Kitabı oku: «Sämmtliche Werke 4: Mirgorod»
Vorrede des Herausgebers
Die in diesem Bande vereinigten Erzählungen bilden die Fortsetzung der Novellensammlung „Abende auf dem Gutshofe bei Dikanka“, durch welche Gogols Name zuerst in der breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und die ihn sogleich an die Seite der ersten Schriftsteller Rußlands stellte. Es ist jedoch kein eigentlich gedanklicher Zusammenhang, der die beiden Novellenbände miteinander verbindet; sie bilden nicht etwa ein durch eine fortlaufende Handlung oder eine einheitliche Idee zusammengehaltenes Ganzes, sondern sind durchaus selbständig und voneinander unabhängig, so wie auch jede einzelne Novelle in ihrer Art ein in sich geschlossenes und für sich dastehendes Kunstwerk ist. Was Gogol trotzdem veranlaßte, die Novellen „Mirgorod“ als Fortsetzung des ersten Sammelbandes zu bezeichnen – das war der gemeinsame Schauplatz und der gemeinsame Charakter und Stil, der diese Novellen kennzeichnet. Es ist das Leben jenes eigenartigen kleinrussischen Volksstammes, aus dem Gogol selbst hervorgegangen ist, das durchgehend den Stoffkreis dieser Novellen bildet, und es ist jene seltsame Mischung von ungebundener Phantastik und derber Realistik, in der ihre stilistische Einheit liegt.
Gogols starkes schriftstellerisches Talent hat sich schon sehr früh angekündigt; schon während seiner Schulzeit bildete sich ein ausgesprochen parodistischer und karikaturistischer Hang bei ihm aus, der ihn bei seinen Kameraden und Mitschülern gefürchtet machte. Allein der Jüngling maß diesen Talenten keine ernstere Bedeutung bei, da sein hochfliegendes Streben eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte. Er wollte seinen Namen durch eine Großtat verewigen, und seinem Traume winkte kein geringeres Ziel, als die Reformation und Beglückung seines Vaterlandes und des ganzen Menschengeschlechtes. Der Staatsdienst erschien ihm als das einzige Feld, auf dem er seine ehrgeizigen Pläne verwirklichen konnte, und so trieb es ihn gleich nach Vollendung seiner Studien im Lyzeum zu Njeschin aus seiner kleinrussischen Heimat nach Petersburg, wo er einen seiner Begabung und seinen Fähigkeiten angemessenen Wirkungskreis zu finden hoffte. Doch schon die ersten Schritte auf dem schlüpfrigen Boden der Großstadt brachten ihm eine Enttäuschung. Er fand hier keineswegs die Beachtung, die seinem Talente entsprach und hatte mit schweren Entbehrungen und Nahrungssorgen zu kämpfen. In diese Zeit fällt sein erster literarischer Versuch, die Dichtung „Hans Küchelgarten“: ein Idyll im Stile von Johann Heinrich Voß mit einem starken Einschlag romantischer Stimmungen. Es schildert die Flucht eines schwärmerischen, für große Taten begeisterten Jünglings aus der Enge und Dumpfheit eines friedlichen provinziellen Daseins an der Seite der Geliebten, seine Irrfahrten und die Rückkehr des Enttäuschten in den Schoß der Familie. Doch dieser Erstling, auf den Gogol so große Hoffnungen gesetzt hatte, trug ihm keinen Erfolg ein und erfuhr von der Kritik eine entschiedene Ablehnung. Erbittert und verärgert kaufte der Dichter alle Exemplare von dem Verleger zurück, um sie für immer zu vernichten, und floh aus Petersburg, wo er so viele zerstörte Illusionen zurückließ, ins Ausland, um die häßlichen Eindrücke zu vergessen und als neuer Mensch ein neues Leben zu beginnen. Indessen auch dieser Versuch mißglückte. Gogol hielt es im Auslande nicht lange aus und kehrte schon nach einem Monat wieder nach Petersburg zurück, wo er als Beamter in das Apanagedepartement eintrat. Allein der Aufstieg auf der Leiter der Beamtenhierarchie vollzog sich viel zu langsam für den hochstrebenden Jüngling, auch stand die Tätigkeit, der er sich hier widmen mußte, in einem zu krassen Gegensatze zu jenem Ideal eines freien Wirkens im Dienste des Vaterlandes und der Menschheit, das ihm unablässig vorschwebte, und sein Beamtengehalt war viel zu klein, um ihm eine gesicherte Existenz zu gewähren. Da mochte ihm denn der Gedanke gekommen sein, sein schriftstellerisches Talent und seine Kenntniß Kleinrußlands zu verwerten, um sich die Mittel zum Leben zu erwerben. Er wollte das russische Publikum mit seiner Heimat und ihren Bewohnern bekannt machen, zumal sich gerade in jenen romantischen Zeiten ein besonderes Interesse für neuentdeckte Länder und Volksstämme bemerkbar machte. So entstanden die prachtvollen leben- und kraftstrotzenden Erzählungen: „Abende auf dem Gutshofe bei Dikanka“, durch die Gogol zum Entdecker einer völlig neuen, damals noch ganz unbekannten Welt wurde, und die seinen Namen mit einem Schlage berühmt machten. Diese Novellen zeigen Gogol sogleich auf der Höhe seines Könnens. Das sind wunderbare farbensatte Bilder kleinrussischen Volkslebens, vorzüglich der niederen Schichten, mit einer derben Realistik und naiven Sinnenfreude an der knorrigen Urkraft und der grellen Buntheit dieses Lebens gestaltet, und das Ganze ist in eine phantasievolle Märchensphäre hinaufgerückt, wo die Geschöpfe der Volkssage: die Nixen, Hexen, Wald- und Hausgeister humorvoll in das irdische Treiben hineinspielen. Gogols junger Dichterruhm brachte ihn bald in nähere Berührung mit den bedeutendsten Vertretern der russischen Dichterschule, vorzüglich mit Puschkin, der mit sicherem Blick sogleich die stärkste Seite an Gogols Talent, seine einzigartige Begabung für die Darstellung des Engen, Beschränkten, Gemeinen und Trivialen herausfand, und in ihm den Dichter des Alltags entdeckte. Von nun ab gewann Puschkin einen immer stärkeren und entscheidenderen Einfluß auf Gogols Schaffen. Diese Zeit geistiger Freundschaft und Gemeinschaft mit Puschkin ist zugleich die schönste und heiterste Epoche im Leben Gogols, denn Puschkin verstand es, die finsteren Schatten, die Gogols Seele schon damals bedrängten, und sie nachmals völlig in ihren Bannkreis zogen, zu verscheuchen; es ist zugleich die fruchtbarste Periode in Gogols dichterischem Schaffen, in der solche Meisterwerke, wie die ersten Kapitel der toten Seelen und der Revisor entstanden. Auch der Novellenzyklus Mirgorod gehört diesem Zeitabschnitt an. Die einzelnen Novellen dieser Sammlung sind unabhängig von einander entstanden, sie stehen, wie schon erwähnt, ganz selbständig da, und bedürfen zu ihrem Verständnis keineswegs der Kenntnis der vorhergehender Erzählungen; trotzdem aber geht etwas wie eine gemeinsame Idee oder doch eine Grundstimmung durch das Ganze, die das ästhetische Band dieser Novellen bildet. Das ewige Thema in Gogols Leben und Dichten kündigt sich hier zum ersten Male an: der furchtbare Kontrast zwischen dem, was für ihn Leben bedeutet: einem von einem beherrschenden Zweck erfüllten und durchdrungenen Streben, einer Beseelung der materiellen Daseinsäußerungen, ihre Erhebung zu einer geistigen Bedeutung, – und dem wirklichen Abbild des menschlichen Treibens, wie es sich uns in Wahrheit darbietet und das erdrückende Übergewicht in allem menschlichen Geschehen bildet. In dem ersten Teil des Mirgorod tritt dieses Motiv in einem stark abgetönten Gegensatz hervor. Die Erzählung „Gutsbesitzer aus der alten Zeit“ läßt es noch kaum merklich anklingen, und die kritische Stimmung tritt noch stark gegenüber dem Gefühl freundlicher Sympathie für die Helden dieser Novelle zurück. Mit mildem Humor und warmer Liebe zeichnet uns Gogol hier das Bild zweier alter Leute, die in zärtlicher Zuneigung verbunden, langsam dahinwelken. Ihre ganze Existenz wurzelt in den allerprimitivsten natürlichsten Lebensfunktionen und erhebt sich keinen Augenblick über das Niveau der gewöhnlichsten materiellen Bedürfnisse. Sie sind ganz Trieb, ganz Natur, alle geistigen Ansprüche liegen ihnen völlig fern, und das verleiht ihrer Existenz etwas Ganzes, Harmonisches, von keinem Mißklang Getrübtes. Ihre schlichte Einfalt und ihre natürliche Güte gewinnt unsere Herzen, dennoch aber erscheint uns dies Dasein mit all seiner ruhigen Heiterkeit und in dem Frieden, der über ihm ruht, arm und inhaltsleer, da es in seinem ewig gleichmäßigen Abfluß durch keinen Zweck und Sinn geadelt wird. So konnte es Gogol wohl reizen, das Gegenbild dieses Lebens aufzustellen, das trotz all den freundlichen Seiten, die er ihm abzugewinnen vermochte, doch nur ein Schatten des wahren Lebens war. Die Gegenwart konnte ihm nicht bieten, was er suchte, sie erschien ihm grau, öde und tot, und so flüchtete er in die Vergangenheit, in die er wie ein echter Romantiker sein Ideal verlegte, und die er mit der ganzen Farbenpracht einer verschwenderischen Phantasie ausstattete. Die Geschichte seiner Heimat hatte von jeher eine starke Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, und ihr entnahm er auch den Stoff zu seiner großen Heldendichtung „Taraß Bulba“. In der freien Ungebundenheit des Kosakentums, in dem großartigen Schwung dieses noch von keinen staatlichen Schranken beengten und durch die großen Kämpfe um Volkstum und Religion zu hoher Bedeutung emporgehobenen Lebens trat ihm eine neue Welt entgegen, in der er sich heimisch fühlte, und die den stärksten Kontrast zu der Monotonie des stumpfen Dahinvegetierens bildete, das ihn an der Gegenwart so sehr abstieß. Die eigentümlichen Verhältnisse des geschichtlichen Werdens hatten in der Tat in dem Kosakentum ein Volksgebilde von kraftvoller Eigenart und Ursprünglichkeit geschaffen. Die Not der Zeit, die Raubzüge der Tataren, die verheerend und verwüstend über Südrußland hinweggezogen waren, hatten eine Anzahl verwegener Männer zur Abwehr dieser Horden an den Ufern und auf den Inseln des Dnjepr zusammengeführt. Flüchtlinge, Räuber und Freibeuter aus aller Herren Länder stießen hinzu, und so bildete sich hier allmählich jener merkwürdige Freistaat der Saporoger Kosaken heraus, der bereits gegen Ende des XIV. Jahrhunderts eine imponierende, den benachbarten Polen und Tataren Schrecken einflößende kriegerische Macht repräsentierte. Das befestigte Hauptlager der Kosaken, die sogenannte Sjetsch, von dem aus sie ihre Feldzüge unternahmen, lag auf einer der Inseln des Dnjepr; sie hatten ihre eigene originelle Organisation und eigenartige Sitten und Gebräuche, über die sie mit Eifersucht wachten. Die höchste Bewegungsfreiheit paarte sich hier mit einem quellenden Tatendrang, der in den ständig drohenden Gefahren und in den kriegerischen Aktionen zum Schutze der angestammten Religion und des eigenen Volkstums eine willkommene Aufgabe fand und so das Entstehen mächtiger und starker Individualitäten begünstigte, die doch durch das gemeinsame Ziel zu einer festen Gemeinschaft zusammengeschlossen wurden. Den reichen Stoff, der hier vorlag, hat Gogol mit vollendeter Meisterschaft bewältigt. Hierbei sind ihm seine tiefen historischen Studien zustatten gekommen, die er einst mit der Absicht, eine Geschichte Kleinrußlands zu schreiben, unternommen hatte; allein die streng wissenschaftliche Darstellung war nicht die adäquate Form für seine geschichtlichen Forschungen. Erst in der Gestalt der Dichtung gewannen diese für ihn Leben und Realität. Indem sich Gogol dem freien Fluge der Einbildungskraft überließ, gab er uns in einer gewaltigen Anschauung ein getreueres, lebensvolleres Bild jener historischen Epoche, als dies je eine wissenschaftliche Rekonstruktion vermöchte. In „Taraß Bulba“ steigt ein entschwundenes Zeitalter leibhaftig vor uns auf. Wir lernen die Völker in ihrer nationalen Eigenart, in ihrem Hassen und Lieben kennen, wir erleben den Kampf der Religionen, die Gegensätze der feindlichen Stämme: der Russen und Polen, des Katholizismus und der Orthodoxie, die furchtbaren Leiden der Juden usw., und all diese einzelnen Züge vereinigen sich für uns zu einem großen historischen Gemälde und zu einem mächtigen Bardengesang auf das kleinrussische Volk. „Taraß Bulba“ ist neben den „Toten Seelen“ die stärkste Dichtung Gogols und zugleich einer der Gipfelpunkte der russischen Literatur.
In dem patriotischen Heldenlied der Taraß Bulba-Dichtung klingt der erste Teil von Mirgorod aus. Der zweite Teil führt uns durch das Grauen der Gespensternovelle Wij, die wieder an den Stil der Abende auf dem Gutshofe bei Dikanka anknüpft und uns alle Schrecken des Gespensterglaubens mit einer an die Realistik des Traumes gemahnenden Intensität erleben läßt, wieder in die Welt des Alltags und zur Erbärmlichkeit der Gegenwart zurück. Die köstliche Satire vom Streite Iwan Iwanowitschs und Iwan Nikiforowitschs bildet den äußersten Abstich gegen das großzügige Epos slawischen Lebens: den Taraß Bulba. Der Traum der Phantasie ist ausgeträumt, und die heroische Geste wird abgelöst durch die Grimasse. Die ganze Misere kleinstädtischen Daseins, der trostlose Stumpfsinn einer geistlosen, jeden ernsten Interessen entfremdeten Existenz erscheint hier in dem Zerrspiegel eines Humors, der nur ein Ausdruck für den Pessimismus des Dichters ist, welcher die Nichtigkeit und Fratzenhaftigkeit der Welt an dem Ideal freier Menschlichkeit mißt und seine Tränen hinter der Maske des Spottes und des Gelächters verbirgt.
Diese Erzählung, mit der der Novellenkreis Mirgorod schließt, leitet bereits zu dem neuen Stil Gogols hinüber, der seine vollkommenste Ausprägung in dem Roman „Die toten Seelen“ gefunden hat. Die kleine Erzählung „Die Equipage“, die wir dem Mirgorodzyklus als Anhang folgen lassen, stammt aus einer späteren Zeit, hängt jedoch in bezug auf ihren Charakter und ihre Grundidee eng mit dem letzteren zusammen.
Erster Teil
Gutsbesitzer aus der alten Zeit
Übersetzt von Charlotte König
Ich liebe es sehr, dies bescheidene Leben jener einsamen Bewohner entlegener Dörfer, die man in Kleinrußland gewöhnlich „Gutsbesitzer aus der alten Zeit“ nennt, und die uns gleich verwitterten malerischen Häuschen durch ihre schlichte Einfachheit anziehen. Der Reiz besteht in dem absoluten Gegensatz zu den neuen, sauberen Gebäuden, deren Mauern noch kein Regen verwaschen hat, deren Dächer kein grüner Schimmel bedeckt und deren vom Mörtel entblößte Fassade noch nicht ihre roten Ziegel hervorstreckt. Ich liebe es, mich mitunter auf Augenblicke in die Sphäre dieses ganz einsamen Lebens zu versenken: da schwingt sich kein Wunsch über den Zaun, der das kleine Gehöft umgibt, oder über die Hecke, die den mit Apfel- und Birnbäumen reich bestandenen Garten einschließt. Kein Verlangen reckt sich über die von Weiden, Holunder und Birnbäumen beschatteten, schiefen Hütten. Auch das Leben der Bewohner ist so still – so still daß man zeitweise sich selbst vergißt und glaubt, die Leidenschaften, die Begierden und die seltsamen Gelüste des bösen Geistes, die diese Welt beunruhigen, existierten gar nicht und wären nur Gesichte eines glänzenden, leuchtenden Traumes.
Es ist mir, als sähe ich es vor meinen Augen – das niedrige Häuschen mit der Galerie aus kleinen geschwärzten Holzstäben, die rund herum das Haus umgibt, damit man bei Regen und Hagel die Läden schließen kann, ohne selbst naß zu werden. Hinter ihr erhebt sich ein duftender Faulbaum und eine lange Reihe niedriger Obstbäume, die im Purpurrot der Kirschen und im saphirblauen Meer der mattbereiften Pflaumen ertrinken. Dort steht ein langgestreckter Ahorn, in dessen Schatten ein ausgebreiteter Teppich zur Ruhe einladet, vor dem Hause befindet sich ein geräumiger Hof, der von frischem kurzem Gras bedeckt ist, in welchem emsige Füße von dem Speicher bis zur Küche und von der Küche bis zu den Herrschaftszimmern einen schmalen Weg ausgetreten haben. Eine langhalsige Gans steht umringt von jungen, flaumigen Kücheln und trinkt Wasser; der Staketenzaun ist mit Bündeln von getrockneten Äpfeln, Birnen und Teppichen behängt, die hier ausgelüftet werden; eine Fuhre mit Melonen steht neben dem Speicher, und der ausgespannte Stier ruht träge daneben aus. Das alles hat für mich einen unerklärlichen Zauber, vielleicht weil ich es nun nicht mehr sehe und weil uns alles so teuer ist, von dem wir getrennt sind. Gleichviel warum, jedenfalls zog auch schon damals eine wunderbare angenehme Ruhe durch meine Seele, wenn sich mein Wagen dem Häuschen näherte; fröhlich trabten die Pferde auf die Freitreppe zu, und der Kutscher stieg behaglich vom Bock und zündete sich ein Pfeifchen an, als käme er zu sich nach Hause – ja selbst das Gebell, das die phlegmatischen, schwarzen und braunen Köter anstimmten, war meinen Ohren angenehm.
Am meisten aber gefielen mir die Besitzer dieser bescheidenen Nester, die alten Männer und Frauen, die einem geschäftig entgegenkamen und einen so freundlich begrüßten. Heut noch im Lärm und Trubel des Lebens, inmitten moderner Fräcke meine ich manchmal ihre Gesichter zu sehen: und im Halbschlummer steigt dann die Vergangenheit vor mir auf. In ihren Zügen liegt immer soviel Güte, soviel Treuherzigkeit und Herzensreinheit – daß man unwillkürlich, wenn auch nur für kurze Zeit, seine vermessenen Pläne und Absichten vergißt und unbewußt mit allen Fühlern in dies schlichte und idyllische Leben hinabtaucht. Bis heute kann ich zwei von diesen alten Leuten aus dem vorigen Jahrhundert nicht vergessen, die längst nicht mehr unter den Lebenden weilen: aber auch heut noch ist meine Seele von Trauer erfüllt, und mein Herz zieht sich bei dem Gedanken seltsam zusammen, daß ich wieder einmal an ihrer einstigen nun verödeten Wohnung vorbeikommen könnte, und dort, wo einst ihr niedriges Häuschen stand, nur einen Haufen verfallener Hütten, einen moosüberzogenen Teich, den verwilderten Garten finden könnte – und weiter nichts. Es wird einem so traurig dabei zumute! Wie traurig ist schon der bloße Gedanke daran. Aber wenden wir uns unserer Erzählung zu.
Afanassji Iwanowitsch Towstogub und Pulcheria Iwanowna „Towstogubicha“, (wie die Bauern aus der Umgegend sie zu nennen pflegten), so hießen jene alten Leute, von denen ich zu erzählen begonnen habe. Wenn ich ein Maler wäre und das Bild von Philemon und Baucis auf der Leinwand darstellen wollte: ich würde mir nie ein anderes Modell wählen, als diese beiden. Afanassji Iwanowitsch war 60 Jahre alt, Pulcheria Iwanowna 55. Afanassji Iwanowitsch war groß von Wuchs, trug beständig einen mit Kamelot überzogenen Schafpelz, saß gebeugt da und lächelte immer, sei es nun daß er selbst sprach und erzählte oder daß er einfach zuhörte. Pulcheria Iwanowna dagegen war stets ernst und lächelte fast nie: in ihren Zügen und in ihren Augen lag soviel Güte, und soviel Bereitwilligkeit, Sie mit dem Besten zu bewirten, was sie besaß, daß Sie ein Lächeln auf diesen guten Zügen sicher als süßlich empfunden hätten. Die feinen Runzeln auf ihren Gesichtern hatten etwas so Angenehmes und Liebenswürdiges, daß ein Maler sie sich sicher gemerkt und bei Gelegenheit verwertet hätte. Es schien als konnte man die ganze Geschichte ihres Lebens von ihnen ablesen: dieses lauteren, ruhigen Lebens, wie es die alten bodenständigen, braven und wohlhabenden Familien führen, die so sehr von jenen gewöhnlichen Kleinrussen abstechen, welche aus den Kreisen von Teerbrennern und Krämern hervorgehen. Diese erfüllen alle Staatsbehörden und Kanzleien wie die Heuschrecken, ziehen ihren eigenen Landsleuten die letzten Groschen aus der Tasche, überschwemmen Petersburg mit ihrem Klatsch, erwerben sich endlich ein Vermögen und hängen dann ihrem Familiennamen, der immer auf o endet, breitspurig noch ein w an. Nein, unsere alten Leute hatten keine Ähnlichkeit mit diesen verächtlichen, traurigen Geschöpfen, ebensowenig wie die wurzelechten kleinrussischen Familien. Man konnte nicht gleichgültig bleiben, wenn man sah, wie innig sie einander liebten; obwohl sie sich nicht duzten sondern sich stets mit Sie anredeten: Sie, Afanassji Iwanowitsch! Sie! Pulcheria Iwanowna!
„Afanassji Iwanowitsch, haben Sie den Stuhl durchgesessen?“
„Jawohl, Pulcheria Iwanowna, seien Sie mir deshalb nicht böse!“
Sie hatten nie Kinder gehabt, und daher konzentrierte sich all ihre Liebe aufeinander. Früher einmal, in seiner Jugend, hatte Afanassji Iwanowitsch gedient, und hatte es sogar bis zum Sekonde-Major gebracht – aber das war schon lange her und längst vorbei – Afanassji Iwanowitsch dachte selbst fast nie mehr an diese Zeit. Mit dreißig Jahren hatte er geheiratet; er war damals ein forscher Kerl, trug ein gesticktes Kamisol; und hatte es sogar sehr gescheit angefangen, Pulcheria Iwanowna zu entführen, deren Verwandte gegen die Heirat waren, aber auch dies schien seinem Gedächtnis entschwunden zu sein, jedenfalls sprach er nie davon. All diese längst vergangenen und außerordentlichen Ereignisse waren verdrängt durch das ruhige, einsame Leben, und verwischt durch jene einschläfernden und doch wieder harmonischen Träumereien, die Sie überfallen, wenn Sie auf der Veranda sitzen und in den Garten schauen, wo ein herrlicher Regen niedergeht; klatschend fällt er auf das Laub der Bäume nieder, läuft in rieselnden Bächlein ab und träufelt einen süßen Schlummer in Ihre Glieder: unterdessen aber steigt langsam ein Regenbogen hinter den Bäumen auf und leuchtet wie ein halbzerstörtes Tor in seinen blassen sieben Farben am Himmel auf, … oder wenn Sie sanft hin- und hergewiegt in Ihrem Wagen zwischen grünen Sträuchern hindurchfahren, wenn die Steppenwachtel schlägt, und duftendes Gras, Kornähren und Feldblumen durch die Türen Ihres Wagens dringen und Ihnen liebkosend Gesicht und Hände streicheln.
Er hörte seinen Gästen, die zu ihm zu Besuch kamen, immer freundlich lächelnd zu; manchmal sagte er auch selbst wohl ein Wort, aber größtenteils fragte er sie bloß aus. Er gehörte nicht zu jenen Greisen, die allen Leuten durch ihr unaufhörliches Preisen der alten Zeit und durch das Schmähen des Neuen lästig fallen: im Gegenteil, er erkundigte sich stets nach allem und zeigte großes Interesse und lebhafte Teilnahme für Ihre Lebensverhältnisse, Ihre Erfolge und Mißerfolge – gewöhnlich interessieren sich ja alle guten alten Leute dafür, obwohl ihre Teilnahme uns an die Neugierde eines Kindes erinnert, das mit Ihnen spricht und dabei eingehend das Zifferblatt Ihrer Uhr mustert. Man kann wohl sagen, daß sein Gesicht in solchen Augenblicken vor Güte strahlte.
Die Zimmer des Häuschens, in dem unsere Alten lebten, waren klein und niedrig, wie wir sie gewöhnlich bei Leuten aus der guten alten Zeit antreffen. Jede Stube war mit einem riesigen Ofen versehen, der fast den dritten Teil des Raumes einnahm. In diesen Zimmern war es immer furchtbar warm, weil Afanassji Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna beide die Wärme sehr liebten. Das gesamte Heizmaterial war im Flur aufgestapelt, der fast bis zur Decke mit Stroh angefüllt war, welches in Kleinrußland gewöhnlich statt des Holzes verwendet wird. Das Knistern und die Farbe des brennenden Strohs geben dem Flur an den Winterabenden etwas besonders Anziehendes, wenn die ausgelassene Jugend, die wohl draußen einer braunen Schönen nachjagte, plötzlich ganz erfroren hereinstürmt und sich lachend die Hände wärmt. Die Zimmerwände waren mit Bildern und Bildchen in alten, schmalen Rahmen geschmückt: ich bin überzeugt, daß die Sujets dieser Bilder selbst von den Wirten längst vergessen waren, und wenn man ein paar davon entfernt hätte, wäre es den Alten sicherlich nicht aufgefallen. Zwei dieser Bilder waren größer und in Öl gemalt: das eine stellte einen Bischof dar, das andre Peter III. Aus einem schmalen Rahmen blickte das ganz von Fliegen beschmutzte Gesicht der Herzogin von La Vallière hervor. Um die Fensterrahmen herum und über den Türen hing eine Menge kleinerer Bilder, die man unwillkürlich für Flecke an der Wand hält und daher nicht näher betrachtet. Der Fußboden bestand fast in allen Zimmern aus Lehm; aber er war so schön gepflegt und so sauber gehalten, wie kaum ein Parkett in einem vornehmen Hause, welches von faulen, schläfrigen Livreedienern gefegt wird.
Pulcheria Iwanownas Zimmer war ganz mit Kisten und Kasten, Kistchen und Kästchen verstellt. An den Wänden hingen unzählige Bündelchen und Säckchen mit Blumen-, Gemüse- und Wassermelonensamen. In den Ecken standen mehrere Koffer; in diesen und zwischen diesen wurden viele Knäule buntfarbiger Wolle, sowie Stoffreste von altmodischen Kleidern, die vor einem halben Jahrhundert genäht waren, aufbewahrt. Pulcheria Iwanowna war eine sorgsame Hausfrau und hob alles auf, obschon sie selbst nicht wußte, warum.
Aber das allerbemerkenswerteste im Hause waren die singenden Türen. Sobald der Morgen graute, hörte man den Gesang der Türen durchs ganze Haus erschallen. Ich weiß nicht, warum sie eigentlich sangen. Vielleicht waren die verrosteten Angeln schuld daran, vielleicht aber hatte auch der Mechaniker, der sie gebaut, ein Geheimnis in sie hineingelegt. Was jedoch am meisten auffiel war dies, daß jede Tür ihre eigene Stimme hatte. Die Schlafzimmertür sang im höchsten Sopran, die des Speisezimmers krächzte im Baß, dafür gab die Flurtür einen ganz seltsamen, dröhnenden und ächzenden Laut von sich, so daß man bei längerem Hinhören deutlich die Worte „Väterchen, mich friert!“ zu vernehmen glaubte. Ich weiß wohl, daß vielen dieses Geräusch nicht gefällt, aber ich liebe es sehr, und wenn ich es zufällig höre, steigt sofort das Dorf vor meinem Geiste auf: das niedrige, nur schwach vom Licht altmodischer Leuchter erhellte Zimmerchen, der Tisch mit dem Abendessen, die dunkle Mainacht, die durch das geöffnete Fenster über den gedeckten Tisch fällt, die Nachtigall, welche Garten und Haus und den Fluß in der Ferne mit ihrem Gesang erfüllt, das Raunen und Flüstern der Zweige … Herrgott, welch eine unabsehbare Kette von Erinnerungen zieht dann an mir vorüber!
Die hölzernen Stühle im Zimmer waren, wie das in der alten Zeit üblich war, alle massiv; sie hatten hohe, geschnitzte Lehnen, in der Naturfarbe, ohne Lack und Anstrich; ja sie waren nicht einmal mit Stoff bezogen und erinnerten einigermaßen an die Stühle, auf welchen auch in unserer Zeit noch die Bischöfe zu sitzen pflegen. In den Ecken standen dreieckige und vor dem Sopha und dem Spiegel mit dem schmalen, goldenen Rahmen – dessen geschnitzte Blätter die Fliegen mit schwarzen Punkten übersät hatten – viereckige Tische; vor dem Sopha war ein Teppich mit Vögeln, die wie Blumen, und mit Blumen, die wie Vögel aussahen, ausgebreitet; das war so ziemlich die gesamte Ausstattung des anspruchslosen Häuschens, in dem unsere alten Leutchen lebten.
Das Mädchenzimmer war von jungen und alten Mädchen in gestreiften Leinwandröcken erfüllt; dann und wann gab Pulcheria Iwanowna ihnen etwas zu nähen, oder sie ließ sie Beeren aussuchen, gewöhnlich aber liefen sie in der Küche umher, oder sie schliefen. Pulcheria Iwanowna hielt es für nötig, sie im Hause zu halten und wachte streng über ihr Betragen; aber zu ihrem großen Erstaunen verging kaum ein Monat, ohne daß der Umfang des einen oder des andern Mädchens in ganz ungewöhnlicher Weise zunahm. Dies war um so merkwürdiger, als es im ganzen Hause keinen Junggesellen gab, ausgenommen den Zimmerburschen, der barfuß, in einem kurzen grauen Frack umherlief und entweder aß, oder wenn er nicht damit beschäftigt war, ganz sicher schlief. Pulcheria Iwanowna schalt die Schuldige gewöhnlich aus und bestrafte sie streng, um in Zukunft einem Wiederholungsfall vorzubeugen. An den Scheiben der Fenster summten unzählige Fliegen, übertönt von dem tiefen Baß einer Hummel, der mitunter noch von dem grellen Summen der Wespen unterstützt wurde; sobald man jedoch ein Licht hineintrug, suchte die ganze Gesellschaft ihr Nachtlager auf, und eine schwarze Wolke bedeckte die ganze Zimmerdecke.
Afanassji Iwanowitsch kümmerte sich sehr wenig um die Wirtschaft, obgleich er manchmal zu den Mähern und Schnittern hinausfuhr und dann ohne Unterlaß zusehen konnte, wie sie arbeiteten; die ganze Last der Verwaltung lag auf den Schultern Pulcheria Iwanownas. Die wirtschaftliche Leitung Pulcheria Iwanownas bestand in einem unablässigen Öffnen und Schließen der Vorratskammern und im Salzen, Trocknen und Einkochen einer unzähligen Menge von Früchten und Gemüsen. Ihr Reich sah auf ein Haar einem chemischen Laboratorium ähnlich. Unter dem Apfelbaum flackerte beständig ein Feuer und der Kessel oder das Kupferbecken standen fast immer auf dem eisernen Dreifuß: dort kochte sie ihr Eingemachtes, ihre Gelées und Marmeladen aus Honig, Zucker und weiß Gott woraus sonst noch. Unter dem andern Baum vor einem kupfernen Kessel stand der Kutscher, der beständig Spiritus auf Pfirsichblätter – Faulbaumblüten – Tausendgüldenkraut – Kirschkerne usw. destillierte. Am Schluß dieses Verfahrens war er natürlich nie imstande ein vernünftiges Wort zu reden, sprach einen solchen Unsinn zusammen, daß Pulcheria Iwanowna nichts verstehen konnte, und ging endlich in die Küche, um sich schlafen zu legen. Von all diesem unnützen Zeug wurde so unendlich viel gekocht, getrocknet, eingesalzen usw., daß es wahrscheinlich den ganzen Hof überschwemmt hätte (Pulcheria Iwanowna liebte es, sich über ihren Bedarf hinaus noch einen Reservevorrat anzulegen; wenn nur nicht die größere Hälfte all dieser schönen Dinge von den Dienstmädchen verzehrt worden wäre. Sie schlichen sich in die Vorratskammern und aßen sich dort so voll, daß sie danach den ganzen Tag lang stöhnten und über Leibweh klagten.)
In den Ackerbau und die andern wirtschaftlichen Ressorts hatte Pulcheria Iwanowna nur einen geringen Einblick. Der Verwalter und der Dorfälteste bestahlen sie gemeinsam ganz unbarmherzig. Diese beiden hatten die Gewohnheit angenommen, im herrschaftlichen Walde ganz wie in ihrem eigenen zu schalten: sie ließen eine Menge von Schlitten herstellen und verkauften sie dann auf dem nächsten Markte; außerdem verkauften sie den benachbarten Kosaken, welche Balken für ihre Mühlen brauchten, die dicken Eichenstämme. Einmal wollte Pulcheria Iwanowna ihren Wald inspizieren. Es wurde auch eine Kutsche mit einer riesigen Schutzdecke angespannt, als jedoch der Kutscher die Leinen anzog und die Pferde, die noch in der Miliz gedient hatten, davontrabten, da erfüllte die Kutsche die Luft mit ganz merkwürdigen Tönen, sodaß man plötzlich Flöten, Schellen und Trommeln zu hören glaubte: jeder Nagel, jede eiserne Klammer stöhnte so laut, daß man es sogar bei den über zwei Werst entfernten Mühlen hören konnte, wie die Herrschaften ausfuhren. Die furchtbare Verwüstung im Walde konnte Pulcheria Iwanowna natürlich nicht entgehen: sie sah daß viele Eichen fehlten, die ihr schon in ihrer Jugend als hundertjährige Bäume bekannt gewesen waren. Sie wandte sich daher an den anwesenden Verwalter, und fragte: „Nitschipor, wie kommt es, daß so wenig Eichen da sind? Paß mal auf, daß dir die Haare auf deinem Kopf nicht ausgehen!“