über die Art der Getränke zu reden, ihre Jahrgänge und wo man sie erstanden hat. Er hatte nie ein besonderes Faible für Whisky oder andere harte Getränke, für Wein aber schon. Und jetzt? Jetzt trank er seinen Whisky wie Wasser. Eine gute halbe Stunde lang kippte er ein Glas nach dem anderen in sich hinein, während ich noch immer bei meinem zweiten war. Erst nach seinem fünften Glas offenbarte er mir, worum es ging.

»Ich bin in Gefahr, mein Lieber«, sagte er ganz unvermittelt. Der Anflug von Trauer, der in seiner Stimme mitschwang, spiegelte sich auch in seinen Zügen wider. »Ich kenne außer dir niemanden, der mir noch helfen kann«, sagte er dann sehr leise. »Dass ich dich getroffen habe, ist ein Geschenk des Himmels.«

»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fragte ich, während er mir mein nicht einmal halbleeres Glas wieder füllte. Er blickte mich an. Einen Moment lang glaubte ich in seinen Augen jenen Menschen zu erkennen, den ich von früher her kannte: den Klarinettisten und Lebenskünstler Simon Syros.

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