Kitabı oku: «Du sollst nicht morden», sayfa 2

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II.
Machtkampf

BODO MARIO WOLTIRI

Sie schaute aus dem Zugfenster: blühende Bäume, weit entfernte Gehöfte, Autos klein wie Spielzeuge und ganz in der Nähe ein Paar mit Hund – unterwegs in der lauen Frühlingsluft bei strahlendem Himmel. Eigentlich wäre Zafira auch lieber spazieren gegangen. Stattdessen saß sie im ICE, auf dem Weg zu einem Interview. Sie nutzte die knappe Stunde, die der Zug von Köln zum Frankfurter Airport brauchte, um ihre Recherchen zu vervollständigen.

„Der große Sprecher der kleinen Leute“, lautete die Schlagzeile der Boulevardzeitung von heute Morgen, die ihr vom Monitor des iPads entgegenleuchtete. Das Foto darunter zeigte Philippe Wilbert, wie er mit Vertretern der Bürgerinitiative „Frankfurt gehört den Frankfurtern“ zusammen unter einem Transparent stand. Ein Populist, wie er im Buche steht, dachte Zafira. Aber was ist eigentlich an Populismus so schlimm? Vielleicht sollte sie ihn nach seiner Meinung dazu fragen. Schließlich fuhr sie nach Frankfurt, um ein persönliches Interview mit dem Mann zu führen, der momentan nicht nur die Klatschspalten der Boulevardpresse füllte, sondern auch von politischen Magazinen ernst genommen wurde. Und für ein solches schrieb sie ja selbst auch. Persona war eine Zeitschrift, die bekannt – manche sagten auch berüchtigt – war für Interviews und Reportagen, die versuchten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von ihren weniger bekannten Seiten zu beleuchten.

Natürlich ist längst nicht jeder dazu bereit, seine intimsten Gedanken zu heiklen Themen anderen zu offenbaren. Und erst recht nicht Ereignisse aus der eigenen Lebensgeschichte. Doch sie schaffte es immer wieder, das Vertrauen der Gesprächspartner zu gewinnen. Und das brauchte sie auf jeden Fall, denn der endgültige Text des Interviews wurde niemals dem anderen zur Freigabe vorgelegt. Da würde sie auch bei Philippe Wilbert keine Ausnahme machen: dem Shootingstar der Zukunftspartei, der sich gerade anschickte, seinen Vater als Parteivorsitzenden vorzeitig abzulösen.

„In wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt Flughafen“, erklang die Stimme aus dem Lautsprecher. Sie schaltete ihr iPad aus und schob es in die schmale Tragetasche.

***

„Guten Tag, Frau Lösch, ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt.“ Der sportlich gekleidete junge Mann, der Zafira am Eingang des kleinen Konferenzraums im Intercityhotel begrüßte, hatte nichts von einem Politiker an sich. Sie war sofort von ihm eingenommen: seiner freundlichen, aber verbindlichen Art, seiner warmen Stimme und seinen bernsteinfarbenen Augen, die sie wohlwollend betrachteten, nachdem sie vor ihm den Raum betreten und Platz genommen hatte.

„Ich möchte Sie zu drei Themen befragen: Ihrem Verhältnis zu Ihrem Vater, dem Vorwurf, Sie seien ein Populist der übelsten Sorte, und dem Gerücht, Sie hätten Kontakte zur Mafia“, eröffnete Zafira das Gespräch und schaute ihn erwartungsvoll an. Wilbert schenkte ihr und sich Kaffee ein und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück: „Über alle drei Themen können wir sprechen, schießen Sie los, ich habe nur eine Stunde Zeit.“

Zafira stellte ihr Aufnahmegerät an. „Sie haben sich erst vor kurzem mit Ihrem Vater versöhnt, nachdem der Sie jahrelang nicht sehen wollte. Was hat Ihr Verhältnis damals so nachhaltig getrübt?“

„Es war das abscheuliche Verhalten meines Halbbruders in einer Sache, über die ich hier nicht reden möchte. Daran hatte sich unser Streit entzündet. Als mein Bruder damals von einer Gang getötet wurde, verdächtigte mein Vater mich als Drahtzieher des Mordes.“

„Nun, das lag ja auch nicht fern, schließlich konnte man Ihnen ja auch eine Verbindung zu dieser Bande nachweisen“, wandte sie ein, fügte aber, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, schnell hinzu: „Gut, da wären wir schon bei dem Mafia-Thema, aber das möchte ich lieber zuletzt anschneiden. Sprechen wir jetzt über den Populisten Philippe Wilbert. Würden Sie sich selbst so bezeichnen?“

Wilberts Gesichtszüge entspannten sich wieder, und in ruhigem Ton antwortete er: „Ich nehme mir Zeit für jeden, der mit seinem Anliegen zu mir kommt; und am liebsten würde ich jedem zu seinem Recht verhelfen. Wenn Sie das als Populismus bezeichnen, dann können Sie und jeder andere mich auch gern einen Populisten nennen.“

„Ja, schon, aber Sie verstehen es ja auch sehr gut, Ihren Einsatz für andere medial auszuschlachten.“

Er sah sie scharf an: „Das tut doch jeder Politiker, ich sehe darin auch nichts Verwerfliches, schließlich unterstütze ich damit die Anliegen derer, die keine Stimme haben …“

„ … und deren Stimme Sie sehr gut gebrauchen können für Ihre Partei“, ergänzte sie seinen Satz.

„Höre ich da etwa Ironie heraus?“, fragte er süffisant lächelnd. „An Ihrer Stelle wäre ich damit sehr vorsichtig, sonst könnte ich Sie daran erinnern, dass Sie und Ihr tolles Magazin Ihr Geld damit verdienen, dass Leute wie ich Ihnen Interviews geben.“ Zafira Lösch seufzte resigniert: „Das höre ich nicht zum ersten Mal. Also gut, lassen Sie uns über Ihre aktuellen Ziele sprechen …“

Dazu hatte Wilbert in der Tat viel zu erzählen, und sie ließ ihm freien Lauf. Das war allerdings ein Fehler, wie sich 50 Minuten später herausstellte, als das iPhone des Politstars summte, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Ja, Luca, ich komme sofort“, hörte sie ihn sagen. Wilbert klappte sein Handy zu und steckte es ein: „Mein PR-Berater Luca Mehring, ich muss mit ihm meine Rede für den Parteitag durchgehen. Aber unsere Stunde ist ja sowie schon fast vorbei. Eigentlich schade, dass wir nicht mehr über die Mafia sprechen konnten, vielleicht beim nächsten Mal. Sehen wir uns auf dem Parteitag?“, fragte er sie.

„Mit Sicherheit, ich will doch dabei sein, wenn Ihr Vater erneut zum Vorsitzenden gewählt wird“, erwiderte sie schnippisch. Er überging diese Spitze und reichte ihr zum Abschied die Hand: „Lassen Sie sich überraschen, Frau Lösch.“

***

„Ich werde mit keinem Wort auf die Rede meines Sohnes eingehen“, erklärte Erich Wilbert. Der Parteivorsitzende sah über den Rand seiner Gleitsichtbrille hinweg seinen Berater an. Carlo Fari nickte bedächtig und schlürfte gedankenvoll seinen Milchkaffee. Seit sechs Stunden arbeiteten beide konzentriert an der Parteitagsrede, der vielleicht wichtigsten in der langen politischen Karriere des Vorsitzenden und Gründers der Zukunftspartei. „Eigentlich war es nicht korrekt, dass wir uns von Philippe diese Dramaturgie haben aufdrücken lassen“, sinnierte Fari.

„Aber du weißt doch, wie wichtig es ist, dass er glaubt, du wärst von mir zu ihm übergelaufen und würdest nur nach einer Gelegenheit suchen, mir eins auszuwischen. Außerdem ist es gut, wenn er das Gefühl hat, das Rennen um den Vorsitz sei schon so gut wie entschieden“, insistierte Wilbert.

„Aber ist es das nicht auch tatsächlich?“, fragte sein Berater zurück.

„Mit dem Parteitag ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Eine Schlacht verlieren heißt noch nicht, den Krieg verlieren“, zitierte Wilbert de Gaulle, „und außerdem ist in diesem Fall der Gegner mein eigener Sohn, da möchte ich nicht von Krieg sprechen.“

„Aber du wirst sehen: Wenn Philippe gewinnt, wird hier kein Stein auf dem andern bleiben“, orakelte Fari und trank seinen Café au lait aus.

***

Zafira Lösch hatte sich einen Platz ganz vorne im Saal der Jahrhunderthalle, direkt vor der Parteitagsbühne, gesichert. Hier, wo sonst Stars der Popmusik, bekannte Kabarettisten, Comedians oder gelegentlich sogar Starköche mit eigener Show auftraten, fand nun der Parteitag der Zukunftspartei statt. Einerseits ein passendes Ambiente, wenn man bedenkt, dass Parteitage von Anfang bis Ende eine perfekt geplante Personality-Show sind, dachte Zafira. Andererseits war Frankfurt der Schauplatz der ersten deutschen demokratischen Versammlung gewesen, die hier vor weit mehr als einem Jahrhundert, als es noch keine Jahrhunderthalle gab, in einer Kirche stattgefunden hatte. Waren Demokratie und Volkswille damals den Politikern noch heilig gewesen? Zumindest mehr als heute, dachte sie weiter, während unter dem aufbrausenden Beifall der Delegierten die Mitglieder des Parteipräsidiums die Bühne betraten. Einer nach dem anderen nahmen sie Platz unter dem riesigen Transparent mit der Aufschrift „Wir gestalten heute das Morgen – die Zukunft für Deutschland“.

Jetzt erst betrat Eki van Rehuis, der zurzeit prominenteste TV-Moderator, die Bühne. Philippes Beraterstab war begeistert von der Idee gewesen, den Showmaster zu engagieren, auch wenn es ein nicht gerade unbeträchtliches Loch in die Parteikasse riss – die Zukunftspartei lebte momentan eher von den eisernen Reserven der Vergangenheit. „Herzlich willkommen zur wohl bedeutendsten politischen Veranstaltung dieses Jahres!“ Mit diesen Worten eröffnete van Rehuis den Parteitag, der live im Politsender „vox populi“ übertragen wurde (die Übertragungsrechte spielten zumindest einen Teil der immensen Veranstaltungskosten wieder ein).

„Ich möchte Ihnen zwei Männer vorstellen, die sich heute um die Führung dieser Partei bewerben: Der eine, Erich Wilbert, hat sie gegründet, der andere, sein Sohn Philippe Wilbert, ist angetreten, diese Partei – und mit ihr vielleicht auch unser Land – grundlegend zu erneuern. Wie er das anstellen will, wird er uns nun verraten. Ich übergebe das Wort an Philippe Wilbert!“

***

„Vor einigen Tagen fragte mich eine Journalistin, was ich davon halte, ein Populist genannt zu werden. Und wisst Ihr, liebe Freundinnen und Freunde, was ich darauf geantwortet habe? Wenn Populismus bedeutet, für die Rechte und Anliegen des Volkes seine Stimme zu erheben, dann bin ich gerne ein Populist!“

Damit hatte er bereits alle auf seiner Seite. Das war seine Stärke: Er machte sich gemein mit dem sprichwörtlichen Mann von der Straße, mit der Bäckersfrau von nebenan. Seine Rede wurde wirkungsvoll untermalt durch ein Video, das Luca Mehring hatte zusammenstellen lassen. Es zeigte ihn zusammen mit Studenten auf einer Demonstration, mit besorgten Eltern vor einem Kindergarten, im Gespräch mit protestierenden Milchbauern und so weiter.

Zafira wurde fast übel bei dieser Art von Selbstdarstellung. Als Frau fand sie Wilbert jr. zwar immer noch höchst attraktiv, aber was er hier auf der Bühne darstellte, konterkarierte dieses Bild. Sie hörte ihm nicht mehr zu, sondern beobachtete stattdessen aufmerksam ihre Kolleginnen und Kollegen neben sich. Links von ihr fotografierte der Sensationsreporter Pit Krumziegel pausenlos das Geschehen auf der Bühne. Sie kannte ihn von diversen anderen gesellschaftlichen Anlässen, wo er „auf Promijagd“ ging, wie er seine Tätigkeit ihr gegenüber einmal beschrieb. Sie wusste aber auch, dass er am nächsten dran war an Philippe Wilbert, dass er ihn weitaus besser kannte als alle anderen hier anwesenden Journalisten. Sie würde sich heute Abend an seine Fersen heften, um von ihm vielleicht mehr über diesen Mann zu erfahren, der bei ihr einen so widersprüchlichen Eindruck hinterließ.

Philippe Wilbert hatte seine Rede beendet, die Delegierten feierten ihn mit Standing Ovations. Danach trat sein Vater an das Rednerpult – schlagartig wurde es ganz still im Saal. „Ich danke dir für diese Rede, Philippe. Sie macht mir nur zu deutlich, dass es nicht gut wäre, diesen neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Wir leben nun mal in einer anderen Zeit, und die Bedingungen sind heute andere als in den Achtzigern, als ich diese Partei gründete. Ich will auch betonen, dass es nicht gut wäre, die Partei in zwei Lager zu spalten. Denn wie sagte schon mein großes Vorbild Abraham Lincoln: Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, mag nicht bestehen. Um dieser Einheit willen, und nur darum, trete ich heute vom Parteivorsitz zurück und kandidiere auch nicht mehr dafür. Ich danke allen für ihre Unterstützung, die ich bis heute erfahren durfte!“

Sprach’s, ging zurück auf seinen Platz und hinterließ ein ratloses und stummes Publikum.

Die anschließende Wahl des Vorsitzenden und Präsidiums brachte, wie nicht anders erwartet, ein grandioses Ergebnis für Philippe Wilbert als neuen Vorsitzenden: Er konnte 98,5 % der Stimmen für sich verbuchen. Dennoch blieb nach diesem Parteitag ein Makel an ihm haften, der ihm schwer zu schaffen machte. Er hatte nicht in offener Schlacht einen Sieg errungen, sondern war um diesen Triumph betrogen worden. Außerdem konnte er nicht sicher sein, ob ihm dieser im Handstreich übernommene Vorsitz später wieder streitig gemacht würde. Schließlich wussten einige seiner engsten Vertrauten mehr über ihn und seine Vergangenheit, als ihm lieb sein konnte. Und der ein oder andere verfügte über gute Kontakte zu den Medien. An diesem denkwürdigen Abend entschloss er sich deshalb zu einem Schritt, der ihm allerdings nicht leicht fallen würde.

***

Zafira Lösch traute ihren Augen nicht, als sie am nächsten Morgen beim Bäcker Brötchen holte und ihr Blick auf die Frankfurter Morgenpost fiel: „Tragischer Selbstmord von Luca Mehring“, titelte die Boulevardzeitung. Zu Hause angekommen, las sie den kurzen, dafür aber mit umso größeren Fotos illustrierten Artikel über den Berater des neuen Parteichefs: „Luca Mehring, erst gestern zum neuen Generalsekretär der Zukunftspartei gewählt, wurde in der Nacht in seiner Wohnung tot aufgefunden. Er hat sich erhängt und einen Abschiedsbrief hinterlassen. Darin gesteht er eine langjährige sexuelle Beziehung zu einer Minderjährigen. Außerdem habe er an dem Sturz des Parteichefs Erich Wilbert aktiv mitgewirkt. Er bereue dies. Die Polizei ermittelt zurzeit die näheren Umstände und Hintergründe dieses tragischen Selbstmords. Wir bitten deshalb um Verständnis, dass wir an dieser Stelle noch nicht über weitere Details berichten können.“ Zafira stockte der Atem, als sie den Bildnachweis unter den Pressefotos las: Krumziegel. Ein Grund mehr, ihren dubiosen Kollegen zu kontaktieren.

***

Sie trafen sich im Café Crumble. Beide hatten noch nicht gefrühstückt und holten dies nun nach. Nachdem sie bestellt hatten, kam Zafira gleich zur Sache: „Pit, was hast du außer dem Abschiedsbrief noch gefunden, und war es wirklich ein Selbstmord?“

„Erstens: nichts. Zweitens: ja“, lautete Krumziegels Auskunft.

„Aber du hast doch bestimmt vor, noch mehr aus der Story zu machen“, bohrte sie weiter.

„Ja sicher, aber dazu muss ich erst mit Philippe sprechen. Ich habe heute Abend einen Termin bei ihm bekommen. Willst du mit zum Interview? Er kennt dich ja, schließlich habt Ihr euch ja auch schon mal unterhalten, oder?“

Unterhalten ist wohl nicht der richtige Ausdruck, höchstens in der Hinsicht, dass er mich unterhalten hat, dachte Zafira und sagte: „Ja, sicher, gerne, ich bin dabei.“

„Gut, ich hole dich heute Abend um acht Uhr zu Hause ab.“ Pit schaute erwartungsvoll der Bedienung entgegen, die sein „großes Frühstück“ brachte – das wirklich für zwei gereicht hätte. Da machte sich Zafiras Bircher-Müsli geradezu wie eine Beilage aus. Na, Männer haben halt immer den größeren Appetit, dachte sie. Ihr Appetit auf Neuigkeiten war jedenfalls erst mal gestillt – bis heute Abend.

***

Der rote Ford Krumziegels bog in die kleine Seitenstraße ein und hielt vor dem Appartmenthaus. Von dem kleinen Parkplatz fuhr gerade mit quietschenden Reifen eine schwarze Limousine mit getönten Seitenfenstern ab. Pit und Zafira stiegen aus und betraten die große Eingangshalle. Pit drückte seinen Zeigefinger auf das Klingelschild mit dem Namen P. Wilbert. Nichts tat sich, Pit drückte noch einmal und hielt nun den Finger länger auf den Button. Nichts. Da klingelte Pit beim Hausmeister, nannte seinen Namen und der Türöffner summte. Sie betraten das Treppenhaus, nahmen den Aufzug und stiegen auf der 5. Etage aus. Philippes Wohnungstür war nur angelehnt. Vorsichtig schob Pit sie auf und gab Zafira durch ein kurzes Nicken zu verstehen, sie solle hinter ihm die Wohnung betreten. Die Szenerie, die sich ihnen dann im Wohnzimmer darbot, war ebenso schockierend wie bizarr. Vom Geländer der Wendeltreppe, die ins Obergeschoss und Schlafzimmer führte, hing der leblose Körper Philipps herab. Aber er hing nicht etwa an einem Strick, sondern jemand hatte ihn an seinen langen schwarzen Haaren aufgehängt, fest verknotet am Geländer. Das war aber wohl nicht die Todesursache gewesen, denn sein Körper war förmlich von Kugeln durchsiebt. Eine Hinrichtung, wie sie nur ein Wahnsinniger ausführen konnte – oder aber die Mafia. Dass eher Letzteres der Fall war, schlossen sie nicht nur aus der Tatsache, dass es schon länger das Gerücht über Wilberts Verbindungen zum organisierten Verbrechen gab, sondern auch aus dem Blatt Papier, das zu seinen Füßen lag. Darauf stand in Großbuchstaben: „Du hast keine Zukunft.“

***

Einige Wochen nach diesen dramatischen Ereignissen war Zafira wieder unterwegs zu einem Interview. Sie parkte ihren gleichnamigen Opel vor einer schmucken Vorortvilla. Nun stand sie zum zweiten Mal vor einem Klingelschild mit dem Namen Wilbert. Der alte und neue Parteichef öffnete persönlich die Tür: „Guten Tag, Frau Lösch, ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt.“

III.
Botafogo

ALBRECHT GRALLE

Als Georg Gruber sie zum ersten Mal sah, fand er sie interessant und sympathisch. Aber sonst war nichts. Mathilda war die Freundin seines Bruders. Und das bedeutete: Lass die Finger davon.

Aber schon eine Woche später veränderte sich das. Unmerklich. Wie bei Pflanzen, die sich im Laufe eines Tages langsam und geräuschlos der Sonne zuwenden.

Es war Anfang Juni und so heiß, dass man im Auto auf den Sitzen festklebte. Weil Mathilda die trockene Luft aus der Klimaanlage nicht vertrug, hatten sie die Fenster aufgemacht. Aber es gab keine richtige Abkühlung.

Sei ja auch egal, meinte Ernie, Georgs Bruder. Die Fahrt zum See würde sowieso nur eine knappe Stunde dauern, und schließlich stünden die Picknicksachen im Kofferraum in einer Kühlbox.

Georg dachte hinterher, dass es an diesem Tag angefangen hatte. Er saß hinter Ernie, und wenn er nach rechts blickte, konnte er Mathilda im Halbprofil beobachten.

Sie hatte links ein Grübchen, wenn sie lachte, und ihr Gesicht war ihm merkwürdig vertraut. Das war ihm beim ersten Mal noch nicht aufgefallen. Warum es ihm vertraut vorkam, konnte er gar nicht genau sagen. Es fühlte sich so an, als ob er nach Hause käme, wenn er sie anblickte.

So etwas hatte er bisher bei keiner Frau erlebt, weder bei Vanessa noch bei Anja. Dabei war Mathilda keine klassische Schönheit. Auf einem Schnappschuss würde sie wahrscheinlich nichtssagend aussehen. Sie wirkte durch ihre Lebendigkeit, durch ihre Stimme, durch ihre Bewegungen, und eben durch etwas in ihrem Gesicht, das ihm das Zuhause-Gefühl gab.

Sie suchten einen Parkplatz am See, was gar nicht so einfach war, weil viele die Idee gehabt hatten, einen Ausflug zu machen. Der beschauliche, stille Tag war wohl eine Illusion gewesen.

Und doch – der See mit seinen Sandufern und Wiesen breitete sich so großzügig aus, dass sie schließlich noch einen Platz mit Seeblick fanden, der relativ ruhig war, wenn man von der Familie mit den zwei Kindern und ihrem Hund absah. Man musste aber vom Parkplatz aus fast zehn Minuten gehen.

Ernie hatte an alles gedacht: Decke, Picknick Geschirr, gekochte Eier, Kartoffelsalat. Mathilda hatte auf seinen Vorschlag hin Hackbällchen gebraten. Es gab Senf, Bier und für hinterher: Kaffee und Apfelkuchen. Natürlich mit Sahne. Die Brüder wechselten sich mit dem Tragen der Box ab.

Ein traumhaftes Wetter. Keine Wolke am Himmel, und vom See strich eine laue Brise herüber. Man hörte ab und zu, wie die Wellen an das Ufer klatschten. Und die Stimmen der beiden Kinder, die mal vor Begeisterung schrien oder quengelten, schallten zu ihnen herüber.

Ohne, dass er es gleich merkte, hatte sich Georg wie selbstverständlich neben Mathilda gesetzt, sodass sie zwischen den Brüdern saß und das Essen verteilte.

Einen kurzen Augenblick sah Georg Mathildas schlanke Hand, wie sie den Kartoffelsalat auffüllte. Irgendwie elegant, dachte er.

Ihr Lachen und ihre warme Stimme lockten seinen Redefluss heraus und er merkte, dass er sich ganz leicht mit ihr unterhielt. Nichts Großartiges. Smalltalk, aber schön.

Nach dem Essen schlich sich eine Müdigkeit ein, und die Brüder lagen auf dem Rücken, während Mathilda ein Buch las.

Schließlich sagte sie: „He, ihr faulen Säcke. Wir liegen hier an einem See und dort hinten gibt es einen Bootsverleih. Los, wir mieten uns ein Tretboot!“

Ernie brummte etwas und Georg drehte sich auf die Seite. Er war wohl kurz eingenickt und fühlte sich nun erfrischt. Mathilda klappte ihr Buch zu und lächelte ihn an.

„Was hast du gesagt?“, fragte er.

„Habt ihr Lust auf eine kleine Bootsfahrt?“

„Klar. Warum nicht. Kommst du, Ernie?“

„Aber dann müssen wir alles zusammenräumen und ins Auto bringen“, gähnte er. „Es ist einfacher, wenn einer hierbleibt und auf die Sachen aufpasst.“

„Gut“, sagte Georg, „dann fahrt ihr mal. Ich bleib solange hier.“

Ernie rührte sich nicht. Schließlich sagte er: „Ich bin todmüde. Fahrt ihr mal los.“

„Na gut!“ Mathilda rappelte sich auf, streckte Georg die Hand hin und zog ihn hoch. „Hast du Geld dabei, Schorschi?“

Georg nickte. „Also, bis in einer halben Stunde, Ernie“, sagte er.

„Ist gut“, brummte sein Bruder. „Und pass auf Mathilda auf, dass sie nicht absäuft.“

„Geht klar.“

„Sag mal, ist Ernie eine Schlafmütze?“, fragte Mathilda auf dem Weg zum Bootsverleih.

„Eigentlich nicht. Nur, wenn er Bier getrunken hat und sich entspannt.“

Sie mussten zehn Minuten warten, bis ein Boot frei wurde. Und als sie nebeneinander saßen und in die Pedale stiegen, fingen sie beide an, ohne sich abgesprochen zu haben, über ihre Kindheit zu reden. Georg merkte erst am nächsten Tag, wie sehr er die Fahrt mit Mathilda genossen hatte.

Es war so leicht, sich mit ihr zu unterhalten. Keine peinlichen Pausen. Er fühlte sich in ihrer Nähe so wohl wie schon lange nicht mehr bei einer Frau, und hätte stundenlang mit ihr in diesem Boot fahren können.

Als sie ausstiegen, reichte er ihr diesmal die Hand und sie blickten sich kurz an. Im Bruchteil einer Sekunde sah er, dass sie plötzlich sehr ernst aussah und seine Hand ein bisschen länger als üblich festhielt.

Seit diesem Tag fing es an, dass Georg tagsüber oft an Mathilda dachte, und wenn sie sich begegneten, schien es so zu sein, als ob sie gerade an irgendetwas anknüpften, so als ob sie sich erst vor fünf Minuten getrennt hätten.

Nach vier Wochen merkte Georg, dass es seit dem Ausflug keinen Tag gegeben hatte, an dem Mathilda nicht durch seine Gedanken gehuscht war, und einen Monat später, als er mit dem Auto von der Arbeit kam, ließ er während der Fahrt die Scheibe herunter und rief in den Straßenverkehr: „Ich liebe Mathilda!“

Er versuchte, sie zu vergessen, aber es gelang ihm nicht, und zwei Wochen später, als sie sich zufällig in der Stadt trafen und eine Tasse Kaffee miteinander tranken, erwähnte Mathilda nebenbei, dass sie eigentlich mit Ernie Schluss machen wollte.

Georg saß da und starrte Mathilda an. „Wirklich?“

„Ja“, sagte sie und rührte in ihrer Tasse. „Es ist … irgendwie so mühselig mit uns.“

„Also, ich finde“, sagte Georg, „wenn ich mit dir zusammen bin, ist es überhaupt nicht mühselig.“

„Stimmt“, nickte Mathilda und lächelte.

Der endgültige Bruch kam einen Monat später. Und als klar wurde, dass nun Georg und Mathilda ein Paar waren, redete Ernie mit seinem Bruder kein Wort mehr. Nur über andere erfuhr er, dass Ernie überall herumerzählte, sein Bruder habe ihm die Freundin ausgespannt. Seine Zukunft sei ihm geraubt worden.

„Geraubt worden! So ein Quatsch“, meinte Mathilda, als sie es erfuhr. „Klingt viel zu theatralisch. Wir waren eben kurz befreundet und haben gemerkt, dass es auf Dauer nicht funkte.“

„Du hast es gemerkt“, sagte Georg und küsste ihren Nacken. „Das ist ein Unterschied. Jetzt denkt Ernie, ich hätte ihm die Freundin ausgespannt. Dabei hast du mich eingefangen mit deinem Charme.“

„So? Meinst du?“ Mathilda legte ihren Arm um seinen Hals, zog ihn an sich und küsste ihn.

„Du tust es schon wieder!“, sagte Georg lachend.

„Ja“, nickte Mathilda „und es tut mir kein bisschen leid. Aber – wir haben Ernie seine Zukunft geraubt und ihn betrogen. Alles ganz furchtbar! Wir sind schreckliche Menschen. Räuber und Betrüger!“

Zur Hochzeit kam Ernie natürlich nicht. Keine Glückwünsche, keine Bemerkung, als sie sich mal auf der Straße sahen. Nichts.

Im Gegenteil. Einmal hörte Georg, wie zwei Freunde sagten: „Ernie ist vollkommen neben der Spur. Wenn das so weitergeht, kauft er sich noch eine Pistole.“

Georg hatte lange über diesen Satz nachgedacht und besorgte sich, über einen Freund mit Beziehungen, eine Waffe. Für alle Fälle.

***

Die Lichter der Straßenlaternen verschwimmen in der einsetzenden Dämmerung und dem Dauerregen und hängen wie niedrige Sterne über dem vorbeihuschenden Rotweiß der Autos. Es sieht nach einem kalten, verregneten Herbsttag aus.

Aber das täuscht. Es sind sechsundzwanzig Grad über Null. Winter in Botafogo.

Georg, der eben noch aus dem Fenster geblickt hat, legt sich auf sein Hotelbett und hört sich das monotone Prasseln der Regentropfen an, die auf irgendein Wellblechdach trommeln.

Dieser Regen ist wie ein Vorhang, der sein Hotelzimmer von allem anderen abtrennt und dem Raum etwas Intimes gibt. Draußen, hinter dem Regen, wartet das Gespräch mit Ernesto, dem Georg jetzt kaum mehr ausweichen kann.

Aber hier, in diesem Zimmer mit der verschnörkelten Lampe, dem nostalgischen Holzladen und dem massiven Wandschrank, befindet sich eine Art geschützter Bezirk.

Inzwischen ist es vollständig dunkel geworden, nachdem vorhin noch eine blasse Helligkeit über den Dingen geschwebt hat. Nur die Lichter der Autos gleiten wie leuchtende Schatten über die Wände.

Georg könnte die Lampe anmachen, aber er genießt die Dunkelheit im Regen, die ihn mit ihrem Zauber überrascht hat und seine Angst in die Schranken weist. Wie der Flügelschlag eines Engels, denkt er.

Das Telefon klingelt. Georgs Augenlider zucken. Er greift nach dem Hörer.

„Mr. Gruber?“

„Yes.“

„Somebody is waiting for you in the car.”

Die männliche Stimme an der Rezeption klingt sachlich und professionell.

„Obrigado – Danke“, sagt Georg. Wenigstens dieses Wort auf Portugiesisch, wenn er schon zu faul war, mehr zu lernen.

Seufzend steht er auf. Der kostbare Augenblick ist wie ein aufgescheuchter Engel durch das offene Fenster geflogen, und das Zimmer hat sich in einen gewöhnlichen Raum zurückverwandelt.

Georg weiß, wer im Auto sitzt. Und es genügt tatsächlich nur dieser eine Satz ohne Namen: „Jemand wartet im Auto auf Sie.“

Jetzt wird er ihm also gegenübertreten müssen. Es ist nicht mehr zu verhindern. Und schließlich hat er es selbst so gewollt.

Aber immerhin ist es schön gewesen, dieses kurze Regentropfenglück, dieser Kurzurlaub von der Angst. Er lacht bitter auf. Fast wie eine Henkersmahlzeit ist das: noch etwas Kostbares, bevor das Schreckliche passiert. Aber – er hat ja alles selbst in die Wege geleitet.

Wird überhaupt etwas Schreckliches passieren? Wieso nimmt er das so selbstverständlich an? Könnte es nicht sein, dass Ernesto, der Mann, der unten im Wagen sitzt, aussteigt, ihm auf die Schulter klopft und den Daumen nach oben hält, wie es die Leute hier tun?

Aber nein! Das ist albern, bei allem, was zwischen ihnen passiert ist. Das kann man nicht einfach so wegwischen.

Georg nimmt den Regenschirm und blickt in den großen Spiegel, der in die Wandschranktür eingelassen ist. Ein übernächtigtes Gesicht sieht ihn an.

Der Nachtflug sitzt ihm noch in den Knochen und die Zeitverschiebung von fünf Stunden. Er müsste sich rasieren, denn der europäische Dreitagebart ist eher selten in Brasilien. Aber es ist zu spät.

„Somebody is waiting for you in the car.”

Das klingt bedrohlich, als ob man mit ihm abrechnen will. Auf dem Rücksitz könnte jemand mit einer geladenen Pistole lauern.

In Botafogo, dem alten Stadtteil von Rio, braucht man keinen Waffenschein. Und eine Leiche zu entsorgen, ist kein Problem. Jeden Morgen liegt irgendwo in Rio eine. Und ausgerechnet jetzt hat er seine Waffe nicht dabei. Jetzt, wo er sie brauchen könnte.

Dass Ernesto nicht ins Hotel kommt, kann aber auch an den knappen Parkplätzen liegen.

Überhaupt: Ernesto!

Seit er in Rio lebt, nennt er sich Ernesto! Lächerlich! Er wird ihn weiterhin Ernie nennen, wie früher. „Hallo, Ernie! Schön, dich zu sehen!“

Nein! Das geht nicht. Das wäre der blanke Hohn.

Georg schließt die Zimmertür ab und nimmt diesmal nicht den Aufzug, sondern die Treppen. Das gibt ihm noch ein paar Minuten mehr. Soll Ernie doch warten! Ob er sich stark verändert hat? Seine Haare waren immer voll. Vielleicht sind sie jetzt grau? Es sind immerhin sechzehn Jahre vergangen seit dem Ausflug zum See.

Die Aufzugstür zischt. Jemand steigt aus, aber Georg geht vorbei, weiter nach unten. Es kommt ihm vor wie ein Abstieg.

Und während er etwas zu langsam die Stufen nach unten geht, fällt ihm sein Traum ein, den er im Flugzeug, nachts zwischen zwei und drei, über dem Atlantik geträumt hat:

Er geht an einem Fluss entlang, will hinüber, aber es gibt keine Fähre und keine Brücke. Und während er unschlüssig wartet, kommt ein Mann von rechts auf ihn zu. Er begrüßt ihn nicht, sondern legt ihm die Arme auf die Schultern. Georg denkt: ein eigenartiger Gruß. Und da merkt er, dass der Mann ihn gar nicht begrüßen will, sondern ihn angreift. Er will ihn auf den Boden drücken. Georg hält dagegen. Es kommt ihm vor, als ob es hier auf Leben und Tod geht. Das Wasser rauscht, Kiesel klirren. Der Kampf geht hin und her. Der Mann ist stumm. Als Georg ihn fragt, wie er heißt, antwortet er nicht. Er will sein Gesicht sehen, aber es sieht verschwommen aus, als würde Georg durch ein Milchglas blicken. Ein quälender Ringkampf. So real, dass er sich jetzt noch an den Schweißgeruch erinnern kann.

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23 aralık 2023
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