Kitabı oku: «Passierschein, bitte!», sayfa 2

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9. September 2013

Heute nun beziehe ich meine Wohnung. Auf dem Weg dorthin komme ich an drei Gullys ohne Deckel vorbei. Die Gullys hier sind deutlich größer als bei uns und mitten auf dem Gehweg. In zwei Löchern steckt ein Ast als Warnung. Da hatte ich vorgestern Abend also Glück. Wladimir wartet mit einem Namensschild vor dem Lebensmittelgeschäft hinter dem Wohnblock. Wir hatten vorher gemailt und den Treffpunkt ausgemacht, weil ich kein Telefon habe. Er wirkte deshalb fast ein bisschen genervt. Die Wohnung habe ich übers Internet gebucht. Es gibt eine Plattform für ganz Russland, wo man Zimmer und Wohnungen für Kurzaufenthalte und sogar stundenweise anmieten kann: www.sutochno.ru. Es ist eine private Wohnungsbörse. Dennoch sind die Preise für das, was angeboten wird, relativ hoch. Russland ist eben kein Schnäppchenparadies, schon seit Jahren nicht mehr. Die Handvoll Anbieter mit halbwegs moderaten Preisen hatte ich alle angeschrieben. Aber entweder blieben die Antworten ganz aus oder waren mehr als knapp. Zwischendurch hatte ich sogar den Eindruck, dass es gar nicht darum ging, etwas zu vermieten. Einmal hatte ich den Hinweis entdeckt: »Wir stellen Mietquittungen aus, auch ohne Übernachtung. Preis: 10 Prozent der Miethöhe.«


Fehltritt mit Folgen: Im Dunkeln sollte man genau hinsehen, wo man hintritt

Wladimir wollte ich erst nicht anschreiben, obwohl mir die Wohnung direkt am Meer mit Abstand am besten gefiel. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben, weil mir sein Inserat missfiel. Ich fand seine Auflistung, welche Mieter er akzeptieren könne, höchst unsympathisch. Akzeptabel waren Nichtraucher und Menschen mit slawischem Äußeren. Dann waren verschiedene Wohnungsbelegungskombinationen aufgelistet. Erlaubt war:

» ein Mann,

» eine Frau,

» ein Pärchen,

» ein Pärchen mit Kind,

» zwei Frauen.

Zwei Männer galten offenbar als schwules Pärchen und waren deshalb inakzeptabel. Dann ein Hinweis, dass lautes Feiern untersagt sei. Solch schwulenfeindlichen und xenophoben Typen wollte ich nicht noch mit meinem Geld den Rücken stärken. Also schrieb ich wieder andere Anbieter an. Ich stellte sogar selbst ein Inserat ins Netz, aber nichts passierte. Irgendwann schrieb ich Wladimir doch an und er antwortete mehr als umständlich. Einen konkreten Preis wollte er nicht nennen, er müsse erst mehr über mich erfahren, um mir einen personenbezogenen Preisnachlass zu gewähren. Wie komisch war das denn? Ich fand das fast etwas unheimlich und fragte mich, warum er so genau über mich Bescheid wissen wolle. Dennoch antwortete ich und schrieb ihm über meine Pläne in Wladiwostok. Eine Antwort mit meiner persönlichen Preiskalkulation blieb aus. Im Buchungskalender sah ich, dass Wladimir eine seiner zwei Wohnungen unmittelbar nach meiner Antwort vermietet hatte. Ich war entnervt und buchte mich für die ersten zwei Nächte im Hostel ein. Vor Ort würde ich schon etwas finden.

Doch drei Tage vor meinem Abflug überkamen mich doch Zweifel, auch Brockmann hatte auf meine vielen Mails nicht reagiert. Also entschied ich, es noch einmal zu versuchen. Ich war sauer über diese Russen mit ihren unfreundlichen Antworten, die alle nur irgendwelche Neubaubuden loswerden wollten und dabei so taten, als ob sie Paläste an der Côte d’Azur vermieteten. Entsprechend unfreundlich fiel auch meine zweite Anfrage aus. Ich schrieb Wladimir, dass ich mich zum letzten Mal melden würde, dass ich nun klipp und klar wissen wolle, ob er mir die Wohnung vermieten könne und was er dafür haben wolle. Zwei Stunden später hatte ich eine genaue Preisauflistung und die Reservierung. Das also war es. Ich hätte von Anfang an schroffer sein sollen …


Mein Vermieter Wladimir quittiert alles ganz genau. Für zehn Nächte zahle ich 15 000 Rubel.

Nun stehe ich mit diesem Wladimir vor dem Lebensmittelgeschäft, an unserem Treffpunkt. Eigentlich sieht er ganz nett aus. Wir gehen zusammen in die Wohnung. Er macht tausend Fotos von meinem Ausweis und schreibt mir Ewigkeiten eine Quittung aus. Seine Frau Olga wundert sich, dass ich keinen Vatersnamen habe. Die Wohnung ist sehr einfach, aber die Aussicht ist toll. Der Zwanzigstöcker steht hundert Meter links von meinem Fenster. Glück gehabt. Der Tisch in der Kochecke ist an der Wand festgeschraubt, nichts soll hier verrückt werden. Zum Glück finde ich unter dem Tisch ein verstecktes Nachtschränkchen. Das wird mein Couchtisch, wenn Wladimir weg ist.

Das Internet funktioniert nicht wirklich. Wladimir fragt, ob mir der kleine Fernseher reicht? Ich antworte, dass der offenbar so klein ist, dass ich ihn nicht einmal sehe. Olga kringelt sich vor Lachen. Wladimir zeigt auf ein Navi-ähnliches Gerät über dem Wasserkocher. Der winzige Monitor ist auch festgeschraubt – direkt neben der Wohnungseingangstür. Ich stelle mir kurz den gemütlichen Fernsehabend zwischen Wohnungseingang, Klotür und Kühlschrank vor. Nein, da lasse ich Wladimir den Fernseher lieber holen, auch auf die Gefahr hin, dass es ihr eigener Fernseher ist, auf den sie dann verzichten müssen. Und ich lasse das Gitterbett wegtragen, das das Zimmer noch kleiner macht und irgendwie für Zellenatmosphäre sorgt. Ein bisschen komme ich mir wie eine Despotin vor, aber ich weiß, dass ich überdurchschnittlich viel für diese Bude bezahle und deshalb soll es wenigstens etwas gemütlich sein.

Wir gehen rüber in seine Wohnung. Hinter der Wohnungstür steht man direkt in der fensterlosen Küche. Dieser Geruch, die Töpfe, ich verlangsame die Atmung, raus. Wir werkeln wieder bei mir, ich am Internet, Wladimir am Fernseher. Er fragt, ob wir zum Du wechseln können. Dann ist er weg. Endlich allein, ich dusche und koche mir einen Tee, der ungenießbar modrig schmeckt. Dabei hatte ich die Kanne so gut ausgewaschen. Putze schnell ein Fenster, damit ich das Meer klarer sehe, und töte zwei kleine Kakerlaken im Klo. Ich ordne Ewigkeiten meine Papiere und vergesse dann doch mein Empfehlungsschreiben.


Mein Zimmer: einfach, aber mit sensationellem Blick aufs Meer

Im Archiv sind trotzdem alle nett. Natürlich will Swetlana vom Lesesaal mein Empfehlungsschreiben sehen. Morgen! Ich muss tausend Formulare ausfüllen, weil ich kein Schreiben habe. Swetlana fragt, ob ich nicht auf Russisch unterschreiben könne. Ich entgegne, dass es dann keine Unterschrift mehr sei, weil Russisch nicht meine Muttersprache ist. Sie lässt sich nicht beirren und besteht auf einer russischen Unterschrift. Swetlana ist ein Riesenweib und erinnert mich an eine Kollegin. Sie hat Monsterbrüste, die sie auf dem Tisch ablegt. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll, weil ihr Oberteil weit ausgeschnitten ist. Swetlana ist weit über fünfzig, sie ist braun gebrannt und hat straffe Haut. Ihre Fülle verleiht ihr Nachdruck.

Dann erkundige ich mich nach den Kopien. Kopiert wird generell nicht. Man darf fotografieren und bezahlt pro Foto 3,50 Euro. Ich frage mich, wie man die Aufnahmen im Nachhinein zuordnen soll. Man müsste alles minutiös festhalten und am Ende käme man doch durcheinander. Ich denke, dass sie nicht schlecht verdienen, ohne einen Finger krumm zu machen. Dann bekomme ich einen Stapel Akten und versuche, etwas zu finden. Alles schwer zu lesen, alte, schnörkelige Handschriften, mit der Feder zu Papier gebracht, zudem mit Buchstaben, die nach der Oktoberrevolution abgeschafft wurden. Ich schlafe fast ein. Natalja, die stellvertretende Archivleiterin, kommt an meinen Tisch und erkundigt sich, ob alles gut läuft und ich mit den Akten zufrieden sei. Habe gerade erst 20 Seiten dechiffriert und bislang erst ein einziges Mal den Namen Dattan entdeckt. Gut sieht anders aus. Aber ich bin verzückt von den dicken Folianten, den Siegeln und Handschriften. Wahrscheinlich hätte man mir auch einen Stapel Gerichtsakten hinlegen können. Natalja will mich später auf ein Wort sprechen. Nach einer halben Stunde bittet sie mich in ihr Büro. Sie überreicht mir eine Visitenkarte und einen Kalender für 2013, im September. Darauf steht passend zum Archivjubiläum »70 Jahre auf Erinnerungswacht«. Selbst im Archiv geht es militärisch zu.


Überall wird an das Archivjubiläum erinnert. Seit 70 Jahren ist man hier auf Erinnerungswacht.

Sie entschuldigt sich fast, dass wir uns vorerst nur oberflächlich an das Thema herantasten können, und erkundigt sich, was ich genau wissen will. Natalja outet sich als Expertin, sie hat bereits in Tomsk alles gelesen und lässt sich über die Eigenheiten von Dattans Handschrift aus. Sie erzählt, dass das Archiv 1943 aus Furcht vor einer japanischen Militärintervention nach Tomsk evakuiert wurde und erst seit 1992 wieder am alten Platz ist, auf Veranlassung Jelzins. Dann meint sie, dass morgen der Lesesaal geschlossen sei, weil das 70-jährige Archivjubiläum gefeiert wird, das gilt aber nicht für mich, ich könne trotzdem bis mittags arbeiten, und dann holt sie feierlich einen Umschlag heraus. Der Direktor habe auch mich zum Empfang eingeladen. Ich fühle mich geehrt, gleichzeitig ist mir das ein wenig peinlich. Dann gehe ich wieder in den Lesesaal und vergrabe mich in meine Akten. Dattan wurde zum Ehrenbürger ernannt. Er ersucht darum, dies bescheinigt zu bekommen. Ja, ja, die Deutschen … Ich gebe die Akten ab und Swetlana füllt feierlich meinen Passierschein aus, den Propusk, damit ich das Archiv verlassen kann.


Für vieles braucht man einen Passierschein, auch für den Lesesaal

Danach gehe ich zum Hafen, dorthin, wo die Ausflugsboote und Fähren zu den Inseln ablegen. Am Wochenende möchte ich dorthin. Ich frage die Kartenverkäuferin, welche Insel die schönste sei. Sie antwortet, dass sie noch nie auf einer der Inseln war. Ich frage eine Alte, die vor der Kasse steht und Fahrpläne abschreibt, das Gleiche. Sie meint, dass die Inseln alle sehr unterschiedlich seien. Ich frage sie, worin der Unterschied bestehe? Darauf sie – dass sie eben unterschiedlich seien. Ich hake nach und frage, ob die eine eher felsig, die andere eher flach sei? »Nein, Flaches gibt’s hier nicht.« Damit ist das Thema abgehakt. Sie fängt an, mir eine Rundfahrt über drei Inseln an einem Tag zusammenzustellen. Damit ich nicht so lange auf einer Insel, damit ich überhaupt nicht dort bleiben muss. Sind sie so schrecklich, diese Inseln? Nein, aber man bekommt Angst, wenn man dort steht und die große Stadt in unerreichbarer Ferne sieht … Ich fotografiere die Fahrpläne ab und gehe zurück an die Uferpromenade. Setze mich auf die Nobelterrasse des Festivalpavillons und trinke in gediegenem Ambiente einen Cappuccino. Ich bin der einzige Gast. Dabei ist es nicht einmal besonders teuer. Um mich herum wischt eine alte Frau mit einem Feudel, damit der Boden immer schön in der Sonne spiegelt. Sie ist eine typische Putzfrau, wie zu Sowjetzeiten, nur trägt sie keine graue Schürze, sondern einen weinroten Overall mit einem Aufnäher am Arm »Dr. Best Catering«. Sie kommt mir mit ihrem Wischlappen bedrohlich nahe. Bis zu meinem Fuß sind es nur noch 20 Zentimeter. Ich bin ihre Existenzberechtigung. Säße ich nicht hier, hätte sie keinen Job. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn sie verschwände. Ich lese und versuche, sie zu ignorieren, so gut es geht. Ein Pärchen kommt und fragt, ob es mal kurz meinen Platz haben könnte, um ein Foto zu machen. Das Ambiente, so exklusiv … Das Mädchen klagt, dass es mit Buch besser aussehen würde, einfach klüger. Ich überlege kurz, ob ich ihr mein Buch anbieten sollte. Aber was würde sie zu Band 4 des Fernöstlichen Archiv-Boten sagen? Ich lasse ihnen meinen Platz und gehe ins Kino, wo ich mich ohnehin gleich mit Irina treffen will.


Capuccino am Meer. Die Putzfrau macht im Hintergrund ein Päuschen, bevor sie wieder um meine Beine rumwischen wird.


Kinokarte vom Komödienspaß

Wir sind in einem Singapur-Restaurant verabredet, essen aber doch nichts, sondern setzen uns raus auf eine Parkbank. Irina erzählt und erzählt. Es ist unglaublich, eine Geschichte nach der anderen, sie hat lauter Ideen für mein Buch. Im Prinzip reicht ihr die Kunst-&-Albers-Geschichte nicht. Sie hätte gern, dass ich nach den Verbindungslinien suche. Ich soll all die schillernden Gestalten, die das Wladiwostok der Jahrhundertwende so bunt gemacht haben – Brynner, Langelütje, Jankowskij, Eleonor Pray und andere – zusammenbringen. Sie ist so begeistert von meinem Aufenthalt, dass sie mich schon in der Gorkij-Bibliothek, im Deutschen Lesesaal, für eine Autorenlesung und zum Austausch mit interessierten Lesern angekündigt hat. Für sie bin ich DIE Schriftstellerin aus Deutschland, die ein Buch über Wladiwostok schreibt. Wenn sie wüsste, dass sich in Deutschland kaum ein Verlag dafür zu interessieren scheint, was ich schreibe … Ich begleite sie zum Kinosaal, wo sie mit ihrer Familie verabredet ist. Auf dem Weg dorthin treffen wir ständig alte Bekannte. Ich werde jedem als junge deutsche Schriftstellerin, die ein Buch über Wladiwostok schreiben will, vorgestellt. Ich bin 43. Irina rattert jedes Mal den gesamten Inhalt meiner Buchidee runter. Ihre Kolleginnen befinden, dass zwei Wochen in Wladiwostok dafür nicht reichen. Einer befreundeten Journalistin hingegen fällt noch ein anderer interessanter Aspekt ein, den ich auch unbedingt berücksichtigen sollte. In meinem Kopf dreht sich bereits alles. Dann kommen Irinas Mann, ihre Tochter und ihr Schwiegersohn. Ihre Tochter fragt, ob ich schon wisse, dass die alten Fenster bei Kunst & Albers ausgebaut, aber nicht restauriert werden. Mich wundert das nicht. Bevor alle ins Kino verschwinden, wollen wir ein weiteres Treffen verabreden. Irina hat die nächsten Tage bereits verplant. Am Mittwoch habe sie frei, da könnten wir ins Museum, zur Ausstellung von Karl Schulz. Ich sage nicht zu, denn am Mittwoch wollte Manfred Brockmann schon mit mir wandern gehen, auf der Peschchanyj-Halbinsel. Von ihm hatte ich heute früh eine Mail bekommen. Der Film fange gleich an, mahnt eine Lautsprecheransage auf Russisch und Englisch. Nein, ich will nicht den Film »Judas« mit anschauen. »Ein schwerer Film … «, seufzt Irina mit bedeutungsvoller Miene. Ich war gestern in »So sieht Liebe aus«, eine Komödie. Irina und ihre Kolleginnen haben davon gehört. Abwertendes Kopfschütteln. So ein seichter Unterhaltungsfilm. Nein, das sei doch nichts. Ich fand ihn großartig.

Setze mich nach dem Treffen noch einmal ans Meer und wandere dann bei Sonnenuntergang und einsetzender Dämmerung nach Hause. Unterwegs kaufe ich ein, alles teuer. Ich weiß nicht, wie die Leute das hier mit ihren teilweise dürftigen Gehältern stemmen.


Mein Etagenflur: Nur selten begegnet man einem Nachbarn, trotzdem sind sie ständig zu hören

Im Wohnzimmer erlege ich eine Kakerlake, diesmal eine große. Das Internet funktioniert überhaupt nicht mehr, ich bräuchte einen Code, um mich als Nastenka anzumelden … Schaue einen Film, der offenbar in den Achtzigerjahren spielen soll. Eine Heldin trägt unter ihrem Nachthemd einen Tanga – gab es so etwas zu Sowjetzeiten? Solche Filmausstatter hätte es jedenfalls nicht gegeben …

Draußen vor meiner Tür herrscht ständiges Begängnis. Alles ist so hellhörig, dass ich mich wundere, dass meine Nachbarn nicht in meinem Bett liegen. Hinter meinem Kopf zwei Löcher in der Wand aus Spanplatte. Dahinter ist die Dusche. In der Nacht werden sie sicher kommen, die Kakerlakenbrüder – Gute Nacht!

10. September 2013

Gehe ins Archiv, leider später als gewollt. Als ich aus der Wohnungstür heraustrete, kommt mir ein halbnackter Mann in Unterhose aus der Nachbarwohnung entgegen. In der Hand einen Kosmetikbeutel, über der Schulter ein Handtuch. Er geht zum Ende des Korridors. Ich warte einen Moment ab, dann gehe ich hinterher. Links vom Gang sind die Toiletten und rechts ein Bad mit Badewanne und ein Raum mit Waschmaschinen. Da bin ich mit meiner Spanplattendusche also privilegiert. Sicher war dieser Wohnblock ursprünglich mal ein Studentenwohnheim. Nebenan ist die Meeresuniversität. Ständig rennen gruppenweise Matrosen umher, in weißen und blauen Uniformen. Wenn ich nur den Unterschied wüsste. Ich nehme mir vor, einen Matrosen zu befragen.


Matrosen auf Schritt und Tritt: mal in blauer, mal in weißer Uniform

Das Uni-Gelände ist umzäunt und eigentlich müsste man auch hier einen Propusk vorzeigen, aber niemand kontrolliert. Jetzt wohnen in den winzigen Zimmern des Wohnheims mehrköpfige Familien. Rechts von mir wohnt man zu viert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll.

Im Archiv bin ich die Einzige im Lesesaal. Offenbar sind alle Mitarbeiter instruiert, dass ich einen Sonderstatus habe und arbeiten darf, obwohl der Lesesaal offiziell geschlossen ist. Natalja, die stellvertretende Leiterin, hatte mir gestern gesagt, dass ich ruhig bis zum Mittag arbeiten könne. Das Busenwunder begrüßt mich mit den Worten: »Sie haben zwei Stunden, eigentlich weniger, sogar sehr viel weniger!« Ich sage ihr, dass Natalja mir gestern gesagt habe, dass ich bis um zwei in Ruhe arbeiten könne … Swetlana schaut streng unter ihrer Brille hervor. »Sie meinen Natalja Anatoliewna.« Oh, oh. Wieder einen Fehler gemacht. Am besten ich erwähne gar keine Namen mehr. Aber diese Vatersnamen sind wirklich die Pest. Swetlana gibt mir die Akten und ich lese. Es ist verrückt, fast vierhundert Seiten darüber, wie sich das Wladiwostoker Börsenkomitee dafür einsetzt, den Status des Freihafens für Wladiwostok zu erhalten. Dattan ist Mitglied des Ältestenrates. Er soll sogar beim Zaren vorsprechen. Im Nachhinein wirkt es fast komisch, wie sich die Ausländer einsetzten, um russische Interessen zu wahren, und wie sie versuchten, die Region zu stärken, gegen die mächtigen Nachbarn – Japan, China und die Mandschurei. Wenn man bedenkt, wie sie später als Fremde und »feindliche Eroberer« verleumdet wurden, ist es fast bitter. Natürlich taten sie es nicht ohne Eigennutz, aber es ging ihnen durchaus auch um das Gemeinwohl, um die Region. Vier Jahre mühten sie sich, von 1904 bis 1908. Die Akte endet mit der Aufhebung des Freihandels-Status im Jahr 1908.

Ich ignoriere die Uhr an der Wand, nach der ich längst weg sein müsste. Sitze mittlerweile seit drei Stunden im Lesesaal. Ich will noch etwas bestellen und bekomme einen Zettel zum Ausfüllen. Doch auf dem Formular mache ich einen Fehler. Da ich die Signatur nur aus der Sekundärliteratur habe, kann ich in der Rubrik »Titel der Akte« nichts eintragen und lasse das einfach frei. Swetlana flippt fast aus, auch weil ich bereits in der Spalte unterschrieben habe, wo ich den Erhalt der Akten quittieren soll. Nein, so gehe das nun wirklich nicht. Ich erkläre ihr, dass ich die Aktenbezeichnungen nicht kenne, weil in meinem Buch nur die Nummern verzeichnet sind. Ich bekomme die Findbücher, in denen die Bezeichnungen aufgelistet sind, und muss alles noch einmal ausfüllen.


Das Archiv des Fernen Ostens wird 70 Jahre alt. Die Belegschaft postiert sich zum Gruppenfoto vor dem Haupteingang.

Swetlana ist derweil ausschließlich mit der Jubiläumsfeier beschäftigt. Dauernd kommt jemand rein und dann wird ausgetauscht, welche Schuhe man heute anzieht und wer was vorträgt. Um kurz vor zwei müssen alle vors Archiv. Da trifft sich die gesamte Belegschaft zum Gruppenfoto. Ich fotografiere die Aktion von der Seite, von hinten, habe die Fotografin im Bild, wie sie alle schön ordnet und ihr dabei ihr weißer Rock zur Seite weht, sehr schön. Marylin auf der Aleutskaja. Dann frage ich, ob sie nicht auch mit aufs Foto will. Ich könnte sie alle mit ihrem Apparat fotografieren. Ja, gern. Ich mache zwei Fotos, fordere die Belegschaft auf, »Spaghetti« zu rufen. Keiner kapiert das, wie auch? Ich immer mit meinen doofen Witzen. Dann soll ich mit aufs Foto. Aber das ist zu viel des Guten. Nein, ich bin keine Mitarbeiterin, ich bin den zweiten Tag im Archiv.

Ich schlendere zum »Haus der Flottenoffiziere«, dort, wo die Feier stattfinden soll. Vorher kaufe ich mir noch einen Stadtplan, endlich habe ich einen Überblick. Als ich in den Empfangssaal komme, wird mir unwohl. An der Wand lauter Bilder von mit Orden behangenen Mumien, die ganze Einrichtung ist wie eine Zeitreise in die Sowjetunion. Alle Gäste haben riesige Blumensträuße und Geschenke, nur ich habe nichts. Grusel. Noch gruseliger ist das Faltblatt zum Jubiläum. Ich nehme mir vor, der Sache später auf den Grund zu gehen. Aber das, was ich hier lese, verschlägt mir fast die Sprache. Da feiern die, dass 1943 der Chef des örtlichen Geheimdienstes befohlen hatte, die einzelnen Archive zusammenzulegen und zentral unter Geheimdienstkontrolle zu stellen. Im Faltblatt ist sogar der Befehl als Faksimile abgedruckt. Ich lese, dass die Dokumente nach Priorität sortiert (aussortiert?) werden sollen. Da fragt man sich doch, wo sie vorher waren? Natürlich auch in einem Archiv … Wieso feiern die dann hier die Umlagerung im Jahr 1943 als Archivgründung? Ich komme mir völlig fehl am Platz vor, weil ich merke, dass hier eine Kommandoaktion des sowjetischen Geheimdienstes gefeiert wird. Der Geheimdienst übernahm die Kontrolle über das Schriftgut und daraus wurde in der späteren Deutung die Gründung des Archivs … Wer weiß, was man später über die Stasi-Akten erzählen wird … Ich bekomme einen flauen Magen, habe aber keine Zeit zum Unwohlsein, denn jetzt geht es in den Festsaal mit den fürstlich gedeckten Tischen.


Die Ahnengalerie der Kriegshelden: Vieles erinnert im »Haus der Flottenoffiziere« an die Sowjetzeit

In Russland gibt es keine lockeren Stehempfänge, hier sitzt man verbindlich mit seinen zugewiesenen Tischnachbarn zusammen, isst und feiert in Ruhe, nicht im Vorbeigehen. Aber ich wurde nicht in die Sitzordnung eingewiesen. Ich weiß, dass Swetlana Tisch sechs hat, weil vorhin im Lesesaal die Sitzordnung lange diskutiert wurde. Ich sehe eine Mitarbeiterin in schwindelerregenden High Heels mit Info-Klemmbrett koordinierend herumstaksen. Versuche ihr unauffällig zu sagen, wer ich bin, um die Tischnummer zu erfragen, da sagt sie: »Ich weiß, ich weiß. Nancy Aris. Sie sind am Tisch sechs.« Mit Swetlana also. Glück gehabt. Trotzdem fühle ich mich irgendwie beobachtet. Der Tisch: eine Unmenge an Salaten, Vorspeisen, zwei Flaschen Wodka, zwei Flaschen Wein, zwei Flaschen Wasser, eine Karaffe Saft. Wir sind zu siebt. Obwohl ich in etwa weiß, was mich erwartet, bin ich doch von der perfekten Choreografie des Festes überrascht. Zuerst Musik, dann die Rede des Direktors, dann die Glückwünsche der Gäste, jeweils immer ein kleine Rede und Geschenkübergabe mit Kommentierung des Geschenkes. Dann kommt die Gegendankesrede des Direktors und ein Rückgeschenk an den Schenker. Es gibt einen Entertainer, der das alles moderiert, zwischendurch ertönt ab und zu ein Tusch vom Band, ein Countdown-Jingle oder eine klassische Melodie. Es ist an Schrecklichkeit kaum zu überbieten, doch alle sind so glücklich damit. Im Laufe des Nachmittags bekommen alle Mitarbeiter eine Urkunde. Keiner geht leer aus. Auch wenn ich diese Gleichmacherei eigentlich nicht mag, finde ich diesen Fürsorgeanspruch trotzdem irgendwie rührend, weil so keiner ausgeschlossen bleibt.


Zwischen Ansprachen und Appetithäppchen: Die Jubiläumsfeier folgt festen Ritualen

Ich frage mich, was bei unvorhergesehenen Reden passieren würde? Von mir zum Beispiel. Zwischen den zahlreichen Gratulanten kommen kulturelle Einlagen, eine Sängerin, ein Saxophonist und ein Sänger, dann ab und zu ein Tanzpaar. Bei den kulturellen Einlagen darf gegessen werden, hält jemand eine Rede, bleibt die Gabel still. Meine Tischnachbarn trinken Wodka, ich Wein. Ich lerne, dass man keine Gläser in der Hand eingießt. Man muss sie abstellen, und zwar auf dem Tisch, nicht wie ich auf dem Teller. Aber der leere Teller neben mir war der einzig freie Platz auf dem Tisch und ich wollte meinem Nachbarn entgegenkommen. Es wird immer angestoßen, man trinkt nie für sich allein. Deshalb ist Swetlana unglücklich, dass der Direktor keinen Tost ausgebracht hat. Ich sage, dass sie einen Tost aussprechen soll. Gesagt, getan: »Aufs Jubiläum!« Alle stoßen miteinander an und sind glücklich. Swetlana verteilt Luftküsse. Ich habe Swetlana gestern das erste Mal gesehen … Nach der Rede des Direktors sind die Vertreter der Stadt dran. Sie verlassen unmittelbar nach dem Glückwunsch den Saal. Nicht einmal den nächsten Musikbeitrag warten sie anstandshalber ab. Sie stürzen sofort los, ohne auch nur von einem der Salate probiert zu haben. Ich bin schockiert, hier ist das offenbar normal. Deshalb gibt es auch Gerangel um die Redereihenfolge. Nur wer am Anfang auftritt, wird von vielen gehört. Ich überlege, ob ich auch etwas sagen soll. Besser nicht, das bringt die Choreografie durcheinander. Trotzdem übe ich schon mal die Vatersnamen. Swetlana zwinkert mir öfter verschwörerisch zu, mein Nachbar puselt umständlich mit seiner Gabel ein paar Weintrauben von einer Rebe vom Obstteller, um sie mir mundgerecht zu reichen. Alle sind sehr taktvoll. Die erste Flasche Wodka ist ausgetrunken und Natalja, die stellvertretende Archivleiterin, animiert alle zum Tanzen und hampelt vor den Tischen herum. Einige folgen ihrer Aufforderung. Ich versuche, das alles gedanklich in meine Arbeitsumgebung zu übertragen … Unmöglich! Ich überlege wieder, ob ich nicht doch etwas sagen sollte, aber dauernd steht noch jemand auf. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen. Alle sind durch. Swetlana zwinkert mir wieder verschwörerisch zu und ich ordere das Mikro beim Entertainer. Ich habe mir vorher zurechtgelegt, was ich sagen will, aber plötzlich ist alles weg. Deshalb erzähle ich einfach kurz etwas über mich und bedanke mich für die freundliche Aufnahme. Alle sind begeistert. Und dann stelle ich auch noch ein Geschenk in Aussicht – die Kopie des Dattan-Tagebuchs. Da erzähle ich von seiner Verbannung, von den Forschern, die in Zukunft darin lesen werden. Schmalziger geht es nicht, ich mache tausend Fehler, aber mir fallen die richtigen Wörter nicht ein. Ich rede trotzdem weiter. Alle fotografieren mich und ich weiß, dass ich jetzt jede Akte, die ich will, bekommen werde.


Natalja animiert ihre Kollegen zum Tanz. Wenig später wird die Tanzfläche voll sein.

Danach ist die Bahn frei. Es wird getanzt und Natalja übertrifft sich selbst. Ich mache ein paar Videoaufnahmen und versuche mich zu drücken, wo es geht. Beim dritten Lied will ich unauffällig aufs Klo verschwinden. Der Weg führt über die Tanzfläche und schon ist da die kleine Dicke aus der Restaurationsabteilung, die mir den Weg versperrt und mich direkt in die Hände des Archivelektrikers abgibt. Er ist begeistert von seiner Beute und nimmt mit mir eine Tanzfigur nach der anderen durch: erst Drehung und Doppeldrehung, dann Arme nach rechts, Arme nach links, wir kommen aufeinander zu, dann stoßen wir uns ab. Arme in Kraulformation, Kopf nach rechts, Kopf nach links. Ich kann überhaupt nicht tanzen und weiß nicht, wie mir geschieht. Mache einfach mit, hoffentlich ist das alles bald vorbei. Es ist unglaublich, ich sterbe vor Peinlichkeit, denn auf einmal sind wir in der Mitte und alle Archivmitarbeiter tanzen um uns herum. Das ist wirklich genau mein Ding. Zwischendurch tanzt sogar der Direktor, nicht traditionell, sondern für sich allein. Zu Hause wird mir das keiner glauben. Alle sind froh, dass ich nun endlich dazugehöre, eine von ihnen. Und da entlässt mich die Dicke getrost aufs WC. Dann mache ich mich aus dem Staub. Ich verabschiede mich vorher noch bei Natalja und sie bedankt sich für meine lieben Worte.

Anschließend laufe ich durch das rausgeputzte Stadtzentrum, das eher europäisch denn russisch oder gar asiatisch wirkt. Ich gehe in Richtung Meer und schaue mir das Denkmal für die gefallenen Matrosen der Pazifikflotte direkt am Ufer an. Eigentlich ist es kein Denkmal, sondern ein riesiges Gedenkareal, das aus mehreren Teilen besteht. Auch hier brennt eine ewige Flamme zum Gedenken. Ich bin kein Denkmal-Fan, aber etwas beeindruckt mich doch. Neben einer monumentalen Figurengruppe aus der Sowjetzeit entdecke ich an der ewigen Flamme eine fast unscheinbar wirkende Matrosenmütze aus Bronze. Ganz allein, nur für sich. Diese einsame Mütze ohne Mann macht traurig, viel trauriger als die überdimensionierte leidende Figurengruppe.

Ich beschließe, dass für heute die Flottengeneräle reichen. Außerdem will ich noch zum Filmfestival, zu einem Film über so einen Typen in der Midlifecrisis, der zu viel trinkt, finanziell abgebrannt ist und versucht, als Geo-Lehrer unterzukommen: Der Geograph, der den Globus versoff. Ich weiß, dass die Vorstellung ausverkauft ist. Schon am Sonntag habe ich keine Karte mehr bekommen. Aber meist habe ich Glück. An der Kasse ist nichts zu machen, also lungere ich vor dem Eingang rum. Irgendwann gehe ich wieder zur Kasse und postiere mich direkt daneben. Ein Jugendlicher kommt und fragt nach zwei Karten für den Geograph, da sagt die Verkäuferin, dass sie nur noch eine habe. Ich glaube, mich verhört zu haben, trete an die Kasse heran und sage, dass ich die dann gern nehmen würde und frage, warum sie mir die Karte nicht vor einer halben Stunde verkauft habe. Plötzlich kommt ein Mann angeschossen, zückt seine Geldbörse und sagt, dass ich weggehen soll, weil er die Karte natürlich nehmen wird. Er schiebt mich einfach beiseite. Schließlich warte er schon vier Stunden hier. Das alles in einer Art, die fast Brechreiz erzeugt.


Gedenkareal für die Kriegstoten der sowjetischen Pazifikflotte: Die beim Bau abgerissene Kapelle wurde an gleicher Stelle neu dazwischengebaut

Er ist der Mann und natürlich bekommt er die Karte und selbstverständlich ist er auch der Verkäuferin vom gesellschaftlichen Status her weit überlegen. Er schafft es, das alles in drei Sätzen und der entsprechenden Gestik rüberzubringen. Ich sage, dass ich schon vor Tagen eine Karte kaufen wollte, dass es bereits am Sonntag ausverkauft war und dass diese Warte-Logik absurd sei. Ich war nun gerade als Erste zur Stelle und hatte einfach Glück. Die Verkäuferin stellt sich quer. Sie will keinem die Karte geben. Die Sache scheint vertrackt. Aber dann kommt mein Trumpf. Ich frage den Mann, ob hier eigentlich auch Gentlemen leben würden? Eine vernichtende Frage von einer Ausländerin und dann auch noch an einen russischen Mann gerichtet. Und siehe da, er zieht ab und sagt, dass ich die Karte bekommen soll. Ich habe kein schlechtes Gewissen, sondern denke an Manfred Brockmann. Wieder ein Sieg gegen den russischen Mann, der angeblich immer Kind bleibt. Der Platz neben mir im Kino bleibt übrigens leer.

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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
195 s. 92 illüstrasyon
ISBN:
9783954624249
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