Kitabı oku: «Reportagen 1+2», sayfa 14

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Des Philosophen Grabesstimme

Zwei Männer schreiben eine Biographie. Der berühmte Philosoph und Papst des französischen Marxismus und Mörder seiner Frau, Louis Althusser, seine eigene; und der Historiker Moulier-Boutang die von Louis Althusser. Beide sind jetzt erschienen. Dabei werden uns zwei verschiedene Lebensläufe vor Augen geführt, auch wenn sie streckenweise deckungsgleich sind. Beiden entsteigt man nach der Lektüre wie einem Säurebad, also ziemlich aufgelöst. Die lebenslange Verzweiflung und allgegenwärtige Düsternis des Louis Althusser «lassen Sartres ‹Ekel› [la nausée] wie einen Pennälerwitz und ‹Die Pest› von Albert Camus wie eine harmlose Epidemie erscheinen» (Moulier-Boutang).

Althusser? Bisher als Verfasser von ebenso knochentrockenen wie scharfsinnigen Traktaten, als langjähriger Professor des Elitetreib- und Triebhauses Ecole Normale Supérieure und Mitglied der Kommunistischen Partei bekannt. Elegant hat er zwar immer geschrieben, ausgefeilt und präzis, ein schmales Werk («Pour Marx», «Lire le Capital» usw.), sein Einfluss in Frankreich war eminent, er hat die philosophische Debatte in Sachen Reformkommunismus oder Eurokommunismus dominiert. Er hat sich gegen die Instrumentalisierung der Philosophie gewehrt, gegen das «enorme theoretische Vakuum der französischen Marxisten, welche, meist kleinbürgerlichen Ursprungs, zur Partei gestossen sind und, weil sie nicht Proletarier waren, ihre imaginäre Schuld abzutragen glaubten, indem sie einem reinen Aktivismus verfielen» («Pour Marx»). Dass er aber als Person existierte, 1918–1990, dass er litt, verzweifelte, etwa die Hälfte seines Lebens in psychiatrischer Behandlung und/oder Irrenhäusern verbrachte, ständig, schon als Kind, von Selbstmordgedanken geplagt war, hat er nie beschrieben: bis er jetzt, als Toter, seine Autobiographie publizieren liess. Sie wirft den Leser um. Er steht wieder auf, und Moulier-Boutang boxt ihn nochmals um. So war das also! Er hat die Rolle als Guru mit seiner Selbstzerstörung erkauft. Althusser, manisch-depressiv, als Schriftsteller grossartig, tot und sehr lebendig, und man sieht, wie sein philosophisch-marxistisches Über-Ich, früher sein katholisches, den Schriftsteller Althusser abgemurkst hat, so wie er am 16. November 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat, in der Umnachtung.

Ist die Mutter an allem schuld, ein bisschen auch der Vater? Wenn man Althusser glaubt: ja; wenn man Moulier-Boutang liest: nur bedingt. Althusser über seine Mutter (Kindheitserinnerungen): «Wir fuhren damals oft in jene Gegend namens Fougères, (…) und der Wagen wurde von einer fetten, ruhig dahintrottenden Stute gezogen. Ich sass neben dem Kutscher und sah, wie der dicke Arsch der Stute sich bewegte. In der Mitte hatte es einen schönen feuchten Spalt, der mich interessierte, ich wusste damals nicht, weshalb. Aber meine Mutter vermutete es an meiner Stelle, denn sie hiess mich hinten Platz nehmen, von wo aus ich die Stute nicht mehr sehen konnte, aber am Strassenrand sah man jetzt Hähne, welche die Hühner bestiegen. Ich zeigte sie meiner Mutter lachend, es war komisch, aber sie fand das nicht lustig und schimpfte: Lach doch nicht vor Monsieur Faucheux, er wird denken, dass du ein Ignorant bist. Wovon? Ich habe es nie erfahren.»

Die Mutter hatte bekanntlich einem Louis Althusser die Ehe versprochen oder war diesem von ihren/seinen Eltern versprochen worden. Louis stürzte im Ersten Weltkrieg mit seinem Flieger über Verdun ab, worauf sie von dessen älterem Bruder geheiratet wurde. Darauf idealisierte die Mutter den Verstorbenen, welchen sie fleischlich nie kennengelernt hatte, perhorreszierte ihren wirklichen Mann, weil er dem Idealbild nie genügen konnte, nannte ihren Sohn LOUIS und übertrug ihm die Rolle des toten Verlobten. Der Vater war Bankangestellter, dann Direktor, senkrecht, aber zu Hause schweigsam, erst im Freundeskreis auftauend. Wenig Kultur zu Hause; Althusser liebäugelt offensichtlich mit dem Kindheitsmilieu von Sartre, wie es in «Les mots» erscheint: riesige Bibliothek und kein Vater. Die späteren Schwierigkeiten mit den Frauen, seine Angst vor der Sexualität, schliesslich die Ermordung seiner Frau, sieht er, explizit oder implizit, als Folge des mütterlichen Liebesvakuums. Nachdem er z.B. das erste Mal mit seiner Zukünftigen geschlafen hatte, sei er sofort krank geworden, der beste Psychiater auf dem Platz Paris habe eine «dementia praecox» diagnostiziert. Die Therapie: «Damals wurden die Elektroschocks ohne Narkose oder Curare verabreicht. Wir waren alle in einem grossen hellen Saal versammelt, Bett an Bett, und der Vorsteher von untersetzter Gestalt und schnauzbärtig, weshalb die Kranken ihn Stalin nannten, bugsierte seinen elektrischen Kasten von einem Kunden zum andern und setzte allen Konsumenten sukzessive den Helm auf. Man sah, wie der Nachbar sich reglementär in einer epileptischen Krise aufbäumte, man konnte sich vorbereiten und das berühmte zerkaute Tuch zwischen die Zähne nehmen, welches mit der Zeit nach Strom schmeckte. Es war ein schönes kollektives Schauspiel und sehr erhebend.»

Das war zur Zeit, als Althusser seine Neigung für Stalin entdeckte, dessen Praxis er lange verteidigte. Es sieht aus, als ob Stalin ihm philosophische Elektroschocks verabreicht hätte. Im Kampf gegen die verhasste Bourgeoisie (sein eigenes Milieu), welche mit Hitler kollaboriert hatte, und im Engagement für die Habenichtse (zu denen er nicht gehörte) war ihm zeitweise jeder Verbündete recht. Althusser sah Stalin als neuen «motorisierten Weltgeist», sozusagen. Der Weltgeist hat immer recht, er kennt das Ziel der Geschichte und nimmt, im Hinblick auf das künftige Goldene Zeitalter, alle Grausamkeiten der Gegenwart in Kauf. Hegel sah in Napoleon, als dieser nach der Verwüstung von Jena durch die französischen Soldaten unter seinem Fenster vorbeiritt, den «Weltgeist zu Pferde» verkörpert, und der hegelianische Althusser lokalisiert den Weltgeist in Stalins Panzern, welche Osteuropa befreien und besetzen. Augen zu und durch! Und er träumte anscheinend von einer paulinischen Rolle. Paulus hatte das Christentum aus der jüdischen Kultur in die römische verpflanzt, Althusser wollte das Christentum dem neuen Rom, also Moskau, aufpfropfen, und zu dem Behuf hätte es zuerst den atheistischen Marxismus übernehmen sollen: negative Theologie. Erst nach dem Sieg des «Königreichs der Armen» (Sowjetunion) sei auch ein Triumph des erneuerten Christentums möglich. Seine Depressionen, so glaubte er, würden mit dem untergehenden Spät(!)-Kapitalismus verschwinden (Moulier-Boutang), und damit seine unerträgliche Angst: «Ich habe so viele Depressionen erlebt seit dreissig Jahren, dass man mir gestatten wird, nicht davon zu sprechen. Wie soll man übrigens von dieser Angst reden, die wirklich unerträglich ist, an die Hölle grenzt und an die fürchterliche und unergründliche Leere?» (Althusser) Man möchte den «General der Philosophie» (Moulier-Boutang) postum umarmen und ihm zurufen: Hätten Sie das nicht früher schreiben können, Monsieur, und von ihrem Papst-Thron hinuntersteigen zu uns anderen, die sich ihrer Depressionen schämen? Hätte manchem (mancher) geholfen: zu wissen, dass die Halbgötter umnachtet sind und es ihnen sterbenselend ist.

Später liess er sich in die chemische Zwangsjacke stecken (Neuroleptika), hat Schlafkuren ertragen (mit Penthothal-Spritzen), Lithium geschluckt, das Bogomolev-Serum eingespritzt bekommen, sich in Hochsicherheitstrakten einschliessen lassen (Klinik von Soisy), jede Art von Antidepressiva konsumiert: alles für die Katz.

Seine Biographie ist die Geschichte der Psychiatrie der letzten fünfzig Jahre. Nur Deckelbäder hat er nicht abbekommen. Er war eine ambulante Apotheke und zeitweise so mit Medis vollgepumpt, dass er, wie Moulier-Boutang mir sagte, welcher ihn oft im depressiven Zustand gesehen hat (da konnte er jeweils nicht mehr reden und war völlig bewegungslos, vor-tot), nur noch einen Schluck Alkohol hätte nehmen müssen, und er wär' hinübergewesen.

Seine Schüler haben kaum etwas von den Verzweiflungen des Meisters mitbekommen, wenn er wieder interniert wurde, liess die Direktion der «Ecole Normale Sup» (sogenannte «Grande Ecole», eigentlich höheres Lehrerseminar) verlauten, er sei in den Ferien. War er ja auch, gewissermassen. Er soll ein vorbildlicher Lehrer gewesen sein, habe zuhören können und hat den Schülern, welche die fürchterlich strenge, nur mit härtestem Büffeln zu bestehende «Agrégation» nicht bestanden (Michel Foucault, Jacques Derrida u.a.m), über ihre Depressionen hinweggeholfen und ihnen das Repetitionsjahr schmackhaft gemacht oder erträglich. Konnte sich selbst unter Depressionen etwas vorstellen …

Ein Lichtpunkt: seine Geliebten. Man wird die schönste Prosa des Louis Althusser nie, oder erst in unabsehbarer Zeit, lesen können. Befindet sich nämlich in den siebenhundertfünfzig Briefen, die er an Claire Z. geschrieben hat; sie hat ihm fünfhundert zurückgeschrieben. Es war aber nicht nur eine Liebes-Brief-Beziehung, sondern eine ausgeflippte, echt erotische, zugleich spirituelle Leidenschaft (Moulier-Boutang hat die Briefe gesehen und bringt ein Zitat). Auch mit Franca X. war er glücklich.

Die Ehe mit Hélène hingegen – da haben sich zwei Unglücksraben vereinigt. Hélène Ratman-Légotien kam aus einer verwüsteten Kindheit, wurde von ihrer Mutter verabscheut, hat ihrem krebskranken Vater, auf Anraten des Arztes, der das selbst nicht zu tun wagte, im Alter von 13 Jahren die tödliche Spritze verabreicht, ein Jahr später dann auch grad noch der Mutter. Verständlich, dass die Kommunistische Partei ihr ein Familienersatz wurde (wie für Althusser – beide waren in derselben Familie, als sie sich heirateten: Inzest?). Hélène wurde, aus nie genau geklärten Gründen, von der Partei, die ihr das Leben bedeutete, 1950 ausgeschlossen und Althusser von der Partei aufgefordert, sich von ihr zu trennen. Ein regelrechter Prozess à la Moskau war dem vorangegangen. Der kommunistische Dichter Paul Eluard («Sur mes cahiers d'écolier j'écris ton nom: Liberté»), der grosse Freiheitsspezialist, wird von Althusser um Hilfe gebeten, wendet sich indigniert ab. Althusser ist der Partei trotzdem treu geblieben. Die beiden leben dann, eine höllische Ehe, jahrzehntelang zusammen in der Amtswohnung der «Ecole Normale Sup» (ein Internat, in dem übrigens erst seit kurzem auch Frauen zugelassen sind). Hélène wird, ménage à trois, vom gleichen Psychiater wie Louis, René Diatkine, behandelt, der es auch sonst mit der Berufsethik nicht so genau nimmt, er lässt Louis auf sein Verlangen, nach einer Suiziddrohung, internieren, analysiert ihn face-à-face. Althusser soll allerdings kein einfacher Kunde gewesen sein, habe jeweils, schon nach den ersten Sitzungen, seine Analytiker zu analysieren begonnen und sie mit diabolischen Psychotricks zur Verzweiflung getrieben, so wie er auch den Leser manchmal fast zum Überschnappen bringt: Er hat in einem Buch (Bestseller) zwei Autobiographien veröffentlicht, eine kürzere, 1976 geschriebene («Les faits»), eher leichtfüssig bis zynisch, brillant und lustig; und eine längere, «L'avenir dure longtemps» (Zitat von de Gaulle), fünf Jahre nach dem Erdrosseln seiner Frau produziert; die erste verhält sich zur zweiten wie die Komödie zur Tragödie. In der ersten erzählt er u.a., skurril, aber komisch überzeugend, wie er ein atomares Unterseeboot gestohlen hat und von Papst Johannes XXIII. in die vatikanischen Gärten eingeladen worden ist und de Gaulle, der ihn um Feuer bat, auf dem Trottoir begegnet ist: alles Mumpitz, sagt Moulier-Boutang; aber damit wolle er vielleicht sagen, dass es sich bei seiner Autobiographie um Fiktion handle (obwohl sie andererseits von nachprüfbaren Daten strotzt).

Moulier-Boutang seinerseits hat Althusser, in seiner minutiösen, spannend geschriebenen, an Richard Ellmanns oder Jean Lacou-tures Methode erinnernden Biographie, die auf Tausenden von unpublizierten schriftlichen und mündlichen Quellen fusst, erst bis zum Jahre 1956 behandelt (manchmal wie ein Psychiater: 505 Seiten). Man wartet gespannt auf den zweiten Band. Einen Abschnitt der französischen Geistes- und Politgeschichte muss man jetzt schon anders lesen.

PS: Warum tötete Louis Althusser?

Das Rätseln um den französischen Philosophen Louis Althusser geht weiter. Zwei Psychiater aus Bordeaux haben an einer medizinischen Fachtagung eine neue Hypothese vorgelegt, warum Althusser 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat.

Nicht aus Mitleid habe der berühmte Philosoph getötet, auch nicht getreu einem Selbstmord-Pakt zwischen Opfer und Täter, meinen Michel Bénézech und Patrick Lacoste, die beiden Psychiater: «Vielmehr weist alles darauf hin, dass es sich um ein Drama der Leidenschaft handelt, einen Konflikt von Liebe und Hass.»

Die beiden auf Kriminalfälle spezialisierten Psychiater stützen sich, wie die Zeitung «Le Monde» berichtet, vor allem auf die letztes Jahr erschienenen autobiographischen Schriften von Althusser (TA vom 25. September). Der marxistische Philosoph habe enorme Angst gehabt, seine Frau verlasse ihn, wofür sich die Anzeichen in den letzten Wochen vor der Tat verstärkt hätten: «Wir haben es hier mit einem Typ von Beziehung zu tun, wie sie Mutter und Baby verbindet. Wenn eine solche Beziehung zu zerbrechen droht, besteht eine existentielle, vitale Gefahr und das Risiko, dass es zu einer mörderischen Tat kommt», glauben die Psychiater. Um der Trennungsangst zu entgehen, habe Althusser es vorgezogen, «das Objekt seiner Emotionen zu vernichten und so im Tod unbeschränkt zu besitzen».

Althussers Tat hatte in der französischen Öffentlichkeit ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Da der Philosoph für nicht zurechnungsfähig erklärt wurde, kam es zu keinem Prozess. Althusser wurde in einer Klinik interniert und später freigelassen. Er starb 1990.

Althusser litt während Jahrzehnten an Depressionen und wurde immer wieder in Kliniken behandelt. Mit seiner Frau Hélène lebte er zurückgezogen in einer Dienstwohnung in der berühmten Pariser Ecole Normale Supérieure, an der der Philosoph unterrichtete. Althusser, dessen Bücher international Aufsehen erregten und viel diskutiert wurden, kannte Hélène seit 1946. Von der Ehehölle des Paars wussten selbst Freunde und Schüler nichts.

Forschen

Quellen und wie man sie zum Sprudeln bringt*

«Die Reformazzen memen immer, nur die schriftl. Überlieferung sei gültig. Ha!, sagten die Katholen, es gibt auch noch die mündliche. Das ist ein alter Religionskrieg. Und siehe da, deswegen ist die Tradition und ihre Schreibung, die Geschichts-Schreibung, bei K. Urner und G. Kreis und bei der NZZ so fad und so schal, so lau und so schmal, weil sie nicht schöpfet aus dem lebendigen Wasser der Mündlichkeit. Dich aber will ich ausspucken aus meinem Maul, sprach der herr god zebaoth, weil Du mir Langweile erregest unter der Zunge, unter meiner armen lingua, hinter dem Gaumensegel wird es mir so trocken hierzuland, heilantonner, und will Dich verpfeien bis Dir Dein Hendli verdorret, hui bis es tör ist. Und vom gregorianischen Koran verstehen sie auch nichts & haben ein ganz lüggenhaftes Weltgebewde! Gib mir die verlorne Zounge wieder pange lingua gloriosum corporis mysterium, und jetzt, Körperlichkeit in die Sprache sus tätschts.»

Thomas von Aquin, 1983

Es gibt * Eine Antwort auf Äusserungen von Professor Edgar Bonjour in den LNN vom 16. Juli 1977. Bonjour erklärte u.a., mündlichen Quellen könne man weniger vertrauen als schriftlichen, Dokumente seien also in jedem Fall vertrauenswürdiger als Interviews, die ein Historiker mit den betroffenen Personen der Zeitgeschichte führt. Ausserdem müsse der Historiker, also er z.B., «untendenziös» sein und arbeiten. Bonjour: «Der Historiker kommt – unvoreingenommen – aufgrund der Fakten zu einer Wertung. Meienberg hat eine – vorgefasste – Meinung und unterlegt sie mit Interviews und solchen Fakten, die seine These stützen. Das nennt man Tendenz.» Andrerseits müsse es «einem jungen Filmautor durchaus erlaubt sein, eine Tendenz zu haben, eine selbständige, von der offiziellen Meinung unabhängige, kritische Auffassung der Zeitgeschichte zu vertreten. Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» (Film von R. Dindo und N. Meienberg über den Landesverräter Ernst S.) also noch ein liberales Bürgertum, oder wenigstens liberale Bürger. Die Erklärungen von Edgar Bonjour gegenüber der LNN bilden einen hübschen Kontrast zu den Verunglimpfungen, Unterstellungen und Anschwärzungen, die man im Zusammenhang mit Buch und Film über den Landesverräter Ernst S. seit zwei Jahren aus dem konservativ-verstockten Teil des Bürgertums schallen hört.

Man durfte von dorther wirklich viel Schrilles vernehmen: Professoren der Universität Bern beklagen sich beim Oberbürgermeister der Stadt Mannheim über die Auszeichnung, welche «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» am Festival von Mannheim gekriegt hatte; es handle sich dabei, so schrieben die 18 Professoren, von denen 17 den Film gar nicht gesehen hatten, um «neomarxistische Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg». Und in der NZZ unterstellt uns am 7.7.77 ein gewisser Georg Kreis, wir hätten die historische Auseinandersetzung mit «unlauteren Mitteln» geführt (jeder Kaufmann, dem angelastet wird, er führe den Konkurrenzkampf mit «unlauteren Mitteln», würde notabene sofort einen Prozess anstrengen); ausserdem hätten wir unsere Interviewpartner «manipuliert» (eine Frechheit: alle von uns befragten Personen können das Gegenteil bestätigen) und stünden wir insgesamt unter «neolinkem Faschismusverdacht» und würden Elemente einer «totalitären Ideologie» verbreiten.

Der Kontrast zwischen dem aufgeklärten und dem verunklärten Flügel des Bürgertums ist enorm: Hier der suchende, offene Edgar Bonjour, der trotz (oder wegen?) seines hohen Alters immer noch forscht und weiterdenkt, mit einer gewissen Altersradikalität und ohne Rücksichten auf eine Karriere, die hinter ihm liegt, dort die sauertöpfisch-eifernden Ideologen der blockierten Bürgerlichkeit, heftige Streber, die trotz ihrer Jugend nicht mehr suchen müssen, sondern schon alles gefunden haben. Hier der Forscher, dort die Forschen. Hier die Gewissheit von Edgar Bonjour, dass die Schweiz eine unbewältigte Vergangenheit hat; dort die Behauptung, dass Vergangenheitsbewältigung nur ein Vorwand für Agitation sei.

Aber «dort» gibt es betreffs Vergangenheit und ihrer Bewältigung so viele Verrenkungen, Verstockungen und Verstopfungen, dass ein spezieller Artikel diesen Erscheinungen gewidmet werden muss. Hier nur ein paar Gedanken zur Geschichts-Konzeption von Edgar Bonjour. Das Schöne bei Bonjour liegt nämlich darin, dass man ihm widersprechen kann, ohne dass er beleidigt ist. Man kann debattieren mit ihm. Ein Liberaler, von denen die meisten heute ausgestorben sind.

Bonjour schreibt Geschichte aufgrund von schriftlichen Quellen, weil er die Geschichte der Aussenpolitik schreibt, und die kann man natürlich in klassischer Weise aufarbeiten: mit Dokumenten. Bonjour ist skeptisch gegenüber mündlichen Quellen: «Ein von mir dreimal – zum gleichen, wichtigen Gegenstand – befragter Staatsmann beispielsweise hat mir diesen Sachverhalt in drei verschiedenen Versionen geschildert.» Es ist normal, dass «Staatsmänner» ihre mündlichen Erklärungen taktisch dosieren. Ein Pilet-Golaz zum Beispiel, der die Angleichung der Schweiz ans Dritte Reich aktiv betrieb, hätte je nach politischen Umständen und Gesprächspartnern verschiedene Antworten gegeben. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler hatte er alles Interesse, seine Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland zu vertuschen. Wäre aber Hitler siegreich geblieben, hätte Pilet-Golaz seine Pionier-Rolle triumphierend hervorgehoben, und die dankbare Heimat hätte ihm Denkmäler errichtet, und nicht dem General Guisan das nette Reiterstandbild.

Mit schriftlichen Quellen hingegen kann nicht gemogelt werden, da steht auch nach 35 Jahren noch schwarz auf weiss, wenn auch leicht vergilbt, dass Pilet-Golaz zum Beispiel den deutschen Gesandten um Nachsicht gegenüber diesen «Bergbewohnern» bittet, welche die neuen Verhältnisse noch nicht ganz kapiert hätten, während die Regierung doch schon alles vorkehre, um die Schweiz dem «Neuen Europa» einzugliedern. Was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen – aber man besitzt halt nicht mehr alles.

Bonjour erwähnt Akten, die frühere Bundesräte «kofferweise» mit nach Hause genommen haben. Und laut NZZ wurden zum Beispiel sämtliche Akten des militärischen Nachrichtendienstes nach dem Krieg im Gaswerk Fribourg verbrannt. Und Jürg Wille, zur Zeit Hausherr im Willeschen Familiengut Marienfeld, antwortete mir 1974 auf die Frage, ob nicht vielleicht doch Dokumente, die seinen Vater, den Oberstkorpskommandanten Ulrich Wille, belasten könnten, aus dem Familienarchiv verschwunden seien: «Im Prinzip nicht, aber es wäre möglich, mit allem Vorbehalt möchte ich das sagen, dass die zweite Frau meines Vaters, die enorm reinlich war und immer viel geputzt hat, einiges zufällig vernichtete» (Jürg Willes Äusserungen wurden vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt).

Die Nachfahren umstrittener Persönlichkeiten sind bekanntlich immer sehr putzfreudig, oder dann schliessen sie die Nachlässe ein und lassen nur solche Historiker darin «forschen», die ihre Vorfahren in einem lieben, familiären Licht beschreiben. So hat die Familie Wille zum Beispiel einem Herrn Röthlisberger Zutritt zu General Ulrich Willes Korrespondenzen mit seiner Frau (eine der äusseren Form nach private, dem Inhalt nach hochpolitische Korrespondenz) gewährt, und Herr Röthlisberger hat dann auch wirklich allerliebste Sachen über das echt demokratische Wesen des bekanntlich höchst selbstherrlichen Generals geschrieben.

Die Familie Weizsäcker (pardon, von Weizsäcker), das heisst die Nachfahren des ehemaligen Nazigesandten in der Schweiz (er hat auch nach seiner Beförderung zum Staatssekretär die Befehle Ribbentrops treu und bieder ausgeführt), dessen Sohn mit einer Tochter des Oberstkorpskommandanten Wille verheiratet wurde, hat die sogenannten «Weizsäcker Papers» einem kanadischen Historiker exklusiv überlassen, welcher den Papa weissgewaschen und bewiesen hat, dass der kultivierte Herr in seines Herzens Grunde nie ein Nazi gewesen war. Wie hätte er auch können, der Aristokrat!

Manche von diesen privaten Nachlässen sind übrigens nicht so ganz privat: Es befinden sich meist auch Staatspapiere darin, die bei der Pensionierung «kofferweise» mitgenommen wurden. Es fragt sich also, ob man «keiner Familie vorschreiben kann, was damit zu geschehen hat» (Bonjour). Vielleicht könnte mal der Herr Bundesarchivar Gauye, sozusagen als eidgenössischer Kommissar, in diesen Archiven spazierengehn und – sofern noch etwas zu finden ist – konfiszieren beziehungsweise rückverstaatlichen, was dem Staat gehört: bei Sprechers, Wetters (Bundespräsident 1941), Pilet-Golaz' etc. Denn bei uns ist die Geschichte mächtiger Familien immer auch Geschichte des Staates, und umgekehrt sind die Grundlagen des öffentlichen Bewusstseins, nämlich wichtige Archivalien, auf weite Strecken privatisiert.

Eine solche Verstaatlichung angeblich privater Dokumente böte den unschätzbaren Vorteil, dass nicht nur bürgerliche Historiker, die sich fast untertänig ins Vertrauen der herrschenden Familien einschmeicheln, Zugang zu wesentlichen Dokumenten haben. Hingegen bessert sich die lamentable Quellenlage auch dann nicht, wenn «darauf hingewirkt wird, dass solche Nachlässe möglichst unversehrt als private Deposita in öffentliche Archive gelangen» (Bonjour) und dabei die betreffende Familie immer noch selbst entscheiden kann, wer die Dokumente sehen darf: Auf diese Weise entsteht zum Beispiel die burleske Situation, dass die Familien von Wattenwyl und Egli (Abkömmlinge der in den sogenannten «Oberstenhandel» verwickelten Militärs) noch ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen die Archive sperren können. Der Historiker Schoch, Spezialist auf diesem Gebiet, weiss davon ein Liedlein zu singen, oder zwei.

Es leuchtet also nicht ganz ein, dass, wie Bonjour sagt, «vieles von dem, was so verborgen werden sollte, mit ein bisschen Spürsinn rekonstruiert und anderswo aufgetrieben beziehungsweise erfahren werden kann» (Bonjour). Wie denn? Durch Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung? (Einbruch in private Archive). Durch Rekonstruktion der Aschenteilchen der verbrannten Dokumente? Oder indem man die «Fähigkeit des Historikers zu warten» kultiviert (Bonjour)? Die «Fähigkeit zu warten» kann auch eine «Unfähigkeit zu trauern» verdecken und kann die Bewältigung der Vergangenheit auf den Sanktnimmerleinstag verschieben.

Nun muss man allerdings fragen, für wen der Historiker schreibt und «bewältigt». Für seine Historikerkollegen? Im Hinblick auf die Erklimmung eines Lehrstuhls? Um ein Nationalfonds-Stipendium zu ergattern? In der Schweiz herrscht, im Gegensatz zu Frankreich, ausgerechnet bei jungen Historikern die Ansicht, dass nur garstig-langweilig geschriebene Darstellungen als wissenschaftlich zu betrachten sind. Die zeitgeschichtliche Literatur (Ausnahme: Bonjour) ist denn auch entsprechend: In kleinen Auflagen kommt sie nicht unters Volk, sondern unter die Spezialisten, wird kurz von «Fachleuten» diskutiert und schnell vergessen, hat keine Folgen, ausser eben das Nationalfonds-Stipendium oder ein Lehrstühlchen.

Man hat ein bisschen übersehen, dass die bedeutenden Historiker immer auch brillante Stilisten waren, Toynbee, Mommsen, Michelet, und dass sie eine politische Massenwirkung hatten. Das waren keineswegs «unvoreingenommene» (Bonjour) Wissenschaftler, sondern tendenziöse Kämpfernaturen, welche von ihrer Leidenschaft aufgefressen wurden. Sie würden heute, weil sie Massenwirkung anstrebten, eine Geschichtsschreibung auch durch Film und Radio versuchen, welche laut Bonjour «heikel» ist. Heikel, jawohl! Man kommt nämlich unter die Leute damit und muss sich der öffentlichen Debatte stellen, es gibt ein «Feedback» und vielleicht auch einen Streit. Historisch exakt kann man trotzdem sein, man muss es sogar ganz besonders. Was öffentlich von vielen kontrolliert werden kann, ist zu einer grösseren Exaktheit gezwungen, muss härter und umfassender recherchiert sein als die heimlichen Seminararbeiten im Spezialistenghetto.

Eine solche Geschichtsschreibung, ob durch Buch, Radio oder Film, kann nicht auf mündliche Quellen verzichten, welche Bonjour «problematisch» findet. (Sind es die lückenhaften, manipulierten, zum Teil gesperrten schriftlichen Quellen etwa nicht auch?) Wer nämlich Sozialgeschichte erhellen will, der hat mit anderen Leuten zu tun, als ein Historiker der Aussenpolitik, welcher bei abgebrüht-routinierten Diplomaten und Politikern seine Auskünfte holt, die je nach politischer Konjunktur verschieden tönen können.

Wenn man also bei der Erforschung der Biographie von Ernst S. sich nur auf schriftliche Quellen stützen wollte, hätte man zum Beispiel nie erfahren, dass Oberst Birenstihl seine Offiziers-Freunde zur Hinrichtung eingeladen hat, um sie zu unterhalten. Diese Einladung war nämlich reglementswidrig und hat offenbar keine Spuren in den Akten hinterlassen, jedoch präzise Erinnerungen im Kopf von beteiligten Offizieren, die allesamt schockiert waren und von denen keiner ein Interesse hatte, die Armee schlechter zu machen, als sie ist: alles Leute, welche die Hinrichtung des Ernst S. «sonst» ganz in Ordnung fanden. Wenn nun mehrere mündliche Zeugnisse aus solch unverdächtigen Quellen übereinstimmen, so darf man das betreffende Faktum wohl als erhärtet betrachten.

Auch der Soldat Lamprecht, welcher vor unserer Kamera sich erinnert und diese Erinnerung aufarbeitet; der am Tatort Auskunft gibt über das Ereignis und ausserdem kein politisches Interesse am Frisieren von Tatsachen hat (er ist kein Prominenter, kein Politiker, der seine Worte abwägen muss): Die Erschiessung hat sich seinem Gedächtnis eingebrannt, lag dann tiefgekühlt jahrzehntelang auf dem Grund seiner Erinnerung und taut jetzt vor der Kamera auf: Sie ist frisch und präzis, sie hat ihn geprägt. Sie lässt sich ausserdem kontrollieren und vergleichen mit anderen mündlichen Zeugnissen. Von den Eindrücken der Soldaten steht nichts in den Akten, denn über die Akten verfügen Offiziere, nicht Soldaten. Die Schrift-Gelehrten beherrschen das Schriftliche, und ein Historiker, der die schriftlichen Quellen fetischisiert (was man von Bonjour nicht sagen kann) und zur einzigen Auskunft erhebt, schreibt bald automatisch eine Geschichte der Herrschenden, und die wird bei uns im Handkehrum zur herrschenden Geschichte (auch «objektive Geschichte» genannt).

Ein weiteres Beispiel, um bei Ernst S. zu bleiben: Im Bericht des Psychiaters Hans-Oscar Pfister heisst es von der Familie S., sie habe «einen Hang zum Vagantentum» gezeigt. Die Geschwister des Hingerichteten wechselten nämlich alle paar Monate die Stelle. Diese Tatsache ist in den Akten unbestritten. Wenn man sich nun auf die Socken macht und mit den überlebenden Brüdern spricht, so bestätigt sich auch mündlich, dass tatsächlich ein häufiger Stellenwechsel vorkam. Aber man erfährt dann auch, weshalb: In den dreissiger Jahren konnte manche Fabrik nur Saisonarbeit offerieren, und die Geschwister S. mussten die Stelle wechseln. Von psychologisch motiviertem «Vagantentum» keine Rede.

Was die Arbeitsbedingungen in jenen Fabriken betrifft, so steht zum Beispiel in keinem Jahresbericht der Färberei Sitterthal, wieviel die Arbeiter verdienten, in welchen Verhältnissen punkto Hygiene sie gehalten wurden; kein Wort auch über die Unterdrückung der Gewerkschaften. All das ist nur aus mündlichen Zeugnissen erfahrbar. Und man kann sich darauf verlassen, dass die meisten Arbeiter die Hungerlöhne auf den Rappen genau im Gedächtnis behalten haben. (Wogegen die Direktoren davon, wie zufällig, nichts mehr wissen.)

Die Geschichtsschreibung mittels mündlicher Quellen ist also durchaus «problematisch», aber in einem andern Sinn, als Bonjour meint: nicht deshalb, weil sie unpräzise wäre (das sind im Gegenteil oft die Dokumente, welche einen riesigen Teil der Wirklichkeit unterschlagen), sondern weil sie ein neues Geschichtsbild entwirft und das alte relativiert. Problematisch für wen? Geschichte des Volkes, vom Volk selbst verfasst, das ohne Hemmungen frisch von der Leber weg erzählt, kann recht problematisch werden für alle Arten von Machthabern.

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