Kitabı oku: «Von der Erziehung zur Einfühlung»
Naomi Aldort
Von der Erziehungzur Einfühlung
Wie Eltern und Kinder
gemeinsam wachsen können
Deutsch von Cordula Kolarik
1.Auflage 2020
© 2005 by Naomi Aldort
© 2009 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiamt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
Raising our Children Raising Ourselves
Titelfoto: © 2009 Maria Rafaela Schulze-Vorberg
Lektorat: Richard Reschika
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2020
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-338-9
„Nichts, was aus dir wird, kann mich enttäuschen; ich habe keine vorgefasste Meinung, was du sein oder tun sollst. Ich habe keinerlei Wunsch, dich vorherzusehen, nur den, dich zu entdecken. Du kannst mich nicht enttäuschen.“
Mary Haskell
Inhalt
Vorbereitung
Paradigmenwechsel
Kapitel Eins
Worte, die heilen und verbinden
Führt Wertschätzung zum Erfolg?
S.A.L.V.E. für die Kommunikation
Gedankenerforschung
Junge Kinder und das Sprechen über Gefühle
Wenn das Bekunden von Wertschätzung zur Beleidigung wird
Gefühle der Wut, Worte der Liebe
Wenn Sie Ihr Kind um etwas bitten
Zurückspulen
Wertschätzung für Unausgesprochenes
Kommunikation über Verluste
Wie man Bedauern ausdrückt, damit sich das Kind versöhnt fühlt
Wenn Kommunikationswerkzeuge nach hinten losgehen
Eine Einführung in die fünf Grundbedürfnisse von Kindern
Das Verhalten Ihres Kindes verstehen
Kapitel Zwei
Liebe
Liebe ist keine Belohnung
Wie Kinder Liebe erleben
Zärtlichkeit
Aufmerksamkeit schenken
Unterschiedliche Arten, Liebe wahrzunehmen
Über Kindzentriertheit
Unterscheiden Ihrer Bedürfnisse von denen Ihres Kindes
Wenn ein Kind an Ihrer Liebe zweifelt
Wie Sie Ihre Fähigkeit, bedingungslos zu lieben, zurückgewinnen können
Befreiung von der Angst, die Kontrolle zu verlieren
Befreiung von der Angst, eine klare Orientierung zu bieten
Befreiung von der Angst, nicht genug zu haben
Die Pflege der Selbstliebe (Die Angst, sich zu behaupten)
Unseren Eltern gefallen
Über Konsequenz
Kapitel Drei
Selbstausdruck
Der Mut zu Gefühlen
Negieren
Ablenkung
Vermeiden
Erzeugen von Angst
Weinen
Trennungsangst und das Bedürfnis zu weinen
Wutanfälle: Schreien wegen eines Bedürfnisses oder das Bedürfnis zu schreien?
Der Preis der Kontrolle
Wenn ein Kind einen Wutanfall benutzt, um zu bekommen, was es will
Elterliche Führung
Die „Opferpsychologie“ vermeiden
Der Wut von Kindern Gehör schenken
Verarbeitung schmerzlicher Ereignisse aus der Vergangenheit
Der Selbstausdruck der Eltern
Kapitel Vier
Emotionale Sicherheit
Ihre Empfindungen und das Gefühl des Kindes, in Sicherheit zu sein
Erkennen von Verhaltensweisen, die auf Angst beruhen
Vorbeugung von Lügen, Verheimlichen und anderen Verhaltensweisen, die auf Angst beruhen
Der Preis der Kontrolle über ein Kind
Wie Sie Sicherheit schaffen, um unvermeidliche Angst ausdrücken zu können
Sicherheit, Hass zum Ausdruck zu bringen
Hass unter Kindern
„Ich wünschte, ich könnte meine Schwester loswerden“
Hassgefühle gegenüber Eltern
Helfen Sie Ihrem Kind, statt ihm Angst einzujagen
Kapitel Fünf
Autonomie und Macht
Die Aggression eines Kindes auflösen
Vorbeugung von Schwierigkeiten außer Haus
Körperliches Spiel
Kitzeln
Ringkämpfe
Das fügsame Kind
Die Entwicklung von Selbstvertrauen
Kapitel Sechs
Selbstwertgefühl
Die Bausteine des Selbstwertgefühls
Was Selbstsicherheit ist und was nicht
Selbstwertgefühl und Geschwister
Beleidigungen unter Geschwistern
Fußnoten
Quellenhinweise
Danksagung
Kontaktinformationen
Produkte und Angebote von Naomi Aldort
Vorbereitung
Paradigmenwechsel
Teilen Sie Ihr Leben mit einem Kind, dessen kompetente Handlungen nicht aus Angst, sondern aus Freude und Liebe entspringen.
Dieses Buch ist das Ergebnis vieler Jahre, in denen ich meine Kinder begleitet und Familien aus der ganzen Welt beraten habe. Aus den erstaunlichen Geschichten von Eltern habe ich erfahren, dass man oft schon weiß, wie man gute Eltern sein kann, sich jedoch nicht immer nach der eigenen Weisheit richtet. Vielleicht sagen Sie etwas oder verhalten sich so, wie Sie es eigentlich gar nicht wollen, und die Reaktion, die Sie spüren, ist Bedauern, denn tief im Inneren wissen Sie es. Aber Gedanken und alte Prägungen in Ihrem Kopf verstellen Ihrer Weisheit, die aus Ihrer Liebe erwächst, den Weg. In diesem Buch werden Sie lernen, unproduktive Gedanken von Ihrer Liebe zu Ihrem Kind zu unterscheiden, so dass Sie im Einklang mit sich selbst handeln und Ihrem wahren Selbst, der liebenden Mutter oder dem liebenden Vater, die Sie sein wollen, entsprechen können. Sie werden präzise Techniken lernen, um Ihre Liebe in schwierigen Situationen zum Ausdruck zu bringen.
Ich weiß, Sie wären froh, nie mehr zu schimpfen, zu strafen oder zu drohen, wenn Sie nur wüssten, wie Sie dafür sorgen könnten, dass Ihr Kind ohne derartige schmerzliche Maßnahmen zu einem rücksichtsvollen, verantwortungsbewussten und erfolgreichen Menschen heranreifen kann. Von der Erziehung zur Einfühlung ist die Antwort auf Ihren Wunsch.
In den letzten Jahren hat der Wunsch nach einer friedlichen Haltung als Eltern sanftere Wege hervorgebracht, Kinder zum Kooperieren zu bewegen. Jedoch hat sich das uralte Konzept der Kontrolle nicht geändert, und „das Herbeiführen von Kooperation“ ist die neue Terminologie, die uns die Augen vor der darunter verborgenen Kontrolle verschließt. Kontrolle ist unwirksam, weil sich Menschen von Natur aus dagegen wehren. Ob es sanfte Nötigung oder versteckte Manipulation ist, eben die Kontrolle, die wir benutzen, verursacht die Probleme, die wir zu lösen versuchen.
Die meisten Eltern wissen bereits, wie man Kinder sanft kontrollieren kann; was wir aber nicht wissen, ist, wie man sie NICHT kontrolliert und in Frieden und Freude mit ihnen lebt. Wir kennen derartige sanfte Kontrollmechanismen in Form natürlicher Konsequenzen, vereinbarter, „nicht strafender“ Auszeiten, als „Herbeiführen von Kooperation“, Bestechung und Lob. Aber Gehorsam, Folgsamkeit und sogar das Herbeiführen von Kooperation bedeuten, dass sich das Kind dem Willen des Erwachsenen fügt, auch wenn es dabei zufrieden zu sein scheint (weil es ihre Liebe will und erleichtert ist, sie zu verdienen). Eltern suchen heute nach Wegen, ihre Kinder zu begleiten, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und ihnen Vorbild zu sein, ohne sie jedoch zu kontrollieren.
Durch dieses Buch sollen Sie daher nicht lernen, wie Sie Kooperation erreichen können, sondern wie Sie Selbsterkenntnis für sich selbst und für Ihr Kind fördern können. Ein autonomes Kind, dessen Leben in der von ihm gewünschten Richtung fließt, handelt produktiv, weil es dies will. Die Triebfedern seines Handelns sind Freude und Liebe, nicht Angst oder das Bedürfnis, Anerkennung zu erzielen.
In den folgenden Kapiteln werden Sie lernen, sich von Ihren eigenen emotionalen Reaktionen und Ihrer Konditionierung zu lösen, damit Ihr Kind der Mensch sein kann, der es ist, ohne von Ihrer Vergangenheit, Ihrer Angst vor der Zukunft oder Ihrer Sorge darüber, was andere über Sie als Eltern sagen könnten, eingeschränkt zu werden. Sie werden lernen, die Bedürfnisse Ihres Kindes zu erfüllen, ohne es zu formen – wie ein Gärtner, der die Blumen gießt, aber ihnen nicht hilft, sich zu öffnen, oder ihre Form oder Farbe auswählt.
Unser evolutionärer Fortschritt hin zu friedlicheren, miteinander verbundenen Menschen, die sich ihrer selbst bewusst sind, hängt davon ab, dass wir unser Festklammern daran, wie es früher war, und das Bedürfnis nach Kontrolle hinter uns lassen. Die typischen Fragen: Wie kann ich das Kind dazu „bringen“, bei der Hausarbeit zu helfen, ruhig zu sein, mit dem Wutanfall aufzuhören, gut zu essen usw., spiegeln den Wunsch wider, es zu kontrollieren. Es geht darum, das Kind dazu zu „bringen“, was die Eltern wollen; das Kind muss das, was es will, aufgeben, das heißt, es muss sich selbst aufgeben. Doch das Aufgeben des eigenen Willens ist die Ursache der meisten Schwierigkeiten bei Kindern. Ein Kind dagegen, das über sein Leben selbst bestimmt, handelt produktiv, weil die Triebfedern seines Handelns Freude und Liebe und nicht Wut, Angst oder Stress sind.
Wenn Sie den Mut haben, Ihrem Kind zu vertrauen, so dass es sein Leben selbst gestalten kann, werden Sie eine höchst erfüllende Erfahrung als Eltern machen, bei der Sie sich in die einzigartigen Bedürfnisse und Vorlieben Ihres Kindes verlieben. Eine solche Liebe ist bedingungslos – Sie lieben Ihr Kind, nicht die Vorstellung davon, wie es sein sollte. Liebe ist nur dann Liebe, wenn es keine Bedingungen gibt. Sobald Liebe als Belohnung für ein Verhalten oder eine Leistung benutzt wird, ist es keine Liebe mehr, sondern wird zu einer Lektion des Gebens und Nehmens. In diesem Buch werden Sie lernen, Ihre Rüstung abzulegen und Liebe, die an keine Bedingungen geknüpft ist, durch sich hindurch strömen zu lassen. Denn bedingungslose Liebe ist eine Belohnung in sich selbst.
Bei jedem schwierigen Moment mit Ihrem Kind haben Sie die Wahl: das Verhalten des Kindes zu unterbinden, damit Sie an Ihren alten Gewohnheiten festhalten können, oder zu einem größeren Menschen
zu wachsen, indem Sie sich mit Ihrem Kind auf den Weg machen. Ihr Kind ist Ihr Lehrer. Selbstbestimmte Menschen, die sich ihrer selbst bewusst sind, wachsen in Familien, wo die Eltern Seite an Seite mit ihren Kindern wachsen.
Elternschaft ist ein Weg des Reifens und Wachsens, wenn wir es wagen, mehr zu lernen und weniger zu lehren
Unser Streben nach Kontrolle ist weder ein Vergehen noch ein Fehler. Wir treten unschuldig in die Fußstapfen unserer Eltern und Großeltern, deren Grundlage Angst war. Sie glaubten, Kinder reiften nicht zu tüchtigen Erwachsenen heran, wenn ihre Eltern sie nicht formten. Sie meinten, die ziemlich göttliche Rolle, Babys und Kinder zu Erwachsenen zu machen, selbst übernehmen zu müssen. Eltern sein ist viel einfacher, wenn uns klar wird, dass Kinder, wenn sie auf dieser Welt ankommen, schon dazu bestimmt sind, auf ihre eigene, einzigartige Art zu erblühen.
In diesem Buch werden Sie große Erleichterung finden, weil die unmögliche Pflicht, Menschen zu formen, nicht mehr bei Ihnen liegt. Die Natur oder Gott ist kein Trottel; es ist nicht Ihre Aufgabe, aus einem Säugling innerhalb von zwanzig Jahren einen Erwachsenen zu machen. Ihre Verantwortung und Ihr Privileg bestehen darin, für einen Menschen zu sorgen und ihn zu pflegen, solange er wächst.
Die folgenden Kapitel beruhen auf der Erkenntnis, dass Gedanken ohne unsere Kontrolle kommen und gehen; wir haben sie nicht gerufen. Nicht all diese Gedanken sind nützlich oder auch nur wahr, und wir müssen uns nicht nach ihnen richten. Wenn wir wollen, dass die Zukunft der Menschheit anders aussieht, als sie es zurzeit tut, müssen wir unseren Kindern ermöglichen, diese Zukunft aus dem, was sie sind, und nicht aus dem, wie wir sie gerne hätten, zu erschaffen. Unsere Ambitionen für sie beruhen auf Gedanken, die wir aus der Vergangenheit geerbt haben. Wenn wir die Vergangenheit wiederholen und uns nach den alten, in Angst begründeten Vorstellungen in unseren Köpfen richten, kann es keine Veränderung geben.
Dutzende von Eltern-Kind-Szenarios werden in diesem Buch geschildert. Es sind die wirklichen Geschichten von Familien, mit denen ich arbeiten durfte. Alle Namen und Schauplätze sind geändert, um die Vertraulichkeit zu wahren. Die Grundsätze der Liebe sind unabhängig vom Alter. Diese Geschichten handeln von Kindern aller Altersstufen – von Säuglingen bis zu Teenagern.
Elternschaft ist ein Weg des Reifens und Wachsens, wenn wir es wagen, mehr zu lernen und weniger zu lehren. Wenn Sie den Mut haben, damit aufzuhören, die Art, wie Sie sind oder wie Ihre Eltern Sie erzogen haben, zu verteidigen, können Sie sich der Möglichkeit öffnen, dass Sie viel großartiger, wunderbarer und fähiger sind, als Sie dachten.
Kapitel Eins
Worte, die heilen und verbinden
Die Worte, die wir in unserer Interaktion mit Kindern verwenden, haben die Macht, zu heilen oder zu verletzen, Distanz zu schaffen oder Nähe zu fördern, Gefühle zu verschließen oder das Herz zu berühren und es zu öffnen, Abhängigkeit zu verstärken oder dem Kind Kraft zu verleihen. Zum Beispiel:
Beim Einkaufen in einem Bioladen hörte ich ein Kind weinen. Ich folgte dem Geräusch und fand ein kleines Mädchen, etwa vier Jahre alt, das weinend und jammernd auf dem Boden lag. Niemand schien bei ihr zu sein. Ich sah mich rasch um, und eine Frau an der Kasse beantwortete meine unausgesprochene Frage: „Ich weiß nicht, wo ihre Mutter ist. Dieser Junge hier ist offenbar ihr Bruder.“
Der Bruder des weinenden Mädchens war ungefähr neun Jahre alt. Er stand im Gang neben dem Einkaufswagen. Ich setzte mich neben das weinende Mädchen auf den Boden und versuchte zu erraten, warum sie weinte. „Wartest du schon furchtbar lange darauf, endlich aus dem Laden hier rauszukommen?“, fragte ich.
„Ja“, sagte sie.
„Willst du nach Hause gehen?“
„Ja“, antwortete sie und schluchzte dabei lauter.
„Es dauert so lang, und Mama ist so langsam“, fügte ich hinzu.
„Ja“, kam die Antwort. Diesmal sah mich das Mädchen mit ihren großen, tränenerfüllten Augen an.
„Es ist schwer, in diesem langweiligen Laden zu sein und so lange zu warten“, sagte ich.
„Mmhh.“
Ihr Bruder kam zu uns herüber und sagte mit einer ungeduldigen Geste: „Komm, Lizzie, steh jetzt auf.“
Ich wandte mich an den Jungen und fragte: „Bist du es auch leid, auf Mama zu warten?“
„Ja“, antwortete er und fügte dann hinzu, „vor allem, wenn im Fernsehen gerade die beste Sendung läuft.“
„Oh“, sagte ich. „Verpasst ihr gerade eure Lieblingssendung?“
„Ja“, erwiderte Lizzie und erzählte mir von der Sendung.
„So was Blödes“, bestätigte ich. „Wann kommt die Sendung das nächste Mal?“
„Morgen“, sagten sie wie aus einem Munde. „Sie kommt jeden Tag“, ergänzte der Junge.
„Habt ihr Angst, dass ihr nicht herausbekommen könnt, was ihr verpasst habt?“, fragte ich, weil ich dachte, sie machten sich vielleicht Sorgen, der Geschichte nicht mehr folgen zu können.
„Ja“, antwortete Lizzie, und ihr Bruder nickte.
Dann stand Lizzie auf. Ich stellte mich vor. Lizzie umarmte mich herzlich. Ich sagte: „Ich bin so froh, dass ich euch getroffen habe.“ Sie ließ sich in meine Arme sinken, und ich stand auf und hielt sie. Sie war jetzt ruhig. Dann kam ihr Bruder näher auf uns zu und sagte: „Wir bekommen bestimmt raus, was wir bei der Sendung verpasst haben, Lizzie.“ Lizzie lächelte. In dem Moment kam die Mutter der Kinder und dankte mir für meine Hilfe.
Worte, die heilen, müssen nicht unbedingt etwas an den Tatsachen ändern. Lizzie konnte nicht nach Hause gehen, als sie es wollte, und sie verpasste ihre Fernsehsendung. Was sich jedoch änderte, waren ihre Gefühle dazu und die Art, wie sie die restliche Zeit in dem Laden verbrachte. Die übliche Art, mit Kindern zu reden, negiert oft jede Aussage des Kindes. Sehen wir uns an, wie das Gespräch mit Lizzie ausgesehen hätte, wenn ich sie „liebevoll und sanft“ negiert hätte.
Stellen wir uns vor, ich hätte Lizzie, als sie schluchzend auf dem Fußboden lag, gefragt: „Warum weinst du?“. „Warum“ zu fragen, drängt ein Kind in die Defensive und impliziert, dass wir keinen Grund zum Weinen sehen, während Kinder im Allgemeinen glauben, dass der Grund für ihre Tränen offensichtlich sei. „Warum?“ kann auch einen verletzenden Vorwurf an ein weinendes Kind andeuten: „Irgendwas stimmt wohl nicht mit dir, dass dich das so aus der Fassung bringt.“ Doch für dieses Beispiel stellen wir uns mal vor, Lizzie hätte auf meine Frage „Warum weinst du?“ mit „Ich will nach Hause“ geantwortet.
„Mama braucht bestimmt nicht lange“, hätte ich sagen können. „Willst du mal was sehen?“
Auf den ersten Blick wirken diese Sätze vielleicht harmlos, doch sie negieren Lizzies Gefühle sogar auf zweifache Weise. Erstens dauert es nach Lizzies Empfinden lange, bis ihre Mama mit dem Einkaufen fertig ist. Wenn ich etwas anderes zu verstehen gegeben hätte, hätte ich Lizzies Gefühl der Ungeduld angezweifelt. Und zweitens hätte ich durch mein Angebot, Lizzie von ihrem Unglück abzulenken, impliziert: „Tun wir so, als wärst du nicht unglücklich und als hättest du Spaß.“ Das negiert ihr Bedürfnis, sich ihrer Gefühle bewusst zu sein und über ihren Ärger und ihre Wünsche zu sprechen.
Wenn Lizzie auf die Ablenkung eingeht, hört sie vielleicht kurz auf zu weinen. Aber weil ihr Kummer immer noch schmerzt und ihre Gefühle weiterhin verleugnet werden, kann die Ablenkung, wie interessant sie auch sein mag, ihre emotionalen Bedürfnisse nicht befriedigen.
Sagen wir der Geschichte zuliebe, Lizzie ließe sich nicht auf meinen Versuch, sie abzulenken, ein, und heulte noch lauter: „Ich will meine Sendung gucken. Ich will jetzt nach Hause gehen!“
„Du kannst die Sendung bestimmt an einem anderen Tag sehen“, hätte ich noch weiter negieren können. „Außerdem ist zu viel Fernsehen nicht gut für dich.“
Damit hätte ich Lizzie so sehr entfremdet, dass sie am liebsten vor mir geflüchtet wäre. Ich hätte ihr Gefühl der Ungeduld bagatellisiert, ihre Frustration abgetan und ihr zu verstehen gegeben, dass sie keinen Grund hätte, unglücklich zu sein. Daher hätte sich Lizzie wahrscheinlich nicht mehr weiter bemüht, ihre Gefühle auszudrücken, und hätte nicht mehr nach dem verlangt, was sie wollte, weil sie nicht den Eindruck gehabt hätte, dass ich auf ihrer Seite wäre.
Mein Gespräch mit Lizzie hätte unbegrenzt so weitergehen können, da Negieren nie etwas löst, sondern vielmehr schmerzliche Emotionen steigert, weil das Kind dazu getrieben wird, seine Geschichte zu verteidigen. Schließlich hätte Lizzie einen Weg gefunden, mich loszuwerden, und wäre am Ende noch unglücklicher gewesen als zuvor.
Wenn Kindern der Eindruck vermittelt wird, dass sie authentisch sein und ihre Gefühle zeigen dürfen, und wenn sie sehen, dass wir ihren Blickwinkel ernst nehmen, finden sie oft selbst eine Lösung für ihr Problem oder schließen mit der Realität Frieden. Wenn die Gefühle von Kindern dagegen negiert und abgelehnt werden, sind sie oft nicht in der Lage, ihre Probleme zu lösen. Sie empfinden Wut, weil sie sich selbst als Opfer sehen.
In dem Szenario, das wir uns vorgestellt haben, hätte ich Lizzie in einem solchen Maß entfremdet, dass sie ihren berechtigten Unwillen zwangsläufig auf ihre Mutter übertragen und damit ihren eigenen Kummer und den ihrer Mutter noch gesteigert hätte. Was dagegen tatsächlich in meiner Gegenwart geschah, ist, dass Lizzie Erleichterung empfand, als ich Verständnis und Wertschätzung für ihre Gefühle zum Ausdruck brachte. Sie konnte nun akzeptieren, dass sie ihre Lieblingssendung nicht würde sehen können.
Führt Wertschätzung zum Erfolg?
„Ich habe meiner Tochter Wertschätzung entgegengebracht, aber leider erfolglos“, sagte Annie mit einem verzweifelten Seufzen. „Wolltest du, dass deine Tochter durch deine Wertschätzung mit ihrem Wutanfall aufhört, und das hat nicht funktioniert?“ fragte ich.
„Ja“, erwiderte Annie, „sie hat ihre Bauklötze trotzdem nicht weg geräumt.“
Das Bekunden von Verständnis und Wertschätzung hat seinen Wert in sich selbst. Es ist keine Methode, die wir benutzen, um das Verhalten eines Kindes oder den Verlauf eines Wutanfalls zu lenken oder zu verändern. Im Gegenteil, durch unsere Wertschätzung ermöglichen wir dem Kind, sich gefahrlos auszudrücken; wir bieten dadurch Liebe und vertraute Freundschaft an. Die Folge einer solchen Wertschätzung ist, dass sich das Kind sicher genug fühlt, um seine Gefühle wahrzunehmen und sie ganz auszudrücken.
Die wahrscheinlichste unmittelbare Folge des Bekundens von Verständnis und Wertschätzung ist verstärktes Weinen, ein Wutausbruch oder andere Formen des Selbstausdrucks. Als ich in dem echten Szenario mit Lizzie meine Wertschätzung für ihre Gefühle zum Ausdruck brachte, reagierte sie, indem sie lauter schluchzte und ihrem Unwillen freien Lauf ließ. Erst als sie damit fertig war, zu weinen und über ihre Bedürfnisse zu sprechen, wurde sie ruhig und konnte die Realität hinnehmen. Wenn es kein Fremder ist, der seine Wertschätzung für die Gefühle des Kindes zum Ausdruck bringt, sondern seine Mutter oder sein Vater, weint das Kind wahrscheinlich länger, weil es alte Spannungen zusammen mit den aktuellen herauslässt. Kinder, die Verständnis und Wertschätzung für ihre Gefühle und Erfahrungen erleben, weinen manchmal mehr oder werden wütender, eben weil die Wertschätzung ihnen die Möglichkeit verschafft, ihre tiefsten Gefühle auszudrücken. Aber sobald sie damit fertig sind, blicken sie oft ohne einen Rest negativer Gefühle nach vorne.
Bisweilen bringt das Bekunden von Wertschätzung auch einen Kummer zu einem schnellen Ende, weil es um etwas Vorübergehendes geht und das Kind daher schnell Erleichterung empfindet. Doch wenn das Kind heftiger schluchzt, seien Sie für es da. Achten Sie darauf, dass Sie den Kummer nicht verursachen, sondern Liebe und Bestätigung bieten, damit die Gefühle herausgelassen werden können. Wenn Sie sich angesichts der Intensität der Gefühle unbehaglich fühlen, denken Sie daran, dass es bei Ihrem Einsatz nicht um Ihr eigenes Wohlbehagen geht, sondern um das Vertrauen des Kindes in Sie und in sich selbst. Durch ein solches Bewusstsein des eigenen Ich lernen Kinder sich selbst kennen und vertrauen; Gefühle und ihr Ausdruck, einschließlich intensiver Gefühle, machen ihnen dann weniger Angst.
Das Kind begreift seine eigenen Emotionen und Bedürfnisse nicht nur klarer, sondern Sie werden auch feststellen, dass Sie es durch die Wertschätzung für seine Gefühle besser verstehen und dass Sie beide sich tief verbunden und gestärkt fühlen. Sie werden Respekt für den individuellen Weg ihres Kindes und ein klareres Verständnis ihres eigenen Weges als Mutter oder Vater entwickeln. Zwischen Ihnen und Ihrem Kind wird ein tiefes Band des Vertrauens wachsen, das auch andere Beziehungen im gesamten Leben Ihres Kindes prägen wird. Dadurch, dass es sich selbst vertraut und keine Angst vor Gefühlen hat, wird es emotionale Stabilität und Mitgefühl gewinnen, um die Höhen und Tiefen des Lebens zu bewältigen.
Vermeiden Sie es beim Bekunden von Wertschätzung für die Gefühle Ihres Kindes, zu dramatisieren oder Ihre eigene emotionale Reaktion hinzuzufügen. Wenn wir dramatisieren, ist es wahrscheinlich, dass sich das Kind noch tiefer in seine Geschichte hineinsteigert; wenn es dagegen unsere wohlwollende Haltung erlebt, kann es laut weinen oder toben und dann sein eigenes „Drama“ sehen und darüber lachen oder zumindest mit einer positiven Einstellung nach vorne blicken. Lizzie und ihr Bruder konnten mit der Realität Frieden schließen, weil man ihnen intensiv zuhörte und ihre Geschichte gleichzeitig nicht an Dramatik gewann. Ich vermied es zu dramatisieren. Weder bewertete ich die Situation, noch bot ich Auswege an, was impliziert hätte, dass die Lage schlimm wäre. Kinder springen förmlich aus ihrem Unglück heraus, wenn ihnen aktiv und wohlwollend zugehört wird und wenn sie damit fertig sind, sich auszudrücken.
S.A.L.V.E. für die Kommunikation
Viele Eltern fragen nach konkreten Worten, die ihnen helfen können, ihre Wertschätzung zu bekunden und zu bestärken, anstatt zu negieren. Die S.A.L.V.E.-Formel kann ein Werkzeug sein, um Ihnen beim Wechsel hin zum Bestätigen der Erfahrungen Ihres Kindes zu helfen, damit es seine Gefühle annehmen und authentisch und kraftvoll handeln kann.
S – Sondern Sie sich durch ein stummes Selbstgespräch vom Verhalten und den Emotionen Ihres Kindes ab. Das ist der schwierigste Schritt; sobald Sie ihn geschafft haben, ist der Rest einfach. Achten Sie darauf, wie Ihr Inneres Ihnen Worte in den Mund legt, wenn etwas, was das Kind getan hat, Sie zu einer Reaktion bewegt. Es ist wie ein Computer, der selbst Programme startet: Ihr Kind tut etwas, und ein Fenster öffnet sich automatisch in Ihrem Inneren. Dies wäre harmlos, wenn Sie das, was darin steht, nicht laut vorlesen würden. Wenn Sie aus der Fassung sind, ist es falsch, sich nach diesen Worten zu richten. Es würde die Situation nur verschärfen. Es ist nicht das, was Sie wirklich sagen wollen. Es entspricht nicht Ihrer wirklichen Absicht und ist daher unauthentisch. Der Beweis dieser Unauthentizität ist, dass Sie Ihre Worte und Handlungen später bereuen und dass Letztere Mauern zwischen Ihnen und Ihrem Kind entstehen lassen.
Um zu vermeiden, dass Sie Ihr Kind verletzen, lesen Sie die Worte in diesem automatischen Fenster stumm in Ihrem Kopf. Werden Sie sich der Worte bewusst, die Sie beinahe gesagt hätten, und lassen Sie Ihrer ganzen Äußerung, einschließlich bildlicher Vorstellungen, Maßnahmen, die Sie ergreifen wollen, oder Erinnerungen aus Ihrer Vergangenheit in Ihrem Inneren, freien Lauf. Das dauert weniger als eine Minute und schadet niemandem. Was Sie empfinden, ist für Sie allein bestimmt und kein Grund für Handlungen oder Äußerungen. Es ist eine alte Aufzeichnung, nicht der Mensch, der Sie in der Gegenwart sind.
Anfangs brauchen Sie für diese Erforschung Ihrer eigenen Gedanken vielleicht länger als diese eine Minute. Fangen Sie an, indem Sie sich Ihrer Gedanken einfach bewusst werden und sie so stehen lassen. Schreiben Sie Ihre Gedanken auf, damit Sie später gründlicher daran arbeiten können. Im Lauf der Zeit werden Sie größere Kontrolle über Ihr Inneres gewinnen und den ganzen kurzen Prozess auf der Stelle durchführen können.
Gedankenerforschung
• Prüfen Sie die Gültigkeit der Worte hinter Ihrer Aufregung, Wut, Sorge oder Kritik. Sind es wirklich Ihre Worte? Glauben Sie das wirklich? Gedanken wie, „sie wird es nie lernen“, „er sollte sich nicht so verhalten“ oder „sie sollte wissen, dass sie Verantwortung übernehmen muss“, sind alte Aufzeichnungen, die vielleicht nicht einmal Ihre eigene Meinung widerspiegeln. Vielleicht ist es das, was andere sagen; vielleicht sind es Ihre Ängste, Ihre Erinnerungen oder Ihre eigenen Ambitionen. Was sie auch sein mögen, sie stehen Ihrer Fähigkeit, Ihr Kind so, wie es ist, zu lieben und zu verstehen, im Wege.
• Werden Sie sich bewusst, was diese Gedanken mit Ihnen machen, wenn Sie sie ernst nehmen. Stellen Sie sich vor, wie Sie Ihr Kind behandeln würden, wenn Sie diesem Gedanken Folge leisteten.
• Überlegen Sie, wer Sie wären, wenn Ihnen dieser Gedanke nicht in den Sinn käme. Ohne den Gedanken können Sie frei sein und auf Ihr Kind eingehen, statt auf Ihr eigenes Selbstgespräch. Versuchen Sie sich vorzustellen, Sie ständen mit Ihrem Kind in derselben Situation, jedoch ohne den Gedanken, der Sie dazu bewegt zu negieren und zu kontrollieren. Der Gedanke wird nicht verschwinden. Er gehört Ihnen. Stellen Sie sich nur vor, wer Sie ohne ihn sind. Ohne Ihren Gedanken, der Sie einschränkt, kann Ihr wirkliches, bedingungslos liebendes Selbst zum Vorschein kommen.
• Prüfen Sie, ob das, was Ihre Gedanken Ihnen über Ihr Kind suggerieren, nicht ebenso auf Sie zutrifft. Gewöhnlich sehen wir bei anderen Menschen Dinge, die wir selbst auf uns bezogen hören sollten. „Er sollte sich nicht so verhalten“ wird zu „ich sollte mich … mit meinem Kind nicht so verhalten.“ „Sie wird es nie lernen“ kann auch ein Aufruf an Sie sein, selbst besser zu lernen, wie Sie sich als Mutter oder Vater verhalten können, und „sie sollte wissen, dass sie Verantwortung übernehmen muss“ kann ein wichtiger Wegweiser für Ihre eigene Fähigkeit sein, für die Reaktionen Ihres Inneren und für andere Bestandteile Ihres Lebens Verantwortung zu übernehmen.
Sobald Sie sich einmal der Gedanken, die Sie in die Irre führen, bewusst geworden sind, werden Sie entdecken, dass Sie wirklich voll bedingungsloser Liebe sind; statt in Ihrer eigenen Sorge um das Kind gefangen zu sein, werden Sie mit nichts als Ihrer Liebe, wie sie immer war und ist, für es da sein. Wenn Sie sich von Ihren störenden Gedanken frei gemacht haben, beginnt das Licht des Menschen, der Sie wirklich sind, zu leuchten, und Sie sehen Ihr Kind in diesem liebenden Licht.
A – Aufmerksamkeit auf Ihr Kind richten. Wenn Sie die Unterhaltung in Ihrem Kopf (die mit Ihrem Kind nichts zu tun hat) still ergründet haben, wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit von sich selbst und Ihrem inneren Monolog ab und Ihrem Kind zu.
L – Lauschen Sie auf das, was Ihr Kind sagt oder worauf sein Verhalten hindeuten kann; dann hören Sie noch weiter zu. Halten Sie Augenkontakt mit Ihrem Kind und stellen Sie Fragen, die ihm Gelegenheit geben, noch mehr zu sagen, oder wenn sich das Kind nonverbal ausdrückt, die es wissen lassen, dass Sie es verstehen.