Kitabı oku: «Woanders am Ende der Welt»
NATASCHA N. HOEFER
Woanders – am Ende der Welt
NATASCHA N. HOEFER
Woanders – am Ende der Welt
EIN BRETAGNE-ROMAN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Autorin und Verlag spenden gemeinsam je verkauftem Buch
1,00 Euro für das Deutsche Pfadfindermuseum in Baunach.
2. verbesserte Auflage, März 2019
© Spurbuchverlag, 96148 Baunach
info@spurbuch.de, www.spurbuch.de
Ausführung: pth-mediaberatung GmbH, Würzburg
Umschlaggestaltung: Sven Grosse
ISBN 978-3-88778-556-7
EISBN 978-3-88778-925-1
Weitere Bücher des Spurbuchverlages finden Sie unter www.spurbuch.de
Für Clelia
Für Jérôme
Inhaltsverzeichnis
1. Neuanfang
2. Verlassen
3. Unterwegs
4. Erste Eindrücke
5. Gute Freunde
6. Folgen des Lambig
7. Verhängnisvolle Begegnungen
8. Von einer Maus und einem Rat
9. In den Seegrotten
10. Am Abgrund
11. Zur Insel, und ihren Mauern des Schweigens
12. Sog der Vergangenheit
13. Nachforschen und nachstochern
14. Streit hier, Streit dort
15. Sabotage
16. Rotschwarzer Granit
17. Fest Noz
18. Im Krankenhaus, am 14. Juli
19. Das Familienfest
20. Ende des Festtags
21. Überraschendes und Besorgniserregendes
22. Der Verdacht
23. Katzensitting
24. Ausflug zu viert
25. Unter der Erde
26. Postume Botschaft
27. Ausflug zu zweit
28. Die Flucht
29. Ins Verderben
30. Die Aussprache
31. Letzte Aufzeichnungen
31. Am wilden Wasser
32. Vermasselt
32. Qui voit Sein
33. In Aufruhr
34. Ar Guéveur
35. Kammerspiel
36. Einst
37. Bekenntnis eines alten Kriegers
38. Überraschung
39. Rückkehr des Tagebuches
40. Festival du Bout du Monde
41. Das alte Haus der Cadious
42. Ein neuer Tag
43. Behutsame Begegnungen
44. Das große Familienfest
45. Der Tag danach
46. Abschied
Mein herzlicher Dank gilt
1. Neuanfang
Marie stand auf, sah sich in ihrem Behandlungsraum noch einmal um. Sie hatte aufgeräumt, mit persönlichen Dingen den Raum ohnehin nie überfrachtet. Undenkbar, jetzt einfach hier fortzugehen, schoss es ihr durch den Kopf! Und prompt musste sie an ihre Patienten denken – Noirot, der scheue Kater, der sich nur von ihr berühren ließ … Der alte Milou, der immer knochiger wurde, immer blinder und schwerhöriger; aber wie er sich freute, sie an ihrem Geruch zu erkennen, wenn er kam, damit sie mit ihm seine Ergotherapie machte … Milou und Noirot, sie waren angemeldet für morgen, aber sie würde morgen nicht da sein, wie sollte es gehen ohne sie? – Sie musste sich auf den Schreibtisch aufstützen, weil ihr plötzlich die Kraft fehlte. Sie liebte ihre Patienten, sie liebte ihren Job als Veterinärin! Und jetzt musste sie das alles aufgeben, weil es ja doch so nicht weitergehen konnte, nein, es ging nicht länger!
Entschlossen raffte Marie sich auf, verließ das Zimmer. Doch schon im Flur knickte sie wieder ein, verschwand in der Toilette, anstatt direkt bei Sylvain reinzugehen. »Zieh es durch, Marie«, beschwor sie ihr Spiegelbild über dem kleinen Waschbecken. Und doch kam er hoch, der Schwall der Erinnerung.
Der Tag ihres Vorstellungsgespräches. Sie war hier drin gewesen, um sich kurz frischzumachen. Der Mann, dem sie beim Verlassen des Toilettenraums die Tür fast ins Gesicht gerammt hätte. Seine braunen Augen, dieser Blick, voller Bewunderung, aber zugleich voller spitzbübischer Galanterie. Komplizenhaft hatten sie sich zugelächelt. Als hätten sie es beide vom ersten Moment an gewusst.
Sie hatte den Job bekommen, natürlich, war jetzt seine Kollegin (und Ludovics; aber der war nur ein harmloser Kollege, der sich aus ihrer ganzen Geschichte dezent raushielt). Ihr erstes Röntgen also; Patient: Brutus, ein humpelnder und gereizter Rottweiler-Dogge-Mischling.
»Wie viel wiegt der Kerl?« (Frage vom erfahrenen Doktor Sylvain an die junge Novizin.)
»Keine Ahnung, nicht so wichtig.« (Keck zurück.)
»Wie wollen Sie ihn dann zum Röntgen narkotisieren, Mademoiselle Cadiou?« (Mit charmantem Lächeln.)
»Gar nicht, Monsieur Cozic.« (Lächelnd zurück.)
»Was soll das heißen, gar nicht?« (Zu perplex bis hin zu beunruhigt, um weiterzulächeln.)
»Vertrauen Sie mir nicht? Sie haben mich doch eingestellt …« Und Sylvain hatte zugesehen, wie sie es gemacht hatte: Beruhigung des Tiers durch Zureden und Akupressur, d.h. Massieren bestimmter Druckpunkte – et voilà. Ruhig und brav auf den Röntgentisch, und zack, schon gab es die schönsten Aufnahmen. Danach hatte Sylvain sie nur noch »die Hundeflüsterin« genannt. Und ihr später, sehr viel später gestanden, er habe seit dem Tag, an dem er ihre zarten Finger Brutus’ Nacken und Rückgrat massieren sah, davon geträumt, wie es wäre, selbst von ihr so berührt zu werden …
Ja, berührt hatten sie sich, und es war unglaublich gewesen.
Jener verhängnisvolle Abend, drei Jahre später – volle drei Jahre hatten sie es platonisch miteinander ausgehalten! Aber dann. Vorgeblich hatten sie beide geglaubt, die unliebsame Bereitschaftsschicht zu Heiligabend zu haben. Marie hatte sehr gut gewusst, dass nur sie sie gehabt hatte. Er war trotzdem aufgetaucht. Und dann … sie hatten die Kontrolle verloren. Der Anfang von etwas … Unbeschreiblichem. Sie hatte nicht gewusst, dass zwei Menschen sich wirklich derart verfallen konnten; wirklich, nicht nur in Büchern oder in Filmen!
Sylvain, zu den unmöglichsten Uhrzeiten vor ihrer Wohnungstür.
»Du bist da – mein Gott, Marie, tut es gut, dich zu sehen. Komm her!« Seine Umarmungen, seine Liebkosungen. Als ob sie der Rettungsanker seines Lebens wäre. Aber sie, jedes Mal, mit flatterndem Herzen: »Wie viel Zeit hast du?« »Eine Stunde; die Kinder sind im Musikunterricht …« »Béatrice ist mit den Kindern bei ihren Eltern – Marie, wir haben ein Wochenende für uns!« »Sie ist beim Yoga, die Kinder sind bei Freunden – bestimmt anderthalb Stunden noch …« Geraubte Augenblicke – wie schön das klingt! Aber das reicht nicht für ein Leben!
»Schluss damit!«, zischte Marie ihrem Spiegelbild zu. »Schluss mit dem ewigen Warten und Hoffen! Ich kann nicht mehr! Es ist genug! Du weißt es, Marie, du weißt es! Die Kinder sind ausgewachsene Teenager inzwischen, und er hat nicht vor, sein Versprechen einzulösen! Er wird nie zu dir stehen, er hat keinen Mumm! Was er hat, Familie und Geliebte all inclusive, das will er nicht verlieren – aber wenn er seine Familie nicht verlieren will, verliert er zuletzt eben mich … Ist auch überfällig, verdammt!«
Marie drehte heftig den Wasserhahn auf, trank einen Schluck aus der zitternden Hand und verließ die Toilette.
»Hey, du bist da?« Sylvain strahlte sie an und sprang vom Rechner auf.
»Ich bin schon seit drei Tagen wieder zurück aus Paris.«
»Ich weiß; und ich wollte die ganze Zeit schon mit dir reden – nur, diese Woche war für mich extrem schwierig. Béatrice war krank – bzw., sie ist es immer noch; schwere Erkältung, da musste ich pünktlich heim, und sie rief hier dauernd an, weil ich ihr noch Medizin und so mitbringen sollte …«
Marie verschränkte die Arme.
»Aber ich hatte so sehr darauf gehofft, heute Abend einen ruhigen Moment mit dir zu haben. Wie war es also auf dieser Beerdigung? Deine Tante war das, nicht wahr?«
»Meine Großtante, Elodie, die Schwester meines Großvaters Erwann!«, empörte sich Marie nun doch wider Willen. Sie hatte ruhig bleiben wollen, aber erst die übliche Béatrice-Leier, und dann hatte er sich nicht einmal gemerkt, wer Elodie war!!
»Großtante Elodie – sollte ich die kennen?«, fragte Sylvain jetzt auch noch arglos. Aber dann schob er rasch nach: »Hör zu, mein herzliches Beileid natürlich, und jetzt erinnere ich mich, klar: Großtante Elodie aus Paris; das war die Modemacherin, die du mal im Altenheim besucht hast, oder?«
Marie nickte, sie konnte nicht reden, wischte sich stumm die Tränen weg.
Sylvain wollte sie in den Arm nehmen. »Ich wusste nicht, dass du ihr so nahe … Komm her, lass dich trösten.«
»Lass dich trösten – als ob das so einfach wäre!«, platzte es aus Marie heraus und sie stieß ihn weg. »Weißt du, wie ich mich auf dem Friedhof gefühlt habe? Vor ihrer Urnenwand – es war nicht mal ein echtes Grab, nur eine Urnenwand! Und sie hätte in der Bretagne beerdigt werden sollen, sie war Bretonin! Sie hat die Bretagne geliebt, diese ganze blöde Zeremonie in Paris war ganz falsch!«
»Mein armer Schatz. Warum hast du mir das nicht vorher erzählt?«
»Das hast du mir doch gerade erklärt – Béatrice hin, schwere Erkältung her! Du warst nicht sprechbereit. Aber diesmal stecke ich das nicht mehr weg, Sylvain. Vor Elodies Urne ist mir etwas klar geworden. Ein menschliches Leben ist zu kurz, um es mit so etwas wie unserer Affäre zu verschwenden.«
»Du weißt sehr gut, dass das zwischen uns mehr als eine Affäre ist.« Sylvain war blass geworden.
»Ich stand allein vor Elodies Urne. Natürlich, meine Familie war auch da; aber ich fühlte mich allein, auf mich zurückgeworfen. Ohne einen Lebensgefährten, der mit mir mitfühlen und dessen Liebe mich in meiner Trauer stützen würde.«
»Ich fühle mit dir mit. Immer. Jetzt.«
»Aber du warst nicht da! Niemand aus meiner Familie hat dich jemals gesehen. Niemand weiß von dir. Niemand von deiner Familie weiß von mir – natürlich nicht! Wir sind in niemandes Augen ein Paar, wir sind Schatten im Leben des anderen. Ich hätte dich gebraucht, bei dieser Bestattung, nicht als Schatten, sondern ganz real neben mir. Aber du warst nicht da.«
Sylvain blähte die Backen auf, rang die Hände.
»Und sag jetzt bitte nichts. Erneuere keine Versprechen, die du nicht halten willst. Du willst deine Frau in Wahrheit nicht verlassen. Jetzt sagst du, weil die Kinder noch da sind; aber wenn die einmal ausgezogen sind, wirst du sagen, du kannst Béatrice erst recht nicht allein lassen.«
»Marie, das…«
»Nein, ich bin noch nicht fertig!« Sie holte Atem. »Ich habe Elodies Haus und eine gewisse Summe geerbt. Damit kann ich mir meine Freiheit leisten. Es ist aus zwischen uns. Ich gehe fort aus Brest. Es tut mir leid, enorm leid für die Praxis. Aber es geht nicht anders.«
»Gehen? Was soll das heißen, wohin willst du denn gehen?«
»Nach Mengleuff. Das ist auf Crozon.«
Sylvain schloss langsam die Augen, blinzelte, als wolle er aus einem Alptraum erwachen. »Marie, ich – ich kann nicht aufhören, dich zu lieben.«
Marie wandte sich ab und ging.
Wenn er sie aufhalten, wenn er sie an sich reißen, wenn er sich jetzt entscheiden würde, für sie! Aber er tat es nicht.
Marie startete den Wagen. Minuten lang hatte sie nur dagesessen und gehofft, inbrünstig gehofft, er würde noch kommen – darum kämpfen, sie nicht zu verlieren! Nicht einmal das.
In fiebriger Hast verließ sie das Zentrum der Großstadt, fuhr auf die Schnellstraße Richtung Quimper auf, zwang sich, wegen der Radarkontrollen nicht schneller als hundertzehn zu fahren.
Wie lange war sie nicht mehr in Mengleuff gewesen? An Elodies vierundachtzigstem Geburtstag, vor zehn Jahren, hatte diese verkündet, sie sei zu alt, um in die Bretagne zu fahren. Damit hatten Maries sommerliche Besuche bei ihrer Großtante aufgehört. Aber einmal noch war sie vor ein paar Jahren nach Mengleuff gefahren, um von außen das vereinsamte Haus ihrer Vorfahren zu sehen und sich in den verwilderten Garten zu schleichen, das Paradies ihrer Kindheit … Doch es hatte zu wehgetan, das Verwildern und den Verfall mitanzusehen und sich dabei zu sagen: Elodie wird nie mehr kommen; nie mehr, weil sie in einem Altenheim in Paris sitzt … und dort sitzen wird bis zu ihrem Tod.
Da war sie endlich, die Ausfahrt nach Châteaulin – auch hier war Marie ewig nicht mehr gewesen. Sie überquerte das Stadtzentrum und den breiten Fluss Aulne über die einstige Eisenbahnbrücke, verließ Châteaulin über die Weststadt wieder und bald wurde die Landschaft um sie wilder, rauer. Die Landstraße stieg an, um seitlich am Berg Ménez-Hom vorbeizuführen; dahinter erstreckte sich die Halbinsel Crozon, und dann dauerte es nicht mehr lange und Marie fuhr durch Telgruc, an der Dorfkirche vorbei, und dann Richtung Meer … Endlich kam der unscheinbare Abzweig, der rechts in die Senke hinunterführte und dann wieder hinauf, zu dem winzigen Dorf, das Mengleuff war. Marie holperte über den Feldweg, der ringförmig um den Dorfkern führte, und da lag es, das Haus. Elodies Haus – nein, ihres.
Sie verlangsamte, ließ den Blick über das alte Gemäuer aus Feldstein schweifen, hielt aber noch nicht an. Der Weg vor dem Haus war zum Parken zu eng. Sie fuhr um die nächste Kurve und hielt dort am Rand eines Feldes. Alles wie früher, stellte sie fest. Es gab ihr ein unerwartetes Gefühl der Ruhe.
Ohne Hast nahm sie den Schlüssel ihres Hauses aus dem Handschuhfach und stieg aus. Schwalben sirrten um sie herum, sie hörte die Schreie der Möwen, die höher als die Schwalben flogen. Das Brummen eines entfernten Traktors drang an ihr Ohr. In der Nähe zirpten Grillen. Sonst war es still.
Sie ging am Hof des Nachbarhauses vorbei und warf einen Blick hinüber. Das Haus stand leer, war in schlechtem Zustand. Dann wandte sie sich – und ihr Herz klopfte dabei – ihrem eigenen Haus zu. Kaum zu glauben, sie hatte ein Haus! Sie hatte nie zu hoffen gewagt, sich von ihrem kargen Einkommen ein Haus leisten zu können; aber dass Elodie an sie, Marie, gedacht hatte, dass sie selbst, Marie Cadiou, das alte Haus ihrer Vorfahren bewohnen würde …
Und es sah gar nicht so heruntergekommen aus, wie sie es befürchtet hatte. Der allgegenwärtige Efeu musste regelmäßig beschnitten worden sein, auch wenn das letzte Mal wohl ein Jahr her sein konnte, so wie das Grünzeug sich über die Regenrinne hinaus hochwand. Riesig geworden war das Hortensienmassiv, das um die rechte vordere Hausecke wuchs; aber leider war es vertrocknet. Oder doch nicht ganz? »Ich gieße euch gleich«, versprach Marie den Hortensien. Mit der Fingerspitze schabte sie ein Stück Farbe von einem geschlossenen Fensterladen. Blau, nicht mehr braun. Sie würde Tür und Läden blau streichen. Die duftenden Rosensträucher neben den Fenstern bogen sich weit über den Feldweg vor; sie mussten zurückgeschnitten werden, waren aber nicht vertrocknet. Marie sah nach oben. Das Schieferdach sah noch gut aus, zumindest auf dieser Seite des Hauses.
Sie steckte den Schlüssel in das alte Schloss und drehte. Die Tür schwang auf, ein Geruch nach Feuchtigkeit schlug Marie entgegen. Aber nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Wer auch immer den Efeu gebändigt hatte, er hatte hin und wieder gelüftet.
Im Halbdunkel tastete sie sich nacheinander zu den Fenstern, öffnete sie und schlug die Läden zurück. Ja, alles hier drinnen sah aus wie in ihrer Erinnerung, nur schien das Ganze geschrumpft zu sein. War dieser Raum, der Hauptraum des Hauses, schon immer so klein gewesen?
Sie ging in den Anbau mit dem Badezimmer, öffnete die Luke im Dach; ging dann über die Holztreppe nach oben. Ihr wurde bewusst, dass sie niemals im Obergeschoss gewesen war; Elodie hatte es nicht erlaubt. Gespannt drehte sie den Knauf der linken Tür. Ein eisernes Bettgestell und ein alter Schrank, sonst nichts. Aber aus den Erzählungen ihres Großvaters Erwann wusste sie, dass er und seine Brüder hier geschlafen hatten, vor … bald hundert Jahren, ja … Beklommen trat Marie ein, öffnete auch hier Fenster und Dachluke, sah sich noch einmal nach dem Bettgestell einer anderen Zeit und dem schweren Schrank um, verzichtete vorerst darauf hineinzusehen und betrat stattdessen den Raum rechts des Treppenabsatzes. Elodies Schlafzimmer.
Der alte Schrank hier war mit seinen Schnitzereien und der Spiegeltür schöner als der im Nebenraum; aber das kurze alte Bett unter dem Kruzifix an der Wand wollte Marie nicht gefallen; brrr, sie konnte sich nicht vorstellen, darin zu schlafen. Es war noch gemacht; es sah aus, als erwartete es Elodie – eine Tote …
Marie ging wieder nach unten. Da war es noch, das einstige Schrankbett. Das war einmal Elodies erstes Bett gewesen, als Kind hatte die Arme kein eigenes Zimmer gehabt. Und da – da war das Büffet mit dem alten Geschirr ihrer Vorfahren – und da – das indische Schränkchen… Marie trat darauf zu, strich flüchtig mit den Fingern darüber. Sie hinterließen eine Spur in der Staubschicht. Kurz zog sie einen Türflügel des kleinen Möbelstücks auf. Alle noch da, ihre Schätze. Als wäre die Zeit stehengeblieben…
Marie blinzelte. Für einen Moment war sie wieder das kleine Mädchen gewesen, das nach dem Crêpes-Essen mit den Dingen aus diesem Schrank spielen durfte. Sie drückte die Tür des Schränkchens wieder zu, ließ sich auf einen staubigen Stuhl fallen, stützte die Arme auf den hölzernen Esstisch auf und weinte.
Drei Stunden später hatte Marie Strom und Wasser in Betrieb genommen, einen Eimer aufgetrieben und die Hortensien begossen, altes Putzzeug gefunden und das Hausinnere gereinigt, bis sie es einigermaßen hygienisch fand. Jetzt fühlte sie sich zermalmt von den Ereignissen des Tages. Aber sich auf Elodies altem Bett ausstrecken, konnte sie einfach nicht.
Sie holte Reisetasche, Schlafsack und Isomatte aus dem Auto und suchte das zugewucherte Heckenloch, durch das man vom Feldweg aus den Garten betrat. Ihren Garten. Sie bahnte sich einen Weg durch das hüfthohe Gras. Die Feldsteine an der Rückwand des Hauses fühlten sich unter ihren Händen noch warm an. Nahe der Wand trampelte Marie das hohe Gras nieder und breitete Isomatte und Schlafsack aus. Sie setzte sich in das Nest, das sie sich zwischen den hohen Grashalmen geschaffen hatte. Die Grillen zirpten jetzt neben ihr, das Gras duftete herb. Marie holte einen Apfel und eine Flasche Wasser aus ihrer Reisetasche. Langsam aß und trank sie. Mit der Dämmerung kam ein kühler Luftzug. Marie legte sich auf den Rücken und deckte sich halb mit dem Schlafsack zu.
Es war der vierzehnte Juni. Sie würde sich dieses Datum merken. Der Tag ihres Neuanfangs, in Mengleuff. Sie versuchte, ihren Kopf von allen Gedanken zu leeren. Sah zu, wie der Himmel über ihr sich allmählich dunkelblau färbte. Fledermäuse huschten über den Garten hinweg, eine Eule rief, hell traten die ersten Sterne vom klaren Himmel hervor. Irgendwann kroch Marie in ihren Schlafsack, drehte sich auf die Seite, zog die Knie an und schlief ein.
2. Verlassen
Florian drehte den Schlüssel und drückte die Wohnungstür auf. Ein Schwall stickig-warmer Luft drängte sich ihm entgegen. Die Wohnung lag im zweiten Stock, es war ein besonders heißer fünfter Juli gewesen und die Sonne hatte den ganzen Tag gehabt, um den Altbau trotz seiner dicken Mauern und hohen Räume aufzuheizen.
»Hallo, ich bins!«, rief Florian aus, während er den Schlüssel an das Bord neben der Tür hing. Keine Reaktion. Katharina war noch nicht zuhause.
Im Bad schlüpfte Florian aus seiner verschwitzten Kleidung, stellte sich unter die Dusche und drehte das kalte Wasser voll auf. Während er einfach nur dastand und sich köstlich kalt berieseln ließ, schloss er die Augen und atmete tief durch. Was für ein anstrengender Tag! Diese Frau Breidenstein brachte ihn noch zum Wahnsinn. Wenn das so weiter ging mit ihren plötzlichen Sonderwünschen, würde der Hausbau nie fertig werden. Er sah sie schon am Tag der Fertigstellung vor ihm auftauchen, um ihm zu verkünden: »Eigentlich wäre es doch besser gewesen, noch zehn Quadratmeter mehr Grundfläche zu haben. Können Sie das noch arrangieren, Herr Reinart?«
Florian drehte das Wasser aus, schnappte sich sein Duschtuch und begann, sich heftig abzurubbeln. Das Tuch um die Hüften gewickelt, ging er ins Schlafzimmer, um frische Kleidung überzustreifen. Nachdenklich musterte er sein Bild in der Spiegeltür des Kleiderschranks. Er beugte sich vor. War das ein graues Haar, an seiner Schläfe? Es gelang ihm, das Haar herauszureißen. Grau war es nicht, eher farblos. Ich werde alt, schoss es ihm durch den Kopf. Angewidert ließ er das farblose Haar zu Boden fallen. Er fühlte sich auch abgespannt in letzter Zeit. Boris hatte Recht, er sollte endlich Urlaub machen. Wollte er ja, aber nicht ohne Katharina!
Was war nur mit ihr los? Natürlich, als Stewardess war sie andauernd auf Reisen. Aber früher hatten sie trotzdem gemeinsame Auszeiten genommen. Sie waren nie in den Urlaub geflogen, sie waren gefahren, mit Florians Auto – dem Karmann Ghia Cabrio von 1957. Das war die Art zu reisen, die Florian liebte: sich den Wind um die Ohren wehen lassen und in gemächlichem Reisetempo über kleine Landstraßen kurven, über die Alpen nach Italien oder die Loire entlang oder nach Südfrankreich … Wie sehr hatten sie beide diese gemeinsamen Fahrten genossen. Er vermisste das. Sie brauchten so etwas mal wieder. Auch, um sich nicht voneinander zu entfremden.
Florian erschrak über diesen Gedanken. War das wirklich der Fall? Entfremdete er sich von seiner Frau – oder sie sich von ihm? Eines stand fest: die Romantik war irgendwo hinter der Alltagsroutine verschwunden. Nun, derzeit war der Karmann in der Werkstatt; aber sobald er wieder fit sein würde, würde Florian Katharina festnageln: Wann verreisen wir zusammen?
Beschwingt von diesem Gedanken beschloss er, ein Abendessen zu improvisieren, ein Candlelight-Dinner auf dem lauen Balkon.
Das Essen war vorbereitet – Tomate-Mozzarella-Salat mit Walnüssen, da sie keine Pinienkerne mehr hatten, und Basilikum vom eigenen Balkon; und für danach, Risotto mit Krabben. Der Balkontisch war mit dem guten Geschirr gedeckt, Florian faltete noch die Papierservietten zu Fächern. Was jetzt? Unter dem Risotto hatte er den Herd ausschalten müssen, damit es nicht zu trocken wurde; hoffentlich kam Katharina bald.
Aber sie kam nicht. Florian setzte sich erst an den Tisch und trank langsam ein Glas kühlen Weißwein; dann aß er einen kleinen Teller Tomate-Mozzarella-Salat; und als das Risotto längst abgekühlt war, nahm er sich ein Tellerchen auch davon, setzte sich enttäuscht und ungeduldig vor den Fernseher und sah unkonzentriert irgendwelchen Kram an, der über die Mattscheibe flimmerte.
Endlich, endlich hörte er die Wohnungstür in das Schloss rasten. Erleichtert sprang er auf, zwang sich aber dazu, seiner Frau nicht entgegenzustürmen und ihr schon gar keine Vorwürfe zu machen. Lass sie erst einmal in Ruhe ankommen, sagte er sich. Er rief lediglich: »Hallo, Katharina! Bin im Wohnzimmer!«
»Hallo«, kam es gedämpft aus dem Flur zurück.
Dann hörte Florian, wie sie ins Bad verschwand, wo sie eine ganze Weile lang blieb.
»Hey, schön, dass du da bist«, lächelte Florian, der den Fernseher ausgeschaltet hatte, als sie endlich zu ihm ins Wohnzimmer kam, im Bademantel und frisch duftend nach irgendeinem zitronigen Duschgel. Verführerisch, fand Florian, und stand auf. Aber dann lag plötzlich etwas anderes in der Luft, die Stimmung war nicht die, die es sein sollte – nein nein; und später würde es ihm beinah so vorkommen, als hätte er gewusst, was kommen würde, noch ehe es geschehen war; obwohl die Szene so irreal war, wie die eines schlechten Films oder einer missglückten Soap-Opera, die Florian im selben Moment zu betrachten schien, in dem er eine der beiden Hauptrollen spielte.
»Hallo Florian«, sagte Katharina müde und wehrte seinen Versuch einer Umarmung ab. Ein schmerzlicher Zug lag um ihren Mund, als sie anhob: »Wir müssen reden.«
Florian riss die Augenbrauen hoch und sagte: »Klar.«
»Klar, klar«, ereiferte Katharina sich plötzlich. »Bei dir ist immer alles klar, in Ordnung, okay, was weiß ich. Dabei ist gar nichts klar und in Ordnung zwischen uns, und das seit langem nicht mehr! Das kann doch nicht sein, dass du das nicht siehst! Du willst das nicht sehen, oder?«
Florian zwinkerte mit den Augen und hob hilflos die Hände. Abrupt wandte Katharina sich ab, stürmte an ihm vorbei in die
Küche. Langsam ging er ihr nach. Von der Türschwelle aus sah er zu, wie Katharina irritiert die Casserole mit dem Risotto anstarrte, sich ein Glas mit Leitungswasser füllte und es auf einen Zug leer trank.
»Was ist los?«, fragte er leise.
Katharina setzte das Glas hart neben der Spüle ab, sah Florian in die Augen und antwortete: »Ich liebe einen anderen.«
Florians Hand suchte den Türrahmen. Ihm war flau.
»Ich kann nichts dafür. Es ist so.«
Er brachte kein Wort heraus. Der Schock war zu groß.
Katharina senkte den Kopf. »Tut mir leid. Ich hätte das nicht so abrupt – aber lass uns rübergehen, im Wohnzimmer reden.«
»Worüber denn noch? Die Tatsachen scheinen vollendet zu sein«, hörte Florian sich krächzen. Er räusperte sich.
»Wir müssen auch gar nicht reden, weißt du?«, fuhr Katharina bitter auf und wollte sich an ihm vorbei aus der Küche drängen, doch er hielt sie am Arm fest. »Katharina. Sag’ bitte, dass das nicht wahr ist. Das kann doch nicht sein.«
»Lass mich los«, fuhr Katharina ihn an.
»Aber das kann doch nicht sein«, wiederholte Florian fieberhaft, »wir gehören zusammen, du und ich! Ich wollte dich heute Abend fragen, ob wir nicht endlich mal wieder verreisen wollen, nur wir beide, um Zeit miteinander zu haben …«
»Hör auf, dazu ist es zu spät! Dinge ändern sich!«
»Dinge, wie das klingt! Wir reden von Gefühlen, von uns – unseren Plänen, unserem Leben, das wir teilen! Ich verstehe nicht, was los ist, du kommst nach Hause und knallst mir das so einfach in das Gesicht, so ganz ohne Vorwarnung, einfach so – «, Florian schnappte nach Luft. »Wer ist es überhaupt?«
»Das spielt im Grunde keine Rolle«, sagte Katharina, plötzlich ruhig und fest. »Ich wusste, dass wir uns trennen müssen, bevor ich ihn kennengelernt habe. Ich habe nicht vor, ihn zu heiraten. Ich habe vor, mein Leben, mit dem ich unglücklich bin, zu verändern. Denn ich bin unglücklich mit meinem Leben, Florian. Unglücklich mit dir. Wir sind doch schon lange kein Paar mehr, wie wir es mal waren. Nein«, Katharina wehrte Florians Versuch ab, ihre Hand zu ergreifen. »Ich bin müde. Ich möchte schlafen, allein.«
»Du – du willst uns nicht mal mehr eine Chance geben?«
»Gute Nacht.«
Sie ließ ihn stehen. Fassungslos hörte Florian das Klicken des Schlosses, das verriet, dass sie die Schlafzimmertür abgesperrt hatte. Dieses Klicken gab ihm den Rest. Glaubte sie, er würde ihr wie eine Bestie hinterherstürmen? Das tat weh. Richtig weh.
Florian stand komplett neben sich. Langsam ging er hinaus, auf den Balkon. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, starrte auf die zum Fächer gefaltete Papierserviette auf seinem Teller. Und griff nach der Weinflasche.
Die Sonne schien ungehindert auf die Couch. Florian blinzelte, hielt sich den Kopf und schaute auf den Wohnzimmertisch vor sich, auf die leeren Weinflaschen. Naja, die zweite war nicht ganz leer. Er stöhnte auf. Seine Zunge fühlte sich pelzig an. Wann war er vom Balkon in das Wohnzimmer umgezogen? Dann war plötzlich der Schock wieder da, die volle Erinnerung: Katharina!
Er schlich zur Schlafzimmertür und klopfte sacht an die Tür. Keine Reaktion. Er drückte die Klinke. Sie hatte wirklich abgeschlossen. Er biss sich auf die Lippen. Was sollte er tun? Und sein Kopf dröhnte, er konnte nicht mal klar denken!
Er schlich ins Bad, hielt den Kopf unter kaltes Wasser. Wusch sich, putzte sich die Zähne. Streifte ein frisches Hemd über und ging aus dem Haus. War er selbst das, dieses schleichende Elend? Irgendwie schaffte er es, von seiner Wohnung am Nahrungsberg zum Architekturbüro in der Gartenstraße zu kommen. An sich war es ein Katzensprung, doch seine Beine fühlten sich so schwer an, wie mit Zementklötzen an den Füßen, und das Zwitschern der Vögel und der blendende Sonnenschein quälten seine angespannten Nerven.
Er atmete auf, als er den silbernen Porsche Cayenne halb auf dem Bürgersteig parken sah. Boris war also schon da. Nicht, dass Boris über besonders viel Fingerspitzengefühl in Gefühlsdingen verfügte, aber irgendjemandem musste Florian von seinem Schock und dem Schmerz erzählen.
»Hey Boris«, grüßte er leise, während er das gemeinsame Büro betrat.
»Hey. Was ist denn mit dir los, unter die Zombies gegangen?« Boris sah ihn schief an.
»Es ist Katharina. Sie will – mich verlassen.« Hilflos und verlegen und wütend über sich selbst spürte Florian seine Augen nass werden. Er wandte sich ab.
»Ah«, hörte er Boris nur sagen. Nichts weiter.
Florian räusperte sich. »Sie sagt, sie habe einen anderen. Und dass es zwischen uns längst aus gewesen sei.«
Boris pfiff leise. »Hm, Beileid. Und was willst du jetzt tun?«
»Weiß nicht.« Florian ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und begrub das Gesicht in den Händen.
Boris betrachtete ihn von der Seite. »Hau einfach ab für ein paar
Tage«, brach er zuletzt das Schweigen.
»Abhauen?«, entgeistert sah Florian auf.
»Gegen die Frauen sind wir völlig wehrlos. Unsere einzigen Waffen sind Schweigen und Abwesenheit. Widersprich nie. Regel Nummer eins. Und wenn es Zoff gibt, geh weg. Regel Nummer zwei. Wenn du jetzt für zwei oder drei Wochen weg bist, arbeitet ihr schlechtes Gewissen für dich. Erst ist sie wütend, dann findet sie sich zu hart und dann kriecht sie bei dir zu Kreuze und du diktierst die neuen Regeln.«