Kitabı oku: «FriesenFlut»

Yazı tipi:

Alles darf nicht so ernst genommen werden!

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher der Autorin erschienen:

SchattenHaut

SchattenWolf

SchattenGift

SchattenTod

SchattenGrab

SchattenSchwur

SchattenSucht

SchattenGier

SchattenZorn

SchattenQual

SchattenSchuld

SchattenSchnee

FriesenNerz

FriesenGeist

FriesenSpiel

FriesenLust

FriesenSchmutz

KurzKrimis und andere SchattenSeiten

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EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8402-3

Nané Lénard

FriesenFlut


Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Für Lisa und Enrico

Prolog

Es war auch jetzt am frühen Morgen schon wahnsinnig heiß in Neuharlingersiel. Ganz ungewöhnlich für den Landstrich an der Nordseeküste. Selbst die Einheimischen schüttelten mittlerweile den Kopf. Die Hundstage schienen in diesem Jahr nicht vergehen zu wollen. Man verschanzte sich jetzt gerne in den Kellern, wo man sowieso während der Saison wohnte, um seine eigenen Räume gewinnbringend zu vermieten. Dort war es schön kühl, während die Touristen schwitzten, aber die konnten ja auch ans Meer zum Baden gehen.

Weitere 14 Tage mit Extremtemperaturen hatte der Wetterfrosch angesagt. Inzwischen erhielt er anonyme Morddrohungen. Hitze machte manche Menschen zu Untieren. Ihre wahre Natur drang an die Oberfläche. Andere wiederum litten still oder nahmen sich Urlaub an der See, wo sie sich mehr im Wasser als an Land aufhielten. Wer unter dem Dach wohnte, hatte schlechte Karten. Der alte, hinkende Fischer Hinnerk außer Dienst war ein ebenso armes Opfer des Klimawandels wie die in Neuharlingersiel und Umgebung allseits bekannte Lotti Esen. Wie Hinnerk schwitzte auch sie unter ihren Dachschrägen. Eigentlich nannte Lotti jeder, der sie kannte, nur Oma Pusch. Sie war nicht nur wegen der legendären Rollmopsbrötchen aus ihrem Kiosk beliebt, sondern auch, weil sie immer ein wachsames Auge oder Ohr auf alles ringsherum hatte. Nichts blieb ihr verborgen. Wer etwas wissen wollte oder zu erzählen hatte, ging zu ihrem kleinen Verkaufsstand am Hafen. Dadurch blieb sie immer nah am Zahn der Zeit, und meist war sie sogar den Ermittlern bei Morduntersuchungen eine Nasenlänge voraus. Das ärgerte einen ganz besonders: Oberkommissar Eike Hintermoser, der ausgerechnet auch noch ein Neffe von Oma Pusch war, obwohl er so einen merkwürdigen Namen hatte, aber davon später mehr. Wir müssen dringend runter zum Strand, auch wenn die Morgenröte gerade erst verblasst, denn es ist Ebbe. Und die legt frei, was die Flut verborgen oder mitgebracht hat.

Fluch oder Segen

Kein Windhauch lag über dem Sand. Selbst die Möwen hörte man nicht. Sie hatten sich wohl längst ein schattiges Plätzchen gesucht. Aber einer tat, was er immer tat: Frühmorgens sah man ihn am Strand entlanghinken. Das eine Bein war kürzer als das andere. Einheimische wussten, dass Hinnerk seine Behinderung einem Unfall auf See zu verdanken hatte. Immerhin war er nicht ertrunken. Neptun hatte ihn irrwitzigerweise verschont. Warum auch immer. Manch einer munkelte, die Fische hätten ihn wieder ausgespuckt, weil er so sternhagelvoll gewesen sei. Konnte einer, der säuft, nicht ersaufen? Egal, er hatte überlebt, was er nur darauf zurückführte, dass der Alkohol ihn nicht hatte untergehen lassen. Mittlerweile fühlte er sich durch ihn zusätzlich konserviert und durchaus noch in der Lage, der schönen Witwe Hansen den Hof zu machen.

Heute war er wahnsinnig froh, dass sie ihn begleitete, während er nach Strandgut suchte, um seine magere Rente aufzubessern. Und obwohl die Sonne unbarmherzig auf Hinnerks spärliches Haupthaar brannte, klagte er nicht ein bisschen. Schließlich musste er stark für Lina sein, kein Waschlappen. Sein Handicap war schon schlimm genug. Er konnte froh sein, dass sie überhaupt Zeit mit ihm verbrachte. Das Herz ging ihm auf, wenn er sie beobachtete, wie sie da vor ihm in der Morgenröte hersprang mit ihren grauen Flechtzöpfen. Ja, sie war in der Tat eine ungewöhnliche Frau. Wenn sie ihn doch nur erhören könnte, dachte er, war aber zu schüchtern, sich zu erklären. Außerdem schwitzte er jetzt in seiner Cordhose und dem Flanellhemd. Das war peinlich.

Das Thermometer zeigte gegen sechs Uhr früh bereits 21 Grad. Und hier war es immer noch ein paar Grad kühler als im Inland. Alle Überlegungen, sich seiner warmen Kleidungsstücke zu entledigen, warf Hinnerk über Bord. Er hatte nun mal nichts anderes im Schrank. Sein letztes T-Shirt hatte ein großes Loch, die einzige dünne Hose, die er besaß, rutschte ihm von seinem mageren Gesäß. Wäre er allein gewesen, hätte er in der Feinripp-Unterwäsche weitergesucht. Doch das blieb wegen der Schicklichkeit ein Traum. Er musste sich ablenken, während der Schweiß inzwischen in Bächen von seinem heißen Schädel rann.

„Guck mal hier, Hinnerk!“, rief Lina Hansen und schwenkte eine Flasche.

„Toll“, freute sich der Fischer, „das gibt immerhin Pfandgeld.“

Wenig später sah er etwas im Sand blitzen. Er bückte sich und zog ein Klappmesser heraus.

„Ui“, sagte Lina, „das sieht doch noch ganz gut aus.“

Hinnerk nickte, während er seinen Fund betrachtete und eine der Klingen ausklappte. „Etwas rostig vielleicht, aber das kriege ich wieder hin. So ein Taschenmesser kann man immer gebrauchen.“

Lina lief ein Stückchen voraus. Sie hatte wohl ebenfalls etwas entdeckt.

„Wahnsinn, ein Handy“, jubelte sie und strahlte. „Ich wollte schon immer eins.“

„Geht es denn noch?“, erkundigte sich Hinnerk verwundert.

„Woher soll ich das wissen?“, fragte Lina. „Ich kann doch mit so was nich üm.“

„Giv moal her, dat Dingens“, bat Hinnerk und tippte auf dem Display herum. Es schaltete sich ein und forderte ein Passwort.

„Do is noch Licht in“, sagte Lina. Sie grinste glücklich.

„Schon, aber wir kommen nicht rein“, wandte Hinnerk ein.

„Aber das kriegst du doch bestimmt hin“, war sich Lina sicher und Hinnerk brummte dazu. Damit hatte er zumindest nicht gelogen, obwohl er stark anzweifelte, das sechsstellige Passwort knacken zu können.

Lina war vorerst zufrieden und steckte das Smartphone ein, das rotgolden in der Sonne geglänzt hatte. Dann hüpfte sie weiter und sang dabei. Hinter ihr ächzte Hinnerk in seinen warmen Klamotten. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man bei den Temperaturen noch herumspringen konnte wie ein junges Reh.

„Nu hebb ick wat für di“, rief Lina zehn Meter weiter vorn.

Hinnerk hörte beim Näherkommen ein Summen. Als er seine Angebetete erreicht hatte, sah er, dass sie auf einen Strohhut zeigte, der Hunderten von Fliegen als Sitzplatz diente, während sich andere bemühten, ihre Konkurrenten zu verdrängen. Lina versuchte, die Plagegeister mit ihrer Tasche wegzuwedeln.

„Dat is doch noch een mojen Hood (schöner Hut )“, stellte Lina fest.

„Mit disse Flegen?“, hakte Hinnerk verwundert nach.

„Ja, seker! De Sünn brannst di. Dien Dööts is roodklöört!“, erwiderte Lina und zeigte auf seine knallrote Birne.

Der Einfachheit halber wird der folgende Dialog in Hochdeutsch wiedergegeben.

Hinnerks Gesichtsglut verfärbte sich wegen der Peinlichkeit noch dunkler. Sie hatte gesehen, dass ihm die Suppe hinablief.

„Ach was“, widersprach er vehement, „das kommt nicht von der Sonne, sondern vom Bücken, wenn der Kopf nach unten hängt. Ich brauche keinen Hut.“

Ärgerlich trat er nach dem fliegenübersäten Strohgeflecht und schrie auf. Die Kopfbedeckung hatte sich keinen Millimeter bewegt. Lediglich die Fliegen waren für einen Moment aufgeschwirrt, um sich in Sekundenschnelle wieder einen neuen Platz zu ergattern. Aber Hinnerk hatte sich gestoßen. Nun tat ihm zu allem Überfluss auch noch der Flunken weh.

„Scheiße!“, brüllte er, ließ sich in den Sand fallen und rieb sich seine Zehen.

Das sah so lustig aus, dass sich Lina bemühen musste, nicht zu grinsen.

„Was hast du denn?“, fragte sie so besorgt sie konnte. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Strohhut so hart sein kann.“

„Da muss ein Stein drunterliegen“, sagte Hinnerk mit verzerrtem Gesicht. Der Schmerz ließ nur langsam nach.

Jetzt war Lina doch in Unruhe. Und dabei hätte sie fast gelacht. Sie hatte ihm Unrecht getan. Das wollte sie wieder gutmachen.

„Warte“, erwiderte sie, „ich gucke mal nach. Und überleg dir, ob du ihn nicht doch aufsetzen solltest. Du bekommst sonst einen Sonnenstich.“

„Hast du Angst, dass sie mir auch noch das letzte Bisschen Hirn wegbrennt, das der Alkohol übrig gelassen hat?“, fragte er spitz. Er hatte wohl bemerkt, dass ihre Sorge anfangs nicht echt war.

„Wo denkst du denn hin“, konterte sie mit einem strafenden Blick.

„Entschuldigung“, sagte er kleinlaut. Er wollte es sich wirklich nicht mit ihr verscherzen. „Das ist mir im Schmerz so rausgerutscht. Na gut, ich setze diesen hässlichen Hut auf, aber nur deinetwegen.“

„Das machst du schön für dich selbst, Fischer Hinnerk, du Sturkopp“, schimpfte sie. „Von mir aus kannst du das Ding dann am Hafen in den Müll schmeißen und dir was anderes kaufen, wenn du es so dicke hast.“ Dabei wusste sie genau, dass das nicht so war.

„Wir könnten ihn auch abwaschen und in der Sonne trocknen, vielleicht wird er dann wieder schön“, lenkte Hinnerk ein.

Aber Lina zuckte nur mit den Schultern und wandte ihm den Rücken zu. Da fühlte er sich genötigt, zu dem blöden Hut zu hinken und ihn trotz des Fliegengewimmels vom Boden aufzuheben. Leider kam ein Glatzkopf anstatt eines Steins darunter zum Vorschein, der in Richtung Horizont blickte. Blicken war vielleicht zu viel gesagt, denn er konnte ja nichts mehr sehen. Nicht nur, weil er zu einer Leiche gehörte, sondern auch, weil da gar keine Augen waren. Hinnerk war heilfroh, dass Lina es nicht sehen konnte, aber sie war ihm längst gefolgt, weil er schon eine gefühlte Ewigkeit auf den Schädel stierte, von dem er nicht wusste, ob da unten noch was dranhing. Es war also unvermeidlich, dass Lina die leeren Höhlen sah, aufschrie und wie immer in Ohnmacht fiel. Die Fliegen ließen den Strohhut nun links liegen und nahmen direkt auf dem Objekt ihrer Begierde Platz.

Oma Puschs Rat ist gefragt

Die Temperatur war weiter gestiegen. Es trug nicht unbedingt zur Verbesserung der Situation bei, denn wie alter Fisch begann auch der Kopf in der Sonne einen üblen Geruch anzunehmen.

Hinnerk, dem ebenfalls nicht allzu wohl im Magen war, ließ sich nichts anmerken und kümmerte sich rührend um Lina. Schließlich wollte er was von ihr. Da konnte er doch jetzt nicht als Schwächling dastehen. Leider bekam sie es nicht mit. Sie war immer noch nicht wieder bei Sinnen. Das war gut und schlecht zugleich. Um der Optik und dem Dunstkreis des Glatzkopfs zu entgehen, hatte er etwas Ungeheuerliches gewagt. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, ob niemand in Sichtweite war, hatte er Lina bei den Füßen gepackt und die Angebetete fünf Meter weiter in Richtung Westen durch den Sand gezogen. Sie war schwer wie Blei, und ihre Arme zeigten jetzt nach oben. Schnell vergewisserte er sich, dass sie nicht auch tot war, aber zum Glück atmete sie noch. Hinnerk holte tief Luft. Er war schweißnass von der Anstrengung, aber auch, weil er von der Situation völlig überfordert war. Oma Pusch hätte gewusst, was zu tun wäre. Er musste sie anrufen, bevor jemand Wind von der Sache bekam.

Doch Hinnerk hatte sich verrechnet, denn während er an Lina zog, waren Touristen über den Deich gekommen, die das merkwürdige Spektakel da unten am Strand gesehen hatten.

„Hey, lassen Sie das“, schrie der Rentner und schwang seinen Stock. „Ich rufe die Polizei.“

Seine Frau zeterte neben ihm und rang mit den Armen.

Hinnerk blieb nichts anderes übrig. Er musste schnell weg, sonst würden sie ihn noch verdächtigen, etwas mit der Glatze zu tun zu haben. Aber vielleicht entdeckte die auch niemand, wenn er schnell den Hut wieder drüberstülpte, bevor er wegrannte. Um Lina würde sich schon jemand kümmern.

Während der alte Mann vom Deich herabstolperte, setzte Hinnerk der Leiche wieder den Hut auf und schippte Sand über die Sache. Hunderte von Fliegen meuterten. Er hatte sie um Futter und Brutplatz gebracht. Dann floh der alte Fischer mit seinem einen kürzeren Bein so schnell er konnte. Dabei war er dem Rentner gegenüber im Vorteil, weil er den Weg über den gepflasterten Strandabschnitt wählte, während sich sein Verfolger erst mal durch den Sand kämpfen musste. Im Nu hatte er ihn abgeschüttelt und kam schließlich schweißtriefend an der alten Hafenkneipe „Dattein“ an, über der Lotti Esen alias Oma Pusch wohnte. Dort klingelte er Sturm, was dazu führte, dass sich die allseits bekannte Dame den Kopf in ihrem Alkoven stieß. Man hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Fluchend und noch nicht ganz wach wankte sie zur Tür, vor der ein Hinnerk stand, den sie beinahe nicht erkannt hätte. Er war nass und ächzte so sehr, dass er kein Wort herausbekam.

„Hinnerk, du? Um diese Uhrzeit?“, fragte sie verwundert und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er sah grässlich aus. „Moin, komm erst mal rein. Hast du gesoffen und bist anschließend ins Sieltief gefallen?“

Der alte Fischer schüttelte den Kopf und keuchte. Er hatte seine Sprache immer noch nicht wiedergefunden. Oma Pusch schnupperte. Tatsächlich, von Alkohol war nichts zu riechen. Umso verwunderlicher erschien ihr sein Auftreten.

„Lina … wegen der Glatze, aber einer war hinter mir her“, kam es gepresst und stoßweise aus seinem Mund.

„Was?“, rief Oma Pusch voller Schreck. „Lina hat eine Glatze?“

Wieder schüttelte Hinnerk den Kopf.

„Toter Kopf am Strand“, stöhnte er und hielt sich am Türrahmen fest.

„Ich verstehe nur Bahnhof“, gab Oma Pusch zu, „lag da einfach so ein Schädel rum? Ein echter? Und wer war hinter dir her?“

„Darf ich mich erst mal setzen?“, bat Hinnerk. „Ich kann nicht mehr.“

Oma Pusch sah, dass er trotz des roten Gesichts ganz weiß um Mund und Nase war. Aber er war auch nass und dreckig. Geschickt warf sie fast im Vorbeigehen eine Decke über den Sessel und bat Hinnerk, Platz zu nehmen. Der rettete sich praktisch in letzter Sekunde mit zwei großen Schritten ins Wohnzimmer und ließ sich hineinsinken.

„Danke“, keuchte er, „ich bin zu alt für so was!“

„Wenn du mir jetzt noch erklären könntest, was du genau meinst“, sagte Oma Pusch. „Müssen wir was wegen Lina unternehmen?“

„Nein“, erklärte ihr Hinnerk. „Das wird der Alte schon erledigt haben, der hinter mir her war.“

„Also, jetzt mal der Reihe nach und schön von vorn“, befahl Oma Pusch und brachte ihm ein Glas Wasser. Sie trug wegen der Hitze nur eine dünne Bluse über ihren Shorts und beäugte ihn kritisch. „Aber zuerst runter mit den Klamotten. Denkst du, es wäre Winter? Warum trägst du so warme Sachen?“

Hinnerk machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich hab nix anderes.“

Oma Pusch seufzte. „Warte, ich habe noch was von meinem verblichenen Fridtjof. Das gebe ich dir. Was du jetzt anhast, packen wir ein. Ich wette, dass es dir schon besser gehen wird, wenn du nicht so überhitzt bist.“

Gesagt, getan. Sie kramte in ihrem Schrank und kam mit einem Hawaiihemd zurück. Es war schrecklich bunt. In der anderen Hand trug sie ein paar Knickerbocker, die knallgelb ins Auge stachen.

Am liebsten hätte Hinnerk sie gefragt, ob sie noch alle Steine auf der Schleuder hätte, aber er biss sich lieber auf die Zunge und quetschte ein „Danke“ heraus. Dass sie aber nun auch noch wartete, bis er sich auszog, ging überhaupt nicht.

„Kann ich mal dein Bad …?“, weiter kam er nicht.

„Nee, Hinnerk, da habe ich grade frisch gewienert. Zieh dich man gleich dort um, wo sowieso schon alles dreckig ist. Ich gehe unterdessen in die Küche“, kündigte sie an und verschwand. Jetzt war der auch noch etepetete, als ob sie noch nie einen Kerl in Unterwäsche gesehen hatte.

In Wirklichkeit war das aber mit Hinnerks Feinrippmodellen so eine Sache. Sie waren viel zu groß, mit ihrem Eingriff nicht wirklich modern und keineswegs sauber. Er hatte also allen Grund, damit nicht vor einer Dame zu posieren. Plötzlich kam ihm eine Idee.

„Du, Lotti“, rief er ihr zu, „hast du vielleicht auch noch was für drunter?“ Alles war besser, als das, was er anhatte.

„Ja, klar!“, kam es aus der Küche.

Hinnerk hätte schwören können, dass da etwas Schalk in ihrer Stimme gelegen hatte.

„Ich werf es dir zu und drehe mich weg, ja?“, erkundigte sie sich. Dann hörte man die Schranktür. „Für Fridtjofs Geschmack kann ich nichts“, sagte sie mit unterdrücktem Gnickern, als sie Unterhemd und -hose über ihre Schulter hinweg in Richtung Hinnerk schmiss.

Der staunte nicht schlecht, was er da in den Händen hielt. Das schwarze Netzhemd ging ja noch, aber was war das für eine Unnerbüx? So wenig Stoff. Da hatte man wohl gespart. Wie rum die nur gehörte, fragte er sich, wollte aber Oma Pusch nicht bemühen. Der dünne Faden konnte kaum vorne sein, also probierte er es andersherum. Nun lag der rot-schwarze Stoff notdürftig wie ein Feigenblatt über seinem Gehänge, das über die Jahre der Schwerkraft zum Opfer gefallen war. In seinem Hintern klemmte der Faden. So hielt es wenigstens. Den Rest würde die Kanarienvogelhose kaschieren, hoffte er. Außerdem war das Ensemble weniger warm und er musste sich ja glücklicherweise vor niemandem ausziehen.

„Kannst wieder reinkommen“, rief Hinnerk Oma Pusch zu.

Sie brachte eine Stofftasche für die ollen Klamotten mit und setzte sich aufs Sofa.

„So, und nu vertell mi alls!“, forderte sie ihn auf.

Hinnerk, der sich zwar verkleidet wie ein Clown vorkam, ging es trotzdem besser, darum holte er weit aus.

„Also, das war so …“, begann er und erzählte ihr brühwarm von den Ereignissen des frühen Morgens.

Schmiere stehen

Während Oma Pusch zuhörte, geriet sie mehr und mehr in Verzückung. Was Hinnerk da berichtete, klang aufregend und spannend. Sofort war ihre Neugier geweckt. In ihrem Kopf ratterte es. Sie musste überlegen, was nun zu tun war. Die Situation war nämlich wegen der Touristen nicht einfach. Bei früheren Mordfällen hatte sie noch vor der Saison ermitteln können. Aber jetzt lärmte es überall am knatschvollen Strand, nachdem die Hotelbüfetts abgeräumt oder die „Spätstücker“ aus ihren Ferienwohnungen gekommen waren. Trotzdem konnte man nicht davon ausgehen, dass sich die Menge nur mit sich selbst beschäftigte und Sandburgen um ihre Strandkörbe baute. Neugierige Augen gab es immer. Wenn Oma Pusch und Hinnerk also tätig werden und den Kopf genauer unter die Lupe nehmen wollten, brauchten sie einen Sichtschutz und am besten auch jemanden, der Schmiere stand. Da Lina mit Sicherheit ausfiel, weil man sie wegen ihrer Ohnmacht ins Krankenhaus gebracht hatte, blieb nur Oma

Puschs Freundin aus dem Süderriff. Rita war schon über Jahrzehnte hinweg ihre Wegbegleiterin und neuerdings ihre zuverlässige Partnerin in Sachen Mordermittlung. Meist saßen die beiden Frauen gemeinsam in Oma

Puschs Kiosk und verkauften die überall an der Küste bekannten, ja fast schon als legendär zu bezeichnenden Rollmopsbrötchen. Fischburger mit Pfiff sozusagen, denn Oma Pusch hatte etwas Einzigartiges erfunden: Sie spritzte einen Schuss Honig über den Bratrollmops, sodass sich eine wohlige Mischung aus süß und sauer im Mund der Kunden einstellte. Ein Genuss, der dermaßen gut ankam, dass seine Erfinderin darüber nachdachte, ihn zum Patent anzumelden.

Ein paar Kleinigkeiten sollten wir über Charlotte (Lotti) Esen noch erzählen. Nicht jeder, der dieses Buch in den Händen hält, kennt das Urgestein aus Neuharlingersiel bereits. Oma Pusch ist eine Dame ohne Alter, gewissermaßen ein zeitloser Mensch, der auf eine große Familie stolz sein kann und mit nahezu jedem in der Umgebung verwandt ist. Fünf Kinder und 13 Enkel sorgen für manche Turbulenzen in ihrem Dasein, aber auch für glückliche Momente. Drei Männer hat sie überlebt und ist finanziell unabhängig. Das hat sie ihrem letzten namens Fridtjof zu verdanken, der glücklicherweise eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, bevor er auf hoher See beim Fischfang verunglückte und zu Nordseesand wurde. Man hat ihn nie gefunden. Böse Zungen munkelten, es hätte einen Deal zwischen den Ehepartnern gegeben und der olle Fischer läge längst an einem herrlich weißen Strand in der Karibik, aber das ist natürlich Humbug.

Ach, eins fragen Sie sich noch? Wieso nennt man die Hobbyermittlerin Oma Pusch? Doch das darf ich leider nicht mehr erwähnen. Ich höre ihre Standpauke heute noch, weil ich Familieninterna im ersten Buch „FriesenNerz“ ausgeplappert habe. Mir klingeln jetzt noch die Ohren. Also: Bitte einfach nachschauen! Doch nun zurück zur Geschichte:

Oma Pusch erreichte ihre Freundin an einem delikaten Ort, aber warum musste Rita ihr Smartphone auch mit aufs Klo nehmen?

„Moment, ich muss erst abziehen“, bat Rita. Man hörte Wasser rauschen. „Eben noch Hände waschen, bleib dran! So, jetzt bin ich ganz Ohr!“, sagte sie.

„Hinnerk ist hier“, begann Oma Pusch.

„Das ist doch nichts Außergewöhnliches“, erwiderte Rita, „oder ist er jetzt auf dich anstatt Lina scharf?“

„Keineswegs“, antwortete Oma Pusch und sah sich zu Hinnerk um, der wie ein bunter Vogel in ihrem Sessel saß. „Er hat einen Kopf am Strand entdeckt.“

„Bei dieser Flut von Touristen sollten da mehrere sein“, lachte Rita. „Ein abgeschlagener ist es sicher nicht, der wäre schließlich auch anderen aufgefallen.“

„Wissen wir nicht“, berichtete Oma Pusch, „weil wir keine Ahnung haben, ob unten an der Glatze noch was dranhängt.“

„Da hat wohl ein Kind seinen Vater aus Jux eingegraben“, vermutete Rita. „Schon mal an so was gedacht?“

„Ehrlich gesagt nein, denn der Kopf ist so tot wie nur irgendwas, und jemand hat ihm die Augen ausgestochen“, erklärte Oma Pusch. „Bist du jetzt überzeugt?“

Rita zuckte zusammen und war froh, dass das niemand sehen konnte.

„Ja, aber warum ist dann nicht längst die Kripo da und alle anderen? Kapier ich nicht“, sagte Rita.

„Weil Hinnerk einen Hut drübergestülpt und ihn mit Sand bedeckt hat. Es dauert jetzt zu lange, das alles haarklein zu erklären. Das machen wir später. Wir brauchen dich zum Schmierestehen. Hast du nicht so ein Wurfzelt im Keller für die Kinder deiner Urlaubsgäste?“

„Schon, aber was willst du denn damit?“, erkundigte sich Rita.

„Kommen! Mitbringen! Ich kauf es dir ab“, ordnete Oma Pusch an. „Wir labern schon viel zu lange. Schwing die Hufe! Treffpunkt ist am Kiosk.“

An Oma Puschs Ton erkannte Rita, dass sie sich besser sputen sollte. Normalerweise wäre sie jetzt eingeschnappt gewesen, aber sie wusste genau, dass ihre Freundin nur so mit ihr sprach, wenn sie extrem aufgeregt war. Und das hieß gemeinhin, dass eine turbulente Zeit bevorstand.

In Windeseile flitzte sie in den Keller, schnappte sich das Zelt und schwang sich auf ihr Fahrrad. Mit dem kunterbunten Vehikel erreichte sie in wenigen Minuten den Hafen. Hinnerk und Oma Pusch standen schon parat. Rita stutzte. Wie sah der denn aus? Ein Ara wirkte blass neben ihm. Nur mühsam konnte sie ein Lachen unterdrücken. Wahrscheinlich diente der Aufzug zur Tarnung.

„Wir tun so wie Touris“, befahl Oma Pusch, die einen Sandeimer mit Schaufel in der Hand trug und damit Ritas Vermutung insgeheim bestätigte. „Etwas Handwerkszeug trägt Hinnerk in seinem Rucksack.“

„Und was habt ihr jetzt vor?“, fragte Rita.

Oma Pusch grinste. „Ganz einfach! Wir gehen zu der Stelle, lassen dein Zelt aufpoppen und schlüpfen rein. Dann nehmen wir die Schere aus Hinnerks Rucksack und schneiden ein großes Loch in den Boden. Anschließend stülpen wir das Zelt über den verbuddelten Schädel und können ganz in Ruhe nachgucken, was sich dahinter verbirgt.“

„Darunter, meinst du wohl, Lotti“, wandte Hinnerk ein.

„Ja, das auch, aber wir wollen doch außerdem wissen, was es mit deinem komischen Fund auf sich hat.“

Der alte Fischer nickte.

„Und was ist mein Part?“, erkundigte sich Rita.

„Du sollst vor dem Zelt Schmiere stehen, damit uns niemand stört“, erklärte Oma Pusch.

Rita sah beleidigt zu Boden. Oma Pusch war in der Zwickmühle. Hinnerk hatte den Kopf gefunden und hielt sich deshalb für berechtigt, im Inneren des Zeltes mitzumischen. Ihre Freundin ermittelte sonst aber immer mit ihr und meinte daher, ihr Platz müsste zwingend an Lottis Seite sein. Doch wann immer Oma Pusch nicht weiterwusste, atmete sie einmal tief durch. Meist fiel ihr spontan eine List ein. Und so war es auch diesmal.

„Ritalein“, begann sie vorsichtig, „das ist bestimmt kein schöner Anblick. Diese leeren Höhlen sind wahrscheinlich richtig ekelig. Ich dachte, das will ich dir lieber ersparen.“

Hinnerk nickte. „Boah, wirklich fies, wie der so mit nix auf das Meer starrt.“

„Schon gut“, sagte Rita etwas besänftigt, „muss man sich ja in echt nicht antun, und du hast den Kopp sowieso schon gesehen.“

„Ich mache auch Fotos von allen Seiten“, versprach Oma Pusch. „Das ist dann weniger schlimm, als wenn man auch noch mit der Nase drüberhängt.“

„Sehr liebenswürzig von dir“, brummte Rita.

„Du hast im Grunde die wichtigste Aufgabe“, erklärte ihr Oma Pusch. „Wir müssen uns voll und ganz darauf verlassen, dass uns niemand stört oder gar entdeckt. Sonst kommen wir in Teufels Küche.“

„Ja, ja, lass gut sein“, erwiderte Rita. „Nun los, ab zum Strand!“

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