Kitabı oku: «Deutschlandlieder. Almanya Türküleri», sayfa 2
»Mein Vater kam zuerst nach Nagold im Schwarzwald. Nach einem Jahr fing er bei einer Spinnerei in Bad Urach an – damals, als es die Textilindustrie im Südwesten noch gab. Dann wurde er von der Feuerlöscher produzierenden Firma Minimax abgeworben. Dort hat er lange im Schichtbetrieb, oft im Akkord, gearbeitet. Und weil das Geld nicht reichte, hat er sogar noch eine Zeitlang an den Wochenenden einen Zweitjob an einer Tankstelle gehabt. Nach seiner Rente half er in der Änderungsschneiderei meiner Mutter aus. Bis die Firma Konkurs anmeldete, arbeitete meine Mutter in einer Papierfabrik. Dann wurde sie arbeitslos und hat danach bis zu ihrem Tod als Selbständige gearbeitet, in ihrer eigenen Änderungsschneiderei.«
Ich versuche ihn aufzumuntern und frage ihn, ob er von Anfang an Politiker werden wollte.
»Ursprünglich wollte ich Schaffner werden. In meinem Geburtsort gab es einen Zug, der irgendwann eingestellt wurde. Meine Mutter fuhr damit zur Arbeit. Ich durfte ab und zu mitfahren. Leute, die für den Erhalt der Strecke waren, haben damals Sonderzugfahrten veranstaltet, damit die Strecke wieder in Betrieb genommen wird. Und ich durfte dabei eine Uniform anziehen und den Schaffner spielen. Das war für mich das Größte. Danach wollte ich Sänger in einer Rockgruppe werden, doch meine Stimme war nicht die beste und ich war im Gitarrenunterricht zu ungeduldig. Da blieb mir nur noch die Politik.« Die politische Arbeit gelang ihm schon in relativ frühem Alter. In der Realschule von Bad Urach wurde er zuerst Klassen-, danach Schülersprecher. Es folgten Engagements in Bürgerinitiativen, zum Beispiel für die Eisenbahnstrecke Ermstalbahn. In den linksalternativen Kreisen, in denen er sich bewegte, war er allerdings der Einzige, der aus einer Arbeiterfamilie stammte. »Das war lustig. Ich habe bemerkt, wie Nichtarbeiter ständig über die Arbeit redeten. Ohne dass sie auch nur den Hauch einer Ahnung davon hatten, noch nie eine Fabrik von innen gesehen hatten, wollten diese Bildungsbürger, Mittelschichtsleute, die in vergleichsweise privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind, mir immer erklären, was gut für mich, meine Eltern, meine Mutter war. Das ist bis heute so. Auch in meiner Partei.«
Kurswechsel des Realos Cem Özdemir?
»Ich bin der Erste aus einer sogenannten Gastarbeiterfamilie, der in den Bundestag gewählt wurde. Und das bezieht sich ja nicht nur auf die Menschen türkischer Herkunft. Als ich 1994 durch die Straßen gegangen bin, haben mich die Griechen genauso umarmt und mir auf die Schulter geklopft wie die Spanier und Italiener. Sie sagten: ›Du bist unser Vertreter. Einer von uns, der auch aus einer Arbeiterfamilie kommt, das Leben nicht immer auf der Sonnenseite verbracht hat.‹«
In einer Diskussionsrunde fragte mich kürzlich eine Politikwissenschaftlerin, warum das Liedgut der ersten Gastarbeitergeneration, im Vergleich zu den Rapsongs der Migrantenkids ab den 1990er-Jahren, so apolitisch sei. Mir fiel sofort das Lied »Guten Morgen Mayistero« von Metin Türköz ein.
Der Refrain des Songs aus dem Jahr 1973 ist überschaubar. Das »Yeah yeah yeah yeah«, entnommen aus englischsprachigen Rock- und Popstücken, ersetzt das bei türkischen Volksliedern übliche »Oy oy oy oy«, bei kurdischen Liedern »Lo lo lo lo«. Die Liedstrophen sind etwas komplizierter. Da helfen gängige Türkischkenntnisse partout nicht, um die in Fabrikkantinen und Wohnheimen in kurzer Zeit entstandene Mischsprache der einstigen Gastarbeiter zu verstehen.
Na bitte schön Mayistero
Az ücretle çalışmamo
Ich kaputt dich de kaputt
Verstanden mı hıyaro
»Also lieber Meister«, singt Türköz, »ich will nicht für wenig Lohn arbeiten. Versteh es endlich: Bei diesem Arbeitstempo gehen wir beide unter.« Wobei der deutsche Vorarbeiter gleichzeitig närrisch geschimpft wird, weil er die Tatsachen nicht begreift. Hıyar (»Gurke«) heißt im übertragenen Sinne »Blödmann«.
»Guten Morgen Mayistero« ist der Soundtrack des Ford-Streiks im August 1973 und insofern hochpolitisch.
»Als es im August 1973 zu ›wilden Streiks‹ der Türken bei Ford in Köln kam, erhielt das Bild des unterwürfigen, für jede Drecksarbeit dankbaren Gastarbeiters die ersten Kratzer«, schrieb Serhat Karakayalı in einem Arbeitspapier für die 1998 in Berlin entstandene Initiative »Kanak Attak«. Karakayalı leitete mehrere Jahre lang die Abteilung Migration des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin und bekleidet seit Juli 2021 eine Professur für Migration und Mobility Studies an der Leuphana Universität Lüneburg. »Obwohl die Kanaken vielerorts bald den Beweis antraten, dass sie so brav nicht waren, hat sich die Mär vom zuverlässigen und treuen Ausländer lange gehalten. Ein Grund dafür ist die kollektive Amnesie, unter der die lange Geschichte migrantischer Kämpfe in Deutschland begraben liegt.«
Im Jahr 1973 waren zwölftausend türkeistämmige Arbeitnehmer bei Ford angestellt. Mehr als ein Drittel von ihnen arbeitete vor allem an den Fließbändern in der Endmontage und erhielt einen Stundenlohn zwischen 7,15 und 8,24 Mark, während die Deutschen als Facharbeiter zwischen 8,98 und 10,59 Mark verdienten. Als etwa dreihundert Arbeiter ohne Erlaubnis verspätet aus dem Sommerurlaub in der Türkei zurückkamen und deshalb entlassen werden sollten, demonstrierten sie spontan. Die Demo entwickelte sich zu einem Streik. Viele der deutschen Kollegen befürworteten die Entlassungen. Die IG Metall war ausdrücklich gegen den Streik, der auf türkische Art geführt wurde. Man streikte nicht von zu Hause aus. »Die Türken, einige Italiener und nur noch wenige Deutsche übernachteten im Polsterlager des Ford-Werkes und organisierten den Streik von hier aus«, rekonstruiert Karakayalı. In einer Würdigung, die die Zeitschrift Lunapark21 in ihrem Heft vom März 2021 zitiert, heißt es: »Es wurde diskutiert, abgestimmt, gesungen, musiziert, gebetet, getanzt, gemeinsam gegessen, organisiert, einem Erzähler türkischer Märchen zugehört … Baha mit dem Megafon und Tausende andere rufen: Altı hafta Urlaub (›sechs Wochen Urlaub‹), Bir mark zam (›eine D-Mark mehr‹) …«
Baha Targün, Deutsch sprechendes Mitglied des Streikkomitees, war der erste Türke, der von den deutschen Mainstream-Medien wahrgenommen und namentlich genannt wurde. War der erste Quotentürke ein Rädelsführer? Im Spiegel vom 9. September 1973 hieß es: »Sicher ist die Ausweisung bislang freilich nur einem: dem millionenfach abgebildeten Streik-Promoter Baha Targün.«
Die Geschäftsleitung und der Betriebsrat von Ford Köln knickten nicht ein. Sie setzten auf Spaltung und waren letztlich erfolgreich. In einer gemeinsamen Aktion der Polizei, angeheuerter Schläger (angeblicher Arbeitswilliger), des Werkschutzes, der Gewerkschaftsfunktionäre, Meister und Vorarbeiter wurde der Streik nach dreieinhalb Tagen gewaltsam niedergeschlagen. Mehrere Hundert Arbeiter wurden fristlos entlassen. Baha Targün wurde allerdings nicht sofort ausgewiesen, wie der Spiegel damals suggerierte. Nach dem Ford-Streik wurde er angeklagt, weil er ausgerechnet den Musikproduzenten Yılmaz Asöcal »räuberisch erpresst« und »körperlich gefährlich verletzt« habe, und 1975 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Zuletzt saß er in der JVA Remscheid-Lüttringhausen. Sein Antrag auf politisches Asyl wurde abgelehnt. Nach seiner Freilassung 1979 wurde er ausgewiesen. Baha Targün starb 2020 nach einem Kletterunfall in der Türkei.
Guten Morgen Mayistero
Affedersin formenago
Heute ich bin sehr müde
Morgen vielleicht nicht meyo
1973 streikten Arbeitsmigrant*innen quer durch Deutschland »wild«. Bei dem Traktorenhersteller John Deere in Mannheim streikten sie gegen niedrige Löhne und das unmenschliche Arbeitstempo. Beim Karosseriewerk Karmann in Osnabrück trieben schlechte Urlaubsregelungen die spanischen und portugiesischen Arbeiter*innen auf die Barrikaden. Beim Werkzeughersteller Hella in Lippstadt und Paderborn löste die Übergehung nichtdeutscher Arbeiter*innen bei den Tariferhöhungen im Juli 1973 einen Streik aus. Beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss protestierten Arbeiterinnen gegen ein Lohnmodell, das Gastarbeiterinnen benachteiligte.
Die Gewerkschaften waren nicht dabei, in den meisten Fällen die deutschen Kolleg*innen auch nicht. Migrationsforscher Serhat Karakayalı versetzt sich in die Lage der deutschen Belegschaften: »Sie selbst waren immer pünktlich gewesen, sollte das nicht auch für die anderen gelten? Zum anderen hatten sie wenig Verständnis für die Situation der türkischen Kollegen, die von den vier Wochen Werksurlaub zehn Tage auf der An- bzw. Abreise verbrachten, wodurch ihnen nicht mal drei Wochen bei der Familie blieben.«
Mehr als zehn Jahre später hatte sich bei den Streiks für die Einführung der 35-Stunden-Woche das Bild der »vereinigten Arbeiter aller Länder« allerdings geändert, zumindest für mich als Musiker. Als ab Mai 1984 die Arbeiter der Metallindustrie in Hessen und Baden-Württemberg sieben Wochen lang streikten, wurden sechs Musiker*innen und ich von der IG Metall Hessen als Streikband engagiert. Wir fuhren sieben Wochen lang von Streiktor zu Streiktor durch fast jede Stadt in Hessen. Ein seitlich zu beladender Lkw diente als Bühne. Die Klappe ging auf, der Strom wurde angeschlossen und wir spielten. Ich sang ein türkisches Arbeiterlied, oft fünfmal am Tag. Zugegeben: Ich war der Alibitürke, der Quotentürke der Band. Das war aber eine Win-win-Situation. Die Gewerkschaft sammelte Punkte bei den streikenden Türkeistämmigen, die mit unterhalten wurden, und ich verdiente gut dabei.
Heute steht die türkeistämmige Community nicht allzu sehr mit der Arbeitswelt der Industrie in Verbindung. Seit langem gilt das eigene Gewerbe als Wohlstandssymbol: die Änderungsschneiderei, das Taxiunternehmen, der Friseurladen, das Bauunternehmen und, freilich, die Dönerbude. Dies kann man einerseits zurückführen auf fehlende Qualifikationen, die der heutige Hightech-Arbeitsmarkt verlangt. Andererseits neigen die Türkeistämmigen im Vergleich zu den Einheimischen, die eine Festanstellung bevorzugen, offensichtlich zu mehr Risiko und Abenteuer. Doch es wird immer noch viel für wenig Geld gearbeitet. Heutzutage beutet man sich jedoch selbst aus.
Während meiner Zeit in Istanbul amüsierten wir uns köstlich über die Geschichte eines Berliner Kleinunternehmers, der sein Glück mit einem Dönerwagen auf verschiedenen Wochenmärkten in den östlichen Bundesländern versuchte. Vermutlich durch Neonazis wurde sein Wagen dreimal beschädigt. Nachdem er auf die Idee gekommen war, ausgerechnet Skinheads als Wachbedienstete zu engagieren, war die mobile Dönerbude vor Angriffen gefeit. Unternehmergeist.
Diese Geschichte kannte keiner hier in Deutschland. Eine kurze Internetrecherche mit den Stichwörtern »Dönerbude« und »Skinheads« beförderte jedoch unzählige rassistische Angriffe auf türkische Imbisse in Brandenburg, Thüringen oder Sachsen-Anhalt ans Licht. Und Gegenangriffe. 2002 haben zum Beispiel in der sächsischen Kleinstadt Pirna die Betreiber des Antalya-Grills örtliche Rechtsextremisten mit Baseballschlägern durch die Innenstadt gehetzt und sie verprügelt. Die Imbissbetreiber – die damals achtundvierzigjährige Keziban Şendilmen, ihr Mann Adem und die erwachsenen Kinder Selda, Süleyman und Recep – wurden 2002 von der Staatsanwaltschaft Dresden wegen »gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung« angeklagt. Unter den einundzwanzig jungen Männern, die als Belastungszeugen benannt wurden, waren auch sechs Mitglieder der verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz (SSS). Laut einem Medienbericht beachteten die Juristen dieses Detail kaum und verwiesen darauf, »dass die Straftaten der SSS und die Prügelattacken, die man der Familie Şendilmen vorwirft, nicht zwingend etwas miteinander zu tun haben müssten«. (Spiegel vom 8. April 2002)
Sechs Jahre nach Beginn ihres Pirna-Abenteuers flüchteten die Şendilmens zurück nach Berlin. 2007 entschied das Amtsgericht Pirna, den Fall wegen Geringfügigkeit und der zur erwartenden Länge des Prozesses einzustellen. Da sie suizidgefährdet war, erschien Keziban Şendilmen nicht zur Verhandlung. Heute sind sie und ihr Mann in Rente. Sie führen ein Pendelleben zwischen Berlin und ihre Heimatstadt Gölhisar in Burdur. Für den Sohn Süleyman kommt ein neuer Dönerimbiss nicht mehr in Frage. Er lebt mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern in Berlin-Wedding und arbeitet als Reinigungskraft in einem Krankenhaus.
Süleyman Şendilmen fragte mich, ob ich Gedichte brauchen könnte. Er schreibe Lyrik, seitdem er von Pirna umgezogen ist. »Vielleicht fürs nächste Buch«, antwortete ich.
Ich bin sehr müde
Leben im Exil
Çok yorgunum, beni bekleme kaptan.
Seyir defterini başkası yazsın.
Çınarlı, kubbeli, mavi bir liman,
Beni o limana çıkaramazsın …
Ich bin sehr müde, warte nicht auf mich, Kapitän.
Lass jemand anders das Fahrtenbuch schreiben.
Ein blauer Hafen mit Kuppeln und Platanen,
Du kannst mich nicht mehr in jenen Hafen bringen.
Rocksänger Cem Karaca vertonte diesen Vierzeiler von Nâzım Hikmet während der einsamsten Zeit seines Lebens, die er Anfang der 1980er-Jahre im Exil seiner kleinen Wohnung im Kölner Univiertel verbrachte. Um nachempfinden zu können, wie es Karaca erging, nützt es, zuerst die Geschichte hinter Hikmets Gedicht zu rekonstruieren.
Der oppositionelle türkische Dichter wurde 1938 wegen seiner politischen Überzeugungen zu achtundzwanzig Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach zwölf Jahren Gefängnisaufenthalt, einem Hungerstreik und internationalen Protesten wurde er in einer Generalamnestie begnadigt. Die Freilassung war vorgetäuscht. Der bald Fünfzigjährige wurde prompt zum Militärdienst berufen. Es war die Zeit des Kalten Krieges und Hikmet hatte Angst, ermordet zu werden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion floh er auf einem Motorboot vom nördlichen Bosporus Richtung Schwarzmeer. Auf offener See hatte das Boot eine Panne. Ein vorbeifahrendes, rumänisches Schiff ließ sich jedoch zwölf Stunden Zeit für die Rettung. So lange brauchten die Genossen in Bukarest und Moskau, um zu entscheiden, ob sie den fliehenden Dichter bergen mochten, oder nicht. Der »romantische Kommunist« – so Hikmets Spitzname – hatte bekanntlich seine Probleme mit der stalinistischen Diktatur.
Letztlich durfte Hikmet doch an Bord. Der Dichter freundete sich mit dem Kapitän an, und die beiden verabredeten sogar die spätere Rückfahrt Hikmets in dessen Heimat. Laut Absprache sollte der Dichter sich mit den Worten »Nâzım Hikmet ist an Bord« auf jener geplanten Rückfahrt selbst in das Fahrtenbuch eintragen dürfen.
Nach mehrjährigen Aufenthalten in Bulgarien, in der Sowjetunion und in Polen starb Nâzım Hikmet 1963 im Moskauer Exil. Als er den Vierzeiler »Ich bin sehr müde« 1957 in der bulgarischen Küstenstadt Varna schrieb, war ihm klar, dass er niemals mehr den »blauen Hafen mit Kuppeln und Platanen« von Istanbul betreten würde. In seinem Gedicht spricht der ermüdete Hikmet den rumänischen Kapitän an, um klarzustellen, dass die verabredete Rückreise nicht stattfinden wird.
Die Pointe dieser Verse, die jede*r Exilant*in aus der Türkei auswendig kennt: Einmal im Exil, immer im Exil.
Die Geschichte der Republik Türkei ist von Machtübernahmen durch das Militär und der Verfolgung ihrer politischen Gegner geprägt. Was Bertolt Brecht und Albert Einstein unter der Naziherrschaft erlitten, mussten Oppositionelle in der Türkei in einem Turnus von durchschnittlich zehn Jahren immer wieder erleiden. Wobei die Geschichten von Brecht und Einstein in einem Happy End münden. Andere Intellektuelle hingegen, die Autoren Ernst Toller, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig und Klaus Mann zum Beispiel, die Meilensteine der deutschsprachigen Literatur hervorbrachten, hielten das einsame Exilleben und die Entwurzelung nicht aus und wählten den Freitod.
Cem Karaca, 1945 in Istanbul geboren, war der Udo Lindenberg der Türkei. Seine Vertonung des Hikmet-Gedichts wurde zur inoffiziellen Hymne der etwa dreißigtausend politisch verfolgten Lehrer*innen, Politiker*innen, Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen, Akademiker*innen und so weiter, die die Türkei nach dem Militärputsch am 12. September 1980 verlassen mussten und nach Deutschland kamen. Die Fluchtwege waren damals ein wenig anders. Selbst zu Transitzwecken war der sozialistische Ostblock gänzlich zu. Viele reisten ausgerechnet über Syrien hierher. Wie heute war allerdings auch damals der Weg über Griechenland der bevorzugte.
Die Fluchtgeschichte von Cem Karaca war weniger spektakulär. Sein langjähriger Freund und Kollege, der Gitarrist Fehiman Uğurdemir, erinnert sich: »Ende 1979 hatten wir ein sehr erfolgreiches Konzert im Londoner Rainbow Theatre. Danach folgte eine Tournee durch Deutschland und die benachbarten Länder. Ich kehrte zurück nach Istanbul. Cem wollte noch eine Weile in Deutschland bleiben und Freunde besuchen. Derweilen putschte das Militär in der Türkei und forderte ihn und andere oppositionelle Künstler, die im Ausland waren, auf, in die Türkei zurückzukehren. Er folgte den Aufforderungen der Soldaten nicht. Daraufhin wurde er ausgebürgert. Er wurde staatenlos – ein ziemlich unglücklicher Zustand.«
Es gab eine Kluft zwischen der ersten Arbeitergeneration aus der Türkei und den neu angekommenen Exilleuten – nicht nur intellektueller Natur. Die Arbeiter*innen waren entweder regierungstreu oder sie hatten Angst davor, selbst verfolgt und ausgebürgert zu werden. Das war eine damals weitverbreitete Maßnahme der türkischen Militärjunta gegen Andersdenkende. Politische Diskrepanz herrschte auch unter den Exilant*innen selbst. Nicht nur Parteibücher spielten dabei eine Rolle, sondern auch die eigentlichen Ziele.
Dem Beispiel griechischer Kolleg*innen wie Mikis Theodorakis und Melina Mercouri während der griechischen Junta folgend, strebte der Produzent und Schlagerkomponist Şanar Yurdatapan die Bildung einer Front gegen die Militärdiktatur an. Cem Karaca dagegen suchte den Dialog mit den Politikern, vor allem mit denen, die unmittelbar nach der Militärregierung an die Macht kamen.
Karaca wollte das Schicksal des Dichters Nâzım Hikmet nicht teilen und zu Lebzeiten in seine Heimat zurückkehren. In seinen Kölner Jahren plagte ihn Heimweh. Er durfte nicht einmal bei der Beerdigung seines Vaters dabei sein. Verzweifelt holte er seine Mutter Toto Karaca, die Istanbuler Theaterlegende armenischer Herkunft, zu sich nach Deutschland. Zu dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Wir wohnten nahe beieinander in Köln. Karaca besuchte uns einige Male und brachte Irish Whiskey mit, den wir gemeinsam leerten. Ekrem, Eko Fresh, war damals noch keine zwei Jahre alt und tobte bis zur Schlafenszeit um uns herum. Dabei wurden zunächst Strategien für meine neue Band erarbeitet, zu fortgeschrittener Stunde wurde aber auch auf die ungebildeten anatolischen Arbeiter in Deutschland geschimpft, die mit Cem Karacas Protestballaden wenig anfangen konnten.
Im Gegensatz zu seinen Schicksalsgenoss*innen, denen es nicht gelang, den Schock der Entwurzelung zu überwinden, war Cem Karaca immerhin produktiv. Zumindest tagsüber. Zudem sprach er Deutsch. Während der Starjournalist Aydın Engin als Taxifahrer in Frankfurt am Main jobbte, um sich und seine Ehefrau – die Schriftstellerin Oya Baydar – über Wasser zu halten, erhielt Cem Karaca ein Engagement in einem Rock-Musical am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel. Daraus entstand ein Album, das bei dem linken Dortmunder Label Pläne erschien: Die Kanaken. Dieses Album wurde mit professionellen türkischen Rockmusikern eingespielt, darunter der Gitarrist Fehiman Uğurdemir, der Keyboarder Sefa Pekelli und Betin Güneş an der Posaune. Lieder wie »Mein deutscher Freund« und »Es kamen Menschen an« befassten sich nicht mit der Türkei, sondern mit gesellschaftlichen Themen in Deutschland, wie der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit und anderen Problemen der türkeistämmigen Arbeitnehmer. In dem Song »Willkommen« sang Karaca:
Komm Türke, trink deutsches Bier,
Dann bist du auch willkommen hier,
Mit Prost wird Allah abserviert
Und du ein Stückchen integriert.
Solche Stücke kamen in Einwandererkreisen allerdings nur mäßig an. 1987 wurde Karaca rehabilitiert und kehrte in die Türkei zurück. Sein deutschsprachiges Album erreichte nach seinem Tod in Istanbul im Jahr 2004 Kultstatus in der Türkei und Deutschland. Die Mitglieder der Band Kanaken leben heute noch im Kölner Raum.
Jung und neugierig, jobbte ich damals zeitweise bei Şanar Yurdatapan, der seit 1980 zusammen mit seiner damaligen Frau, der Schlagersängerin Melike Demirağ, bei Bonn lebte. In den Augen des türkischen Militärs war Melike allein schon deshalb Staatsfeindin, weil sie in zwei Filmen von Enfant terrible Yılmaz Güney mitgespielt hatte. In seiner aktiven Zeit als Produzent und Komponist war Yurdatapan eine Art Ralph Siegel der Türkei. Vor dem Militärputsch komponierte er sogar türkische Beiträge für den Eurovision Song Contest – und er gilt als Entdecker der gefeierten Sängerin Sezen Aksu, die er anfänglich auch produzierte. Im Rahmen seiner Aktivitäten gegen die türkische Junta war ich als Bürokraft tätig. Vom Souterrain des Familienhauses in Swisttal aus kommunizierten wir über ein Telex, Vorgänger des Faxgeräts, mit Hinz und Kunz der türkischen Opposition in der ganzen Welt. Ich gehe davon aus, dass die phänomenale Flucht des kurdischen Filmemachers Yılmaz Güney 1981 nach Frankreich auch dort in Swisttal mitorganisiert wurde – in meiner Abwesenheit natürlich. In den Augen der Profi-Exilanten war ich wahrscheinlich zu jung, unerfahren und folglich nicht vertrauenswürdig für solch konspirative Projekte.
Ich kam als Zwanzigjähriger nach Deutschland als einer, der »mit Akkordeon-Streiks provoziert« – so hieß es in dem Prozess, in dem ich – allerdings in Abwesenheit – zu anderthalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Eigentlich hatten meine Gefährten und ich vor etwa zwanzig streikenden Arbeiter*innen eines kleinen Textilateliers in einem Stadtteil Istanbuls gespielt. Wir, die Musiker, waren zu sechst. Mit der Begründung, der Streik sei unerlaubt, intervenierte die Polizei und nahm uns alle mit. Die Arbeiter*innen wurden abends freigelassen. Meine Freunde und ich wurden verhaftet und in das gefürchtete Sağmalcılar-Gefängnis gesteckt, wo wir sechs Wochen in Haft blieben. Das war 1978, noch vor dem Putsch; im Erscheinungsjahr des umstrittenen Hollywood-Streifens Midnight Express, in dem es um ebendieses Gefängnis ging. Nach der vorläufigen Freilassung wollte ich das endgültige Gerichtsurteil zu meiner Akkordeon-Provokation nicht abwarten und schaffte es, wieder nach Australien, zu meiner Mutter, zu gelangen. Ich bin nämlich in Sydney aufgewachsen. Nach der Scheidung von meinem Vater hatte meine Mutter meine Schwester und mich auf eine Odyssee nach Australien mitgenommen. In Sydney besuchte ich die Grundschule und danach die renommierte Fort Street High School. Aufgrund pubertärer Eigenwilligkeit haute ich von zu Hause ab und ließ mich in Eden an der Südostküste Australiens nieder. Dort lebte ich bei einer christlichen Aborigine-Familie und sang Gospels mit ihnen. Nach drei Monaten wurde ich von meiner Mutter aufgefunden und nach Istanbul zu meinem Vater geschickt, um die türkische Kultur und Sprache zu lernen. »Einmal im Exil, immer im Exil« trifft jedenfalls auf mich zu. Die türkische Redewendung Deliye her gün bayram, »Für den Verrückten ist jeden Tag Feiertag«, ist vielleicht noch treffender. Denn nicht alle meine Migrationen oder internationalen Umzüge waren politisch bestimmt.
Als ich Ende 1979 wieder in Australien ankam, hatte die Band Men at Work ihren legendären Song »Down Under« noch nicht eingespielt. In meinen Augen spielte die Musik in Deutschland, in Europa, und ich wollte Musiker werden. Doch neben John Lennon gehörte auch Wladimir Iljitsch Lenin zu meinen damaligen Vorbildern. Um genau zu sein, auch David Bowie war ein Held für mich. Bowie war allerdings nicht kompatibel mit der linken Bewegung, der ich damals angehörte. Meine musikalischen Vorlieben musste ich erst mal für mich behalten, als ich an der Tür meiner Genoss*innen in Köln-Chorweiler anklopfte. Wenige Monate danach übernahmen die Generäle die Macht in der Türkei. Ich blieb in Deutschland. Als angehender Musiker benutzte ich das Pseudonym »Hazar« in der Öffentlichkeit, um die Gefahr der Ausbürgerung zu umgehen. Mit bürgerlichem Nachnamen heiße ich Bora. Mit diesem einfachen Trick konnte ich mich damals den analogen Recherchen des türkischen Geheimdienstes entziehen. 1987 verjährte mein Verfahren und ich konnte wieder, ohne dass mir eine Verhaftung drohte, in die Türkei zurückkehren. Doch Deutschland war längst zu meiner Heimat geworden.
Auch der kurdische Sänger Ali Baran floh kurz vor dem Putsch nach Deutschland, da er als angeblicher Terrorist auf der Fahndungsliste stand, weil er 1978 in einem in einer anatolischen Stadt aufgeführten Theaterstück einen Song auf Kurdisch gesungen hatte. Die kurdische Sprache, die Muttersprache von etwa einem Fünftel der Bevölkerung der Türkei, war noch bis vor wenigen Jahren verboten. Kurdisch Sprechende galten als potentielle Staatsfeinde. In Deutschland angekommen, wurde Ali Baran von den türkischen Behörden in Abwesenheit ausgebürgert. Da er sich aber nach seiner Ausbürgerung nicht mehr amtlich ausweisen konnte, sollte er auch noch aus Deutschland ausgewiesen werden. Er sorgte damals für Schlagzeilen, als er vor den Augen schockierter Beamter all seine Unterlagen zerriss und schlichtweg behauptete: »Ihr werdet mich nicht los.« Heute ist er ein angesehener Bürger von Karlsruhe, wo er seit über vierzig Jahren lebt. Vor seinem denkmalgeschützten Haus in der Altstadt von Karlsruhe-Durlach hängt eine Tafel, auf der die Hausbewohner*innen aufgelistet sind:
1698 – Hans Jacob Geißler: »ein ohngebautes Häuslein« (!)
1706 – Hans Georg Kühner, Weingärtner
1742 – Hans Adam Grameter, Waffenschmiede
1743 – Opfer eines Großbrandes, dann wieder aufgebaut
1746 – Israel Hegel, Schuhmacher, und seine Frau
1782 – Ernst Gottlieb Korn, Perückenmacher
1802 – Adam Korn, Schlosser
1842 – Friedrich Korn, Schlosser
1888 – Karl Korn, Schlosser
1906 – Ernst Korn, Schlosser
1912–1961 – Philipp Bull, Malermeister; baut Stall / Scheune zu Werkstatt um
1961–1988 – Karoline Bull, Witwe
1988 – Erbengemeinschaft …
1990 – Ali Baran, kurdischer Musiker, mit Familie
Ali Baran war einer der Ersten, der Kontakt zur lokalen Szene suchte. 1980 gründete er eine Gruppe mit deutschen Musiker*innen und trat mit ihr bei Newrozfeiern (kurdisches Neujahrsfest) auf. Die Zuschauer*innen hielten die dunkelhaarige Geigerin der Band für eine Kurdin, küssten sie und sprachen sie an. Vergeblich erklärte die Frau, dass sie Deutsche sei und kein Kurdisch spreche: »Ali, hilf mir!«
Anfang der 1980er-Jahre kamen sehr viele verfolgte Kurd*innen aus der Türkei nach Westeuropa. Nicht nur Aktivist*innen, sondern fast die gesamte Kunst- und Kulturwelt. Die kurdische Musik und Literatur von 1980 bis in die Nullerjahre entwickelte sich vor allem in Deutschland und anderen EU-Ländern – eben dort, wo sie sich frei entfalten konnten. Der Musiker Nizamettin Ariç zum Beispiel veröffentlichte nacheinander mehrere Alben in Berlin. 1985 produzierte Şanar Yurdatapan den bekanntesten Hit »Canê Canê« des kurdischen Stars Şivan Perwer. Sie stritten sich danach. Perwer, der zu der Zeit in Schweden lebte, nahm sein Folgealbum mit dem türkischen Musiker Orhan Temur in Köln auf. Dutzende seiner Landsleute folgten Perwers Beispiel. Die meisten kurdischen Tonträger der 1980er- und 1990er-Jahre weltweit wurden in Temurs kleinem Studio am Kölner Ebertplatz aufgenommen. Für die Kurden war das die seltene Chance, in ihrer damals in der Türkei verbotenen Sprache Lieder aufnehmen zu können. Und für den Studiobetreiber war es eine wahre Marktlücke. Die produzierten Kassetten wurden in Deutschland legal über die Arbeitervereine und bei Newrozfeiern vertrieben. In die Türkei wurden sie heimlich in Urlaubskoffern geschmuggelt. Einen Zwiespalt, wie etwa zwischen den türkischen Exilkünstler*innen und Arbeitsmigrant*innen, gab es unter den kurdischen Einwanderer*innen nicht. Hier ging es unter anderem um herkömmliche Liebes- oder Kreistanzlieder, allerdings in einer verbotenen, offiziell nicht existenten Sprache. Wie »Tew lê Tew lê« zum Beispiel, ein Lied von Ali Baran. Dieses Stück stammt eigentlich aus dem Repertoire seines Vaters Mahmut Baran, der ein populärer und verehrter Dengbêj war, ein Volksbarde in den kurdischen Gebieten der Türkei. Seine blumige Sprache mag exotisch wirken, die Metaphern ungewöhnlich. Die Melodie dieses Songs allerdings brachte meine Kollegen bei der Band Yarinistan und mich ganz aus dem Häuschen. Wir spielten eine Coverversion dieses verbotenen, als staatsfeindlich eingestuften Lieds gleich auf unserem ersten Album ein:
Es regnete,
Es donnerte am Himmel.
Der Kuss alter Frauen ist wie Schwarzbrot.
Steh auf, mein Junge, steh auf, mein Mutiger,
Unsere lieben Gäste sind gekommen.
Man sieht sie schon am Fluss.
Diese Rose hat blondes Haar.
Prächtig sieht sie aus, wie ein Laden im Basar.
Der Kuss junger Frauen ist wie Weißbrot.
Steh auf, mein Junge, steh auf …
Ein Held für alle war Yılmaz Güney. Im Berliner Onlinemagazin renk. wird er als »Kurde, Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, Ehemann, Vater, politischer Aktivist, Kommunist, Draufgänger, Vorbild, Haustyrann, Häftling, Mörder, Exilant … und schließlich Çirkin Kral« beschrieben. Çirkin Kral heißt »der hässliche König« nach einem gleichnamigen Film Güneys. Während eines Hafturlaubs – er hatte 1974 in einem Kasino einen Staatsanwalt erschossen und saß eine neunzehnjährige Freiheitsstrafe ab – gelang ihm 1981 die Flucht aus der Türkei nach Frankreich. Dort schnitt er das Sozialdrama Yol – Der Weg zu Ende, zu dem er das Drehbuch in Haft geschrieben hatte. Zusammen mit Missing – Vermisst des griechischen Filmemachers Costa-Gavras über den Militärputsch in Chile erhielt Yol 1982 die Goldene Palme in Cannes. Mit gleichgesinnten Kulturschaffenden gründete Güney 1983 das Kurdische Institut in Paris. 1984 drehte er seinen letzten Film Duvar – Die Mauer, der die wahre Geschichte eines Aufstands von Kindern und Jugendlichen in einem Gefängnis in Ankara erzählte. Kurz danach starb Yılmaz Güney siebenundvierzigjährig an Magenkrebs und wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise begraben.
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