Kitabı oku: «Reportagen 1+2», sayfa 9
Aber so krud darf man das auch wieder nicht sagen.
Oder hätte nur unverblümt in seinen Büchern erzählen müssen, was er in der vornehmen Zürcher-Gesellschaft, wo er oft zu Gast war, sah und hörte; bei den Wesendoncks, den Rieters, Eschers, auch beim alten Wille (Vater des Generals). War aber viel zu schüchtern, um solche Geschichten auszuplaudern, hat sich diese Lust versagt. Beschickt unsere Phantasie statt dessen mit seinen ewigen Kleinbürger-Figuren und schimpft auf Emile Zola. Das hat man gern!
Meinrad Inglin hat vielleicht zu viel Gottfried Keller gelesen und wollte es ihm gleichtun. Es gibt tatsächlich auch im «Schweizerspiegel» wieder ein Schützenfest, wenn auch ein leicht gestörtes, und eine ideale Stauffacherin-Frauenfigur muss auch aufmarschieren, Mutter Ammann hat viel Geduld sowohl mit ihrem Mann als mit ihren Kindern, siehe Frau Regel Amrain und ihr Jüngster. Sie ist immer geraden Sinnes und aber auch guten Mutes. Die Familie ist mit dem Land verbunden, ein Teil der Verwandtschaft wohnt immer noch im Rusgrund, wo die ganze Sippe ursprünglich herkommt. Dort im Rusgrund riecht es gesund nach Heimat und Scholle, man kann immer wieder Regress nehmen aufs Land.
Die Vermögensverhältnisse der Familie Ammann sind zufriedenstellend, der Vater ist liberal und Oberst und Nationalrat (Miliz), und mit welcher Tätigkeit er zu seinem Wohlstand gekommen ist, wird im ganzen Buch nicht recht klar. Das Vermögen ist als selbstverständlich vorausgesetzt, es ist metaphysischer Natur, und eigentlich möchte man den alten Ammann gern einmal bei seiner Erwerbstätigkeit beobachten können. Das Familientableau – tableau vivant? – präsentiert sich ungefähr so: «Die Eltern und deren Verwandte in der gleichen Generation, Bruder, Schwester, Schwäger und Schwägerinnen, vertreten das schweizerische Establishment, wobei der Bogen einerseits ins Welschland, zurück zum bäuerlichen Herkommen andererseits gezogen ist. Die Jungen – seit wenigen Jahren erwachsen –, vorab die Söhne Ammann und die schon verheiratete Tochter Gertrud, deren Cousins, Freunde und Dienstkameraden, markieren die spezifischen Verhaltensweisen der damaligen jungen Generation in der Schweiz. Der verheiratete, älteste Sohn Severin ist deutschfreundlich, undemokratisch und autoritär. Paul, der zweite Sohn, Dr. phil., vertritt die schweizerische Intelligenz, welche neue Impulse vom Sozialismus erhofft, und Fred, der Jüngste, schwankt unentschieden zwischen den brüderlichen Positionen, bis er – seiner regressiven, aber von Inglin insgeheim gepriesenen Neigung gemäss – im Rusgrund, dem angestammten Heimwesen der Ammann, eine neue geistige und seelische Heimat findet.» (B. von Matt)
Und wo steht Inglin?
Scheinbar über den Parteien; dort, wo der Marionettenspieler die Fäden zieht. Aber wenn man seiner Sprache trauen darf, die immer dort lebendig und fast leidenschaftlich wird, wo es ums Militärische geht, wo Gewaltmärsche, Biwaks, Kantonnemente, Gefechtsübungen, Paradeuniformen, Abhärtungen, Défilés ins Bild kommen, während seine Diktion sonst, etwa bei den Liebesszenen, merkwürdig lahmarschig bleibt, so hat man den Eindruck, dass die Armee zur Hauptperson des Buches gemacht worden ist. Das könnte ja reizvoll sein und sehr modern: ein Kollektiv im Mittelpunkt der Handlung, an Stelle von Individuen, das vieltausendköpfige Ungeheuer als quasi autonomes Monstrum und Herr der Geschichte. Aber so verhält es sich bei Inglin auch wieder nicht, die Armee ist dann doch wieder sehr bieder, ambulante Heimat für den pflichtbewussten Soldaten, eine Prise Gilberte de Courgenay, ein bisschen Füsilier Wipf und weit und breit kein Soldat Schwejk (oder HD Läppli). Die Offiziere, mit wenigen Ausnahmen, meinen es nur gut, müssen aber im Interesse der Kriegsbereitschaft halt streng sein mit den Mannen. Wer sportlich ist und folgsam, kann Aspirant werden und dann Offizier; hoppla. In der Verlegung, im Tessin, gibt es schwarzbraune Mägdeleins, in die man sich verlieben darf (wer hat hier gelacht?), den Mädchen lauft das Wasser im Munde zusammen beim Anblick der hübsch gebügelten Kerls:
«Es waren Instruktionsaspiranten, Oberleutnants in knapp sitzender blauer Uniformbluse mit hohem rotbeschlagenem Kragen und silbernen Achselstücken, mit schneeweissen Lederhandschuhen und vernickeltem Säbel, den sie lässig schleifen liessen, Offiziere von vorbildlicher Haltung und tadellosem Aussehen, ja mit einem Stich ins Salonmässige, was ihre Tüchtigkeit erwiesenermassen nicht beeinträchtigte.» (M. Inglin)
Schön von der Armee auch, dass sie so unpolitisch ist. Inglin rapportiert zwar in den wenigen Klartext-Passagen, wo General Wille und von Sprecher und der germanophile Bundesrat Hoffmann unmaskiert auftreten, dass die Deutschfreundlichkeit der Armeespitze im Welschland auf heftige Abwehr gestossen ist; aber das ist halt so eine Ansicht der Welschen, es gibt auch andere Meinungen, z.B. die von Severin Ammann, der schon längst gerne mit den Deutschen in den Krieg gezogen wäre. Da steht halt Meinung gegen Meinung, und in der Mitte zwischen Paul und Severin steht Fred Ammann, Aspirant, der manchmal ein bisschen angezogen und dann wieder ein wenig abgestossen ist vom Säbelrasseln. Und wenn die strammen Offizierslehrlinge Ausgang haben, so ist es zwar sehr lästig, wenn ihnen die sozialistischen Jungburschen das Leben sauer machen im Kreis vier und den Herrchen ein paar Schlötterlinge anhängen; aber es genügt ein rascher Griff an den Säbel, und siehe da –
«Die Burschen, die auf dergleichen gefasst sein mochten und einen gewissen Abstand jedenfalls gewahrt hatten, fuhren zurück und auseinander, doch nur wie ein Wespenschwarm, der giftig sirrend aufstiebt und gereizt von allen Seiten anzugreifen sucht. Sie schrien nun jedes erdenkliche Schimpfwort heraus und pfiffen gellend durch die Finger, während ihre Nachzügler aus dem Versammlungslokal begierig dahergerannt kamen und sich zu ihnen gesellten.»
Begierig, wie sie halt sind im Kreis vier, und gellend; gell.
Bei so vielen giftig sirrenden Wespen kommt es dann notgedrungen zum Landesstreik. Inglin denkt da genau wie General Wille in seinen Denkschriften zuhanden des Bundesrates, die fanatischen Jungburschen und andere Linksextremisten haben die im Grunde patriotisch gesinnte Arbeiterschaft aufgewiegelt. Auch die Putzfrauen werden frech in dieser Zeit, aber Frau Barbara (Ammann) nimmt's gelassen. Die bei Ammanns putzende, mit einem Arbeitslosen verheiratete Putzfrau «lag auf den Knien, die Fegbürste in der Rechten, eine Haarsträhne auf der Stirn, und schaute mit triumphierender Gewissheit zur Hausherrin auf. ‹Es gibt Änderungen, Frau Oberst, Sie werden wohl davon läuten gehört haben›, fuhr sie fort. ‹Von mir aus braucht's Ihnen dabei nicht schlimm zu gehen, Sie waren immer recht zu mir. Aber unsereiner will halt doch endlich auch an die Futterkrippe.›» So frech, dass sie aufhören würde mit Putzen, ist die Putzfrau aber auch wieder nicht.
Es gibt eine halbwegs emanzipierte Frau im Roman: Gertrud Ammann, die Tochter des Hauses, musisch, sensibel, eigene Gedanken im Kopf und gar nicht zufrieden mit ihrem Mann, dem Instruktionsoffizier Hartmann, Oberstleutnant, der ihre Psyche malträtiert; während er sich äusserlich sehr gluschtig präsentiert, «ein grosser, kräftig schlanker Mann von dreiundvierzig Jahren, in dunkler Reithose, tadellos sitzenden Stiefeln und eng anliegender blauer Uniformbluse, mit einem gesunden, von Luft und Sonne gebräunten Gesicht, dessen Ausdruck in seiner Mischung von sportlicher Derbheit, herrischer Kühle und männlicher Intelligenz nicht nur von guter Abkunft, sondern von wirklicher Rasse zeugte». Der rassige Derbling ist leider im Ehebett, das wird keusch angetönt, ein Brutalnik, und so liegt es denn nahe, dass Gertrud sich in das pure Gegenteil ihres Offiziersgatten verliebt, in den sanften Dichter und Pazifisten Albin. Die Schilderung dieses stillen Wässerleins gelingt dem Epiker Inglin weniger gut als das Offiziers-Konterfei. Albin besteht nicht aus Fleisch und Blut, sondern vor allem aus Ideen (wie auch Gertruds Bruder Paul, der ein bisschen für den Ragazschen Sozialismus schwärmt). Ein typisches Inglin-Dilemma. Eigentlich findet er, theoretisch und als Humanist, den Albin Pfister viel anziehender als den Instruktor; aber die Sprache verrät seine tieferen Sympathien. Sie spielt ihm öfters solche Streiche. Gertrud, nachdem sie sich, zum Entsetzen der Eltern, von Hartmann getrennt hat, kann ihre Liebe zu Albin nicht ausleben, weil dieser im Militärdienst stirbt. An seinem Totenbett bahnt sich ihre Versöhnung mit Mutter Barbara an, und so kehrt sie wieder ein bisschen in den Schoss ihrer Ursprungsfamilie zurück, wie Bruder Fred in den Schoss der Natur im Rusgrund.
Wenn man sechs Jahre, welch respektable Anstrengung, an einem Roman arbeitet, kapselt man sich von der Welt ab, es geht nicht anders, und kann man vielleicht deshalb die Welt nicht mehr realistisch beschreiben. Muss ein Buch schon deshalb gelobt werden, weil einer so viel Zeit und Schweiss investiert hat? Oder darf man auch noch das Produkt bei Licht besehen? «Der ‹Schweizerspiegel› wurde zu einer Bastion im geistigen Befestigungssystem der Landesverteidigung, ein Roman wurde dienstverpflichtet», schreibt Reinhardt Stumm in der BAZ. Ach wo: Inglin hat sich und seinen Roman selber dienstbar gemacht und in die patriotische Pflicht genommen, er wollte, da musste man ihm gar nichts befehlen, einen «Aufruf zur nationalen Selbstbesinnung» liefern. Darum scheppern seine Dialoge so hohl, wenn Weltanschauliches abgehandelt wird, ein paar hundert Seiten von den 1066 tönen wie staatsbürgerlicher Unterricht. Helm ab zum Gebet! Der Roman behandelt zwar die Grenzbesetzung 14–18, soll aber gleichzeitig die richtige Mentalität für den nächsten Krieg, den man kommen sah, in den Köpfen befestigen – ein Buch im Zeichen des Friedensabkommens. Alle haben ein bisschen recht und alle ein bisschen unrecht, und die Armee hat am rechtesten. Unüberbrückbare Gegensätze gibt es nicht, mit gutem Willen kann der soziale Frieden gesichert werden (wenn man nichts Grundlegendes verändert).
Der «Schweizerspiegel» erscheint etwa zur selben Zeit wie der Film «Füsilier Wipf», wo die Armee ähnlich verharmlost und politisch neutralisiert wird wie bei Inglin; und Robert Faesi, der die Romanvorlage für den «Füsilier Wipf» verfasst hat, verwendet sich, zusammen mit Carl Helbling, der eine untertänige Wille-Biographie geschrieben hat, für die Verleihung des Grossen Schillerpreises an Meinrad Inglin. Den kriegt er 1948.
Wie hartnäckig Inglin an der Realität vorbeigeblinzelt hat, wie wenig er vom zürcherischen Grossbürgertum und den Machtstrukturen gesehen hat, obwohl er fast mit der Nase darauf gestossen wurde, wie harmlos die (angeblich das Establishment symbolisierende) Fam. Ammann im Vergleich zu den wirklichen Machthabern war, wird erst deutlich, wenn man bei Beatrice von Matt lesen kann, dass diverse real existierende Personen das Vorbild abgegeben haben für einige Romanfiguren. Es kommt da z.B. ein Instruktionsoffizier Waser vor, im Buch ein straffer, begeisternder, höchst sportlicher Mensch, natürlich ohne Klassenzugehörigkeit, freischwebend, der die Aspiranten wunderbar motivieren kann; völlig unpolitisch, nur für die Liebe zum Vaterland schwärmend. Dieser Waser ist ein Konterfei von Oberst Fritz Rieter, der tatsächlich Inglins Klassenlehrer in der Offiziersschule gewesen war. Der Leser hat keine Ahnung, wo dieser Waser-Rieter wohnt, sein Privatleben findet nicht statt; vielleicht wusste Inglin selbst auch nicht, dass die Villa Wesendonck samt Park, ungefähr die herrschaftlichste Residenz des damaligen Zürich, der überaus begüterten Familie Rieter gehörte (verglichen mit der Villa Wesendonck-Rieter ist die Villa Ammann eine Notwohnung). Rieter wirkte ausserdem als rechtsextremer Agitator. Vermutlich war Inglin in diesen Kreisen nie zum Tee geladen, durfte von dort herab nur Befehle entgegennehmen (dienstlicher Verkehr). Man musste aber schon blind sein oder dann die Realität bewusst verdrängen, wenn man nicht sehen wollte, welch gefährliche Agitation vom deutschtümelnden Fritz Rieter, der später Herausgeber der nazifreundlichen «Schweizer Monatshefte» geworden ist, schon 1914–18 entfaltet wurde.
Oder hat Inglin seinen ehemaligen Instruktor Waser-Rieter mit Absicht schonend beschrieben? Und ein bisschen freiwillige Geschichtsfälschung betrieben?
Noch einen andern ganz Bedeutenden hat Inglin als Oberinstruktor gekannt, den Schwager von Fritz Rieter, nämlich Wille II, Sohn des Generals, Hartmann trage Züge von Oberstkorpskommandant Wille, hat Inglin seiner Biographin Beatrice von Matt verraten. Auch hier wieder: Nur der dienstlich-offizielle Wille II kommt einigermassen wirklichkeitsgetreu vor, so wie ihn der Autor als harten, insgeheim bewunderten Offizier erlebt hat. Im Roman geht die Ehe Hartmanns auseinander, in der Wirklichkeit hätte sich Hartmann-Wille II von Ines Rieter, die ihn zum reichen Mann gemacht hat, schon aus finanziellen Gründen gar nicht trennen können.
Kantig, zackig, aber wiederum unpolitisch, dieser Hartmann. Nachdem er Inglin und seine Kameraden in der Offiziersschule dressiert hat, ist er nachher manchmal beim deutschen Konsul vorbeigegangen und hat ihm geheime Dokumente des schweizerischen Generalstabs ausgeliefert, in Tat und Wirklichkeit. Aber das konnte Inglin nicht wissen, und auch seine Rolle während des Landesstreiks war ihm verborgen geblieben (einer der grössten Scharfmacher: er verlangt bewaffnete Bürgerwehren). Später, während er am «Schweizerspiegel» arbeitete (1932), hätte Inglin allerdings der Presse entnehmen können, dass Wille II im Jahre 1923 Adolf Hitler in der Villa Schönberg bewirtet hatte, und sich vielleicht fragen müssen, wem er denn eigentlich als Aspirant im Jahre 1915 so pünktlich gehorcht hatte.
Armer Inglin! Lebt in einem rechtsextremen Wespennest, oder mitten im Auge des Hurrikans, hat die krasseste Wirklichkeit vor Augen, die grössten Potentaten, und die Machtverhältnisse werden ihm täglich unter die Nase gerieben, und was macht er daraus? Eine gemütliche Familie Ammann lässt er seinen Roman beherrschen. (Aber natürlich hätte er sein Buch nicht verkaufen können, wenn die wirklichen Verhältnisse im Mittelpunkt gestanden wären.) Ist es übertrieben, wenn man Inglin als literarische Landpomeranze bezeichnet?
Oberstkorpskommandant Wille, der unterdessen das Ausrottungsprogramm «Kinder der Landstrasse» präsidierte und erfolgreich für Hitler-Deutschland warb, hat den «Schweizerspiegel» sofort nach Erscheinen gelesen und dort drin sich selbst und die Armee so vorgefunden, wie er sie gern sah; und wird sich heimlich einen Schranz gelacht haben über den netten Inglin, dem die Hintergründe vernebelt blieben, und schrieb dem Dichter einen Brief:
«Meilen, 6. Jänner 1939. Sehr geehrter Herr Inglin, Ihr grossangelegtes Buch aus der Hand legend, fühle ich den Drang, Ihnen für das Werk zu danken, Sie dazu zu beglückwünschen. Der Spiegel der geschilderten Zeit ist für uns, die wir die Ereignisse erlebten, wertvoll, gleich wie für die nachkommenden Eidgenossen. Die Zeit und ihre geistigen Erscheinungen verdienen festgehalten zu werden. Sie haben mit grossem Ernst Ihre Soldatenerlebnisse – mir genau so in Erinnerung stehend wie Sie selbst als Aspirant Inglin – geschildert und mit gut eidgenössischer Gesinnung die politischen Ereignisse geschildert. Ihr Schweizerspiegel verdient weite Verbreitung im Schweizerland. Der Erfolg Ihres Buches wird ein grosser sein. Mit freudiger Erinnerung an Ihre Feldoffiziersschule und mit herzlichen Grüssen, Ulrich Wille, Oberstkorpskdt.»
Später ist Inglin dann von Prof. Emil Staiger kräftig gefördert worden; er hat ihm das Ehrendoktorat der Universität Zürich zu verdanken. Das war gut eidgenössische Literatur im Sinne dieses Germanisten, der noch 1942 auf einer Liste frontistischer Offiziere, welche die Zeitschrift DIE NATION veröffentlichte, figurierte (Staiger fühlte sich von dieser Feststellung nicht beleidigt, hat kein Dementi geschickt), bevor er dann 1967 die entartete Kunst in den Senkel stellte. Und dass Staiger noch während des Krieges Hitlers «Mein Kampf» ein bedeutendes Werk nannte, wie Hans Mayer sich erinnert, konnte Inglin vermutlich auch nicht wissen, und dass er für Fritz Rieters «Schweizer Monatshefte» einige von den literarischen Neuerscheinungen besprach, die in Nazideutschland publiziert wurden, war ihm vielleicht auch verborgen geblieben – wie so vieles andere, obwohl sie doch hin und wieder miteinander auf die Pirsch gegangen sind in der Gegend von Schwyz (Gemsen), der Professor und sein ländlicher Dichter.
Vom Heidi, seiner Reinheit und seinem Gebrauchswert
Heidi hat mir einen Vorgeschmack der Alpen und ihrer Reinheit gegeben, als ich kaum richtig lesen gelernt hatte, und da war ich etwa so alt wie der Geissenpeter, der seinerseits nicht lesen konnte, und die Alpen hatte ich damals noch nie gesehen. Das Buch war kartoniert, abgegriffen, die Illustrationen halfen der Phantasie, die durch das stockende Lesen eher angestachelt wurde, noch weiter auf den Sprung, so dass die Hügel, in welche meine ostschweizerische Vaterstadt eingebettet war, beim Lesen ins Unermessliche, Spitzige wuchsen und die kleine Schwester, die auf -i auslautete, aber leider, wie ich damals fand, nur Ursi und nicht Heidi hiess, durchaus bukolische Züge annahm. Ein Grossvater – Alpöhi! – war in der Familie leider nicht mehr vorrätig, aber die Grossmutter gab es noch, eine ausgesprochen gütige Person, die den Vergleich mit der Sesemannschen Grossmama nicht zu scheuen brauchte, so dass die reale Ahnfrau mit der geschilderten zu einem Inbild verschmolz. Die Grossmutter nannte man übrigens Grosi, so wie man den Taufpaten Götti nannte, während der Vater Vati hiess. Vati Grosi Götti Ursi Heidi – das Geschöpf der Johanna Spyri passte nahtlos in die Familie, zu der u.a. Chläusi, wie man den Schreibenden damals nannte, gehörte. Dieser begann denn auch bald, seine Schwester Ursi am Heidi zu messen, und obwohl die erstere mit ihren blonden Zapfenlocken einigermassen bezaubernd wirkte, fiel der Vergleich nicht zu ihren Gunsten aus, weil sie nämlich noch nie im Ausland gewesen war und ausserdem auch nichts von den Geissen und der Geissenmilch und dem Alpglühen zu erzählen wusste – in unserer Nachbarschaft gab es fast nur Schafe und Kühe. Wie dumm die Kühe doch waren, wie blöd die Schafe, verglichen mit den witzigen Ziegen (Schwänli & Bärli). Die unerlaubt brutalen, formlosen Kuhfladen, der unästhetische Schafdreck liessen bereits auf einen schlechten Charakter dieser Tiere schliessen, während die Geissen zierliche GEISSEBÖLLELI, wie man das im Dialekt nennt, hinterliessen, etwas Abgerundetes, fest Umgrenztes, sozusagen Schweizerisch-Sauberes, eine miniaturisierte Version der Rossbollen. Ursi muss schwer darunter gelitten haben, dass ich sie immer mit Heidi verglich, denn Heidi war damals realer und zugleich idealer als die leibhaftige Schwester, welche den Anforderungen, die der Bruder an sie stellte, nicht gewachsen war. Das wurde schon durch die Tatsache erhärtet, dass Ursi, obwohl vom Bruder mehrmals ermuntert, sich durchaus nicht dazu entschliessen konnte, als Nachtwandlerin das Haus zu verlassen, wie Heidi das mehrmals getan hat (in Frankfurt).
Auch das Heimweh habe ich dank Johanna Spyri trainiert, bevor ich es erlebte, Heidis Heimweh, ebenfalls den Hass, Heidis Hass auf Fräulein Rottenmeier, die fürchterliche, die ich ohne Federlesen hätte umbringen können. So wurden die Gefühle eingeübt, bevor sie noch ein wirkliches Objekt hatten. Trockenschwimmkurse. Als das wirkliche Heimweh dann zum ersten Mal kam, in den Ferien beim Götti, konnte ich auf Heidis Heimweh nach den Alpen – die ich, wie gesagt, noch nie gesehen und nach denen ich also kein Heimweh haben konnte – zurückgreifen. Es hatte mir vorgeweint, und ich musste nur in seine Fussstäpfchen treten, schon ging es mir beträchtlich besser. Mit dem Hass hingegen war es schwieriger, ein derart tiefes Gefühl, wie es Fräulein Rottenmeier provozierte, eine so durch und durch giftige, hassenswerte Person war lange Zeit weder in der Familie noch sonst im Bekanntenkreis aufzutreiben, und so blieb denn der Hass bis weit über die Primarschulzeit hinaus ein freischwebender, freischaffender, ein durch und durch rottenmeierisch geprägter, der sich seinen Gegenstand erst suchen musste und ihn dann relativ spät im Lateinlehrer fand, oder vielleicht hat die frühe Heidi-Lektüre diesen Nachtmahr recht eigentlich erschaffen, vielleicht war er in Wirklichkeit nicht so schlimm, hatte nur einige gouvernantenhafte Züge mit Frl. Rottenmeier gemeinsam, und die restlichen habe ich ihm dann grosszügig angedichtet, um den Prototyp namens Rottenmeier endlich in der Wirklichkeit erleben zu dürfen. Er hat mir die negativen Gefühle alsbald reichlich zurückerstattet, und so waren denn Johanna Spyri schliesslich die miserablen Lateinnoten zu verdanken, und der Familienrat beschloss, mich in eine alpine Lateinschule zu stecken und aus dem Dunstkreis jenes Lehrers zu entfernen, und wurde der Schreibende dann – was er Heidi nicht alles verdankt! – im bündnerischen Internat zu Disentis, wo es damals noch massenhaft Geissen gab, eingeweckt. Dort hat er fünf Jahre in einer Landschaft, die in den fünfziger Jahren noch fast so unschuldig war wie jene von Maienfeld, also die Heidi-Urlandschaft, inmitten von Bergen und Benediktinern leben dürfen, die Luft war würzig, die Gräslein auch, der klösterliche Studentenfrass weniger, und der gregorianische Choral vermischte sich mit dem Geissenglöckleingebimmel. Aber vom anmutigen Mädchen (Dialekt: Maitli) – nicht die Spur. Das ideale Heidi hätte jetzt ein wenig älter sein müssen als jenes im Buch, und den Blick auf ein solches konnte man nur in der Maiandacht erhaschen. Es war eine reine Männergesellschaft. Jedweder Verkehr mit dem andern Geschlecht war untersagt; das Träumen nicht. Unsere zölibatäre Phantasie blühte mindestens so stark wie die von Johanna Spyri, welche die Traumfigur des Heidi als alleinstehende, verwitwete Matrone geschaffen hat.
Später, Anfang der achtziger Jahre, hat mir Heidi, mein Heidi, jene archetypische, in das kalt-gigantische Deutschland verschlagene Unschuld, nochmals auf die Sprünge geholfen bzw. gute Dienste geleistet. Beim «Stern» – ich wurde, als einfacher Schweizer, einen Monat lang im hamburgischen Mutterhaus, im grossen Spital an der Alster, eingeweckt und mit dem Haus-Geist vertraut gemacht, bevor ich für kurze Zeit die Stelle eines Pariser Korrespondenten antrat – spielte ich mit einigem Erfolg das Heidi. Wie hätte man sich in jener Anstalt, die von zahlreichen Rottenmeiers, männlichen und weiblichen, bevölkert war, anders zur Wehr setzen können? Jenen Schlafwandler-Part brauchte ich allerdings nicht zu übernehmen, den spielten die Herren Chefredakteure Schmidt & Koch und der Vorstandsvorsitzende Schulte-Hillen, es war nämlich die Zeit der Inkubation der «Hitler-Tagebücher», aber sonst kam mir die Rolle zupass. Wenn man mit brummendem Schädel aus dem Konferenzsaal kam; wenn die Intrigen so üppig ins Kraut geschossen waren, dass niemand mehr den Durchblick hatte; wenn die Chefredakteure sich wieder einmal wie Offiziere gebärdeten und die Zeitung mit einer Kaserne verwechselten; wenn Herr Koch – (bzw. Fräulein Rottenmeier, also die Gouvernante) – «sehr aufrecht zur Musterung der Dinge durch das Zimmer ging, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht [= Herr Schmidt] herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöschen sei» (Johanna Spyri), und wenn der Schreibende partout NIKLAS oder NIKOLAUS genannt wurde, statt eben NIKLAUS, wie es bei ihm zu Hause Brauch war, und also sogar sein Name mutierte, HEIDI hatte man in Frankfurt zur ADELHEID machen wollen – dann konnte er seine Haut nur retten, indem er die Unschuld vom Lande spielte und in kitzligen Situationen immer wieder betonte: «Für Heidi ist das alles viel zu gross», wodurch er sich eine gewisse Narrenfreiheit sicherte und man ihn bald im Haus ganz allgemein «das Heidi» nannte. Fehlte nur die gutige Grossmama. Nannen kam für diese Rolle nicht in Betracht, obwohl eine gewisse Altersweichheit, um nicht zu sagen Alterserweichung, bei diesem schlohweissen Herrn sofort auffiel. Aber von den Bediensteten, den Dienstbotennaturen, Kutschernaturen im Stile der Spyrischen Johanns und Sebastians und Tinettes, war wirklich, so schien es dem Heidi, jede Menge vorhanden, so dass man sofort in die Lesebuchwelt der Kindheit zurückversetzt war und den harten Hamburger Monat, die, wenn ich so sagen darf, infantilisierende Atmosphäre auf dem Affenfelsen, fast unbeschadet überdauerte, mit dem lieben Buch im Gepäck.
Unterdessen habe ich Heidi leider anders lesen gelernt, seine Unschuld hat gelitten. Schuld daran ist Fredi Murer. In Zürich läuft nämlich jetzt, seit Herbst 1985, mit grossem Erfolg ein Film von Fredi Murer: «Höhenfeuer». Dieser Murer hatte vor Jahren einen Dokumentarfilm über die urnerische Bergwelt gemacht unter dem Titel «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind», wo vor allem die Arbeitswelt und die alte Kultur der Bergbauern gezeigt wird und also kein Zuschauer auf die Idee kam, einen Vergleich mit der Heidi-Welt zu ziehen, hatte doch Johanna Spyri das Geldverdienen, das Rackern und Malochen der Bergbauern, den Existenzkampf und die alten Riten völlig aus ihrer Idylle ausgeklammert: die Reinheit ihrer Figuren hätte unter einer hart dargestellten Wirklichkeit leiden können, der Absatz ihrer Bücher auch. In «Höhenfeuer», einem Spielfilm (erster Preis am Filmfestival von Locarno), lässt Murer nun in realistisch geschilderter Bergbauern-Familienatmosphäre zwei Geschwister auftreten, die mit den Eltern nicht zurechtkommen (während die Grosseltern – wieder eine gütige Grossmama! – positiv gezeichnet sind). Der Bub hat Sprachhemmungen, die Bergeinsamkeit hilft ihm nicht, seinen erwachenden Sexualtrieb in normale Bahnen zu lenken, die Eltern sind ziemlich verständnislos, das Mädchen ist dem Buben überlegen, hilft ihm beim Lesen- und Schreibenlernen, schliesslich gehen sie miteinander so hoch hinauf, bis es nicht mehr weitergeht, und lieben sich im Angesicht der Berge, in der freien Natur. Der Bub zeigt sich dem Vater gegenüber weiterhin störrisch, der Vater bedroht ihn mit dem Gewehr, die beiden raufen miteinander, ein Schuss geht los, es trifft den Vater, die Mutter trifft der Schlag, die beiden werden von den Geschwistern aufgebahrt und im Schnee begraben. Also eine Inzest-Geschichte, wie sie in der Bergeinsamkeit vorkommen mag, mit blutigem Ende. Das Zürcher Publikum hat die Geschichte plausibel gefunden, man hält so etwas durchaus für möglich, die Story könnte, so sagt Murer, selbst ein gebürtiger Urner und Kenner der Bergler, so oder ähnlich passieren, und dass sie nicht aus der Luft gegriffen ist, wird von etlichen Volkskundlern – Ethnologen? – bestätigt.
Es ist noch nicht lange her, da wurden vom Zürcher Publikum die Heidi-Filme begeistert und in aller Unschuld beklatscht, ein knorriger Alpöhi mit dem gluschtigen, anmächeligen Maitli allein in der Hütte, und was hat man sich dabei gedacht? So ein zutraulich Kind, so ein alleinstehender Mann, es webt die Sympathie ihre unsichtbaren Fäden zwischen den beiden, und ein bisschen wird man sich wohl noch streicheln dürfen, und das Kind sitzt am Abend doch sicher ein wenig auf den Knien des Alten, der einen prächtigen Kopf hat und in der Bergluft auch ganz munter geblieben ist? Und die würzige Luft trägt doch sicher auch das Ihrige bei? Gestreichelt ist schnell einmal. Der Alte ist vom Leben enttäuscht, so steht es bei Johanna Spyri, und da kommt das junge Blut quicklebendig auf ihn zu, da wird er doch wohl einmal streicheln dürfen, oder? Dass der Alte abartig, also z.B. ein Exhibitionist gewesen sei, wollen wir nicht annehmen, aber immerhin, die Situation ist verfänglich. (Ausserdem: Was einsame Sennen mit ihren Tieren treiben, ist manchmal auch im Tal bekannt geworden.) Es war doch wirklich so: «Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufschlug, kam ein goldner Schein durch das runde Loch hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draussen des Grossvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn, woher es gekommen war (…) und sich erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute wieder alles sehen könnte (…). Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenigen Minuten alles wieder angezogen, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig» (Johanna Spyri).
Da kann man sich wirklich fragen, wie wenig Johanna Spyri beim Erschaffen ihrer Geschöpfe und beim Schildern der Situationen sich gedacht hatte, wie wenig die viktorianisch empfindende Frau phantasieren durfte, oder doch, und wie viel sie ausklammerte. Und der Geissenpeter, der überall «pfeifen und rufen musste und seine Rute schwingen», war denn der ein Unschuldsengel? Keines zu jung, um Doktor zu spielen, und auf der Alp ist man unbeobachtet und vor Lehrern sicher und vor Strafe.
«‹Wo bist du schon wieder, Heidi?› rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme. ‹Da›, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemanden, denn Heidi sass am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen [sic!] besät war; da war die ganze Luft umher so mit Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zügen ein. ‹Komm nach›, rief der Peter wieder. ‹Du musst nicht über die Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten.› ‹Wo sind die Felsen?› fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht von der Stelle, denn der süsse Duft strömte mit jedem Hauch dem Kinde lieblicher entgegen. ‹Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben am höchsten sitzt der Raubvogel und krächzt.›» (Johanna Spyri)