Kitabı oku: «REISE OHNE ZIEL»

Yazı tipi:

Nina Heick

REISE OHNE ZIEL

Wo bin ich? Wo will ich hin?

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

PROLOG

Aus Sicht der Selbstbeobachterin

Einer dieser Arschlochtage ...

Der Dominoeffekt

Auf der Anklagebank

Knappe Stellungnahme gefällig?

Back to myself

Adieu, mein Freund und Bruder

I luv u, Mom!

Schwafeleien und Machogehabe

Ausnahmezustand

Prostitution und Drogen

Übergriffe

Drama, Baby, Drama ...

Ein stetes Auf und Ab

Im Nimmerland

Meine Klientin Rawina

Bleiben oder gehen?

Letzte Schicht

Eifer sucht, was Leiden schafft

Der kleine Prinz

Die Erinnerung stirbt nicht

War das schon immer so?

Warnsignal

Viva Italia

Der Geigenspieler

Unsafe love

Fehlinterpretation

Auf wackeligen Beinen

Hobby: Partymaus

Durchgekautes

Verlassene, einsame Kinder

Festgenagelt

Romeo und Julia

Glücksmomente

Kleingeschnittene Träume

Schicksal und Fügung

Egotrip

Alles geben

Nie mehr ohne dich

Wie das Leben spielt

Ein dreiviertel Jahr später

First Dates

Muddis Liebling

Wankelmut

Seien wir mal ehrlich ...

Rätselhaft

Das Erwachen

Blitz und Donner

Diagnose: Auf dem Weg der Besserung

Click „stop“ and „play“

Besuch ausʼm Jenseits

Pinocchio

Brillanz der Dominanz

Auf zu neuen Ufern

Ebbe und Flut

’ne Spur einfacher, bidde!

Wo will ich hin?

Absurdität

Keimphobie, Scarlett Johansson, Schampus

Sex, Sex und nochmals Sex!

Sildefanil vs. Viagra

Flitterwochen

Zuckerbrot und Peitsche

Schreibblockade

Borderline-Desaster

Abwärtsspirale

Secretly Troublemaker

Schwanz einziehen is’ nich’!

Flashback – verlaufen im eigenen Kopp

Happy End?

Mir war so ...

Schwenkt mal einer die weiße Fahne?

Countdown

Last time(s)

Resümee

NACHWORT

Personen aus „ZWEI HERZEN“

Impressum neobooks

Zu diesem Buch

Bei diesem Buch handelt es sich um die Fortsetzung des Romans „ZWEI HERZEN Wer bin ich? Wer will ich sein?“. Für diejenigen, die mein erstes Werk noch nicht kennen, möchte ich kurz den Inhalt wiedergeben: Mit vierundzwanzig begann die Protagonistin Victoria, auch Vici genannt, kontinuierlich ihre Gedanken, Gefühle und Alltagserlebnisse aufzuschreiben. Auf der Suche nach sich selbst ging Vici zu den Anfängen zurück. Zu ihrer Mutter Christina, die sie im Alter von eineinhalb Jahren verlassen hatte. Zu ihrem liebevollen, aber alkoholkranken Vater Lenn, der sie verwahrlosen ließ, weshalb sie mit fünf in ein Kinderheim kam. Und zu ihren Adoptiveltern: der zärtlichen Susi, der sie vom ersten Moment an vertraute, und dem eher kühlen, rationalen Klaas. Unter dem Gefühl leidend, sich für dessen Zuneigung verbiegen zu müssen, rebellierte sie nach außen hin, was sie allerdings gegen sich selbst zerstörerisch werden ließ. Als Erwachsene sagte sie den Depressionen, Essstörungen und Selbstverletzungen dann den Kampf an – zunächst mit ihrem Freund Sven an der Seite. Doch je mehr sie an Stärke, Orientierung und Lebensmut gewann, desto eifersüchtiger und kontrollierender wurde ihr Partner. Gefangen in der Angst, ihn zu verlieren, schlitterte Vici in Abhängigkeit zu ihm und bemerkte erst zu spät, dass sie Herz und Freiheit bereits verloren hatte. Nach aufreibendem Hin und Her trennte sie sich von Sven, holte das Fachabitur nach und erhielt einen Studienplatz an der Hochschule für Soziale Arbeit. In „REISE OHNE ZIEL Wo bin ich? Wo will ich hin?“ ist Vici inzwischen achtundzwanzig und nicht weit vom Ende des zweiten Semesters entfernt. Sie absolviert ein Praktikum in einer Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose und wird, obwohl es ihr dort gefällt, wieder von ihren psychischen Krankheiten, Triggern und unermesslichen Sorgen eingeholt – begünstigt durch die vielen Phasen des Leerlaufs und der Langeweile. Die Ursachen für ihre Labilität, wegen der sie erneut eine Therapie hat anfangen müssen, sind aber noch ganz andere. Zum Beispiel die Erinnerungen an den Tod ihres Halbbruders Lukas und vor allem das Mobbing an der Uni, das ihre restliche Studienzeit mit einem Schlag kolossal verändern wird. Weil es ihr in der Obdachloseneinrichtung an Struktur und Varianz fehlt, wechselt Vici in die Arbeit mit drogengebrauchenden Prostituierten. Parallel dazu beendet sie die Partnerschaft mit Paschi, dessen Machogehabe ihr mächtig auf die Nerven geht. Immer in der Sehnsucht nach Stabilität und Geborgenheit beginnt sie innerhalb der nächsten drei Jahre neue Beziehungen, die jedoch alle kompliziert sind und in denen sie alten Mustern verfällt, die sie an die Wunden ihrer Vergangenheit erinnern. Das Gefühl des Nie-satt-Seins bleibt. Zwischen Annahme und Abwehr ringt Vici um ihre Selbstbehauptung und erlernt zunehmend Abgrenzungs- und Bewältigungsstrategien. Nach einer Vielzahl von Enttäuschungen entscheidet sie sich zeitweilig für das für sie schwer erträgliche Alleinsein und schafft den Start ins holprige Berufsleben. Schließlich beweist Vici in der Ambulanten Sozialpsychiatrie Engagement und Ausdauer. Dort lernt sie den euphorischen, zugleich unnahbaren Liam kennen, der wie sie zwar alles andere als einfach ist, letzten Endes aber gewillt zu sein scheint, mit ihr gemeinsam aus selbstschädigenden Verhaltenssystemen auszubrechen. Victorias Geschichte spielt heute, im Zeitalter der Digitalisierung. Sie zeigt, wie eine zerrüttete Kindheit das Leben langfristig prägt, wie familiäre Haltlosigkeit und fehlende Sicherheit die eigene Existenz, das Selbstwertgefühl und Führen von Beziehungen beeinflussen. In ihren tagebuchähnlichen Aufzeichnungen setzt Vici sich mit psychologischer Selbstanalyse auseinander. Sie beschreibt und reflektiert ihr Verhalten – mal leidenschaftlich, verletzt, verliebt, wütend oder poetisch; mal sachlich distanziert, fast kalt, wobei ihre Stimmung von einem zum nächsten Augenblick ins Gegenteil umschlagen kann. Auf diese Weise werden tiefe Einblicke in Vicis sehr sensibles Wesen gewährt – bedrückend, erschreckend, schonungslos ehrlich. Aber auch kritisch, sarkastisch und schlagfertig. Daher bietet die Art, wie sie erzählt, viel Raum für die Sprache des Herzens. Es braucht Mut und Bereitschaft, sich auf Vici einzulassen und in ihre Welt einzutauchen. Mit meinen Romanen möchte ich meinen Lesern und Leserinnen insbesondere die Erkrankungen „Depression“ und „Bulimie“ sowie ein paar wenige Symptome der „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung“ näherbringen. Diese können sich je nach Typus (Impulsiv oder Borderline) unter anderem in Wutausbrüchen, Risikoverhalten, negativem Selbstbild, idealisierten, zumeist intensiven, oft jedoch unbeständigen und/oder abgewerteten Bindungen ausdrücken. Außerdem möchte ich Menschen mit diesen Diagnosen ermutigen, der eigenen Wahrheit zu begegnen und Illusionen, die der Verdrängung dienen, aufzudecken. In meinen Werken gibt es keinen roten Faden im klassischen Sinne oder ein Happy End à la Hollywood. Mir ist wichtig zu veranschaulichen, dass es die kleinen Fortschritte und Erkenntnisse sind, die uns eines Tages hoffentlich bei uns selbst ankommen und uns sagen lassen: Ja, ich habe gelebt und es war gut, wie es war.

Widmung

Dieses Buch widme ich meinem inneren Kind.

Und all jenen, die ich liebte und immer noch liebe.

Besten Dank an Andree, dessen literarische

Fähigkeiten zu kleinen Teilen in meinen Schriften

einfließen dürfen. Danke auch an meine Lektorin

sowie Susann B., die mein halbes Leben begleitet.

Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin,der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades.Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen;jeder strebt dennoch, es zu werden ...(Hermann Hesse, „Demian“)

PROLOG

Losgelöst Wehmütig stehe ich hier und schau’ in die Schlucht, Spring ich, spring ich nicht? Du sagst, es sei Flucht. Aber was ist Flucht für dich? Ein Ausweg, wenn man nicht weiß wohin, Hab mich gesucht und dich gefunden – weiß nicht, wer ich bin. Probiert anzukommen, verlaufen, verirrt – wo ist mein Ziel? Hoffnung und Zuversicht, als ich mich hingab, dir verfiel. Du nahmst meine Hand und führtest mich – ich folgte deinen Schritten, Glücklich, unbeschwert tanzte ich mit und hab letztlich doch gelitten. Zu gefährlich nah erschien mir deine Wärme auf der Haut, Wurdest mir fremd, schienst plötzlich fern, zugleich vertraut. In meinen Gedanken betrachte ich dein unsicheres Gesicht, Das verzerrte, flehende Lächeln, das Angst verspricht. Deine Intuition sagt, sobald ich falle, kehr ich nicht zurück, Innere Leere, Handeln nach Gefühl – wir haben kein Glück. Zwei sich einst Liebende, deren Wege sich nur kreuzen konnten, Trotz gleicher Wünsche, sich in gemeinsamer Zukunft zu sonnen. Für mich und uns ist’s das Richtige; für dich ist’s falsch und intrigant, Dabei versuchte ich dich zu schützen, hab Zweifel beim Namen genannt. Eines Tages wirst du verstehen, dass es mir die Freiheit raubte, Ich wollte kämpfen, da ich an dich und unsere Liebe glaubte, Aber konnte nicht weiterlaufen, weil die Luft zum Atmen fehlte, Für mich in diesem Augenblick nichts als Unabhängigkeit zählte. Meine Füße schafften nicht, uns beide zu tragen, Mir wurde kalt, obwohl wir beieinanderlagen. Du hast mich gewärmt, deinen Körper fest an meinen gedrückt, Was ich zuvor mochte, wurde zur Qual – ist das nicht verrückt? Zurückgewiesen – mich selbst nicht verstanden, Tränen geweint, Jeden deiner Versuche nach Nähe und Zuwendung verneint. Nun stehst du mir gegenüber – wütend, hassend, verachtend, Über jede Entschuldigung und Erklärung verbittert lachend. Nein, ich kann dir nicht sagen, was in mir vorgeht, weiß es nicht. Aber sicher ist: Am Ende des Tunnels findet sich ein Licht. Dieses Licht, das wünsch ich mir für dich aus tiefstem Herzen, Das Letzte, was ich vermochte – deine Seele schmerzen. Finde den Menschen, der deinen Kopf auf seine Brust legt, Dich in seine Welt führt und dir zeigt, was ihn bewegt. Für mich ist’s der Weg zu mir selbst – erst frei und dann gebunden, Den Sinn, eine einzigartige Liebe zu finden, hab ich nicht gefunden. Lauf du – unbeirrt und selbstsicher, immer mit dem Blick nach vorn, Gib dich nicht auf, für nichts und niemanden, sonst bist du verlor’n. Vertraue dem Schicksal, die Zeit wird’s entscheiden, Für dich und mich – hoffentlich eine Liebe ohne Leiden.

Aus Sicht der Selbstbeobachterin

Damals Ich betrachte diese schlanke, fast zu schlanke, zwanzigjährige Frau. Wir stehen erst seit kurzer Zeit in engerem Kontakt zueinander, aber sie ist mir bereits seit Langem bekannt. Ich kann nicht behaupten, sie gut zu kennen. Ich weiß viel über sie, ihre Erfahrungen, ihr Leben ... Jedoch weiß ich nicht, wer sie wirklich ist. Sie wirkt geheimnisvoll, distanziert. Es fasziniert mich, dass sie so offen über sich selbst sprechen kann, gleichzeitig undurchschaubar zu sein scheint. Sie teilt ihre Gedanken mit. Emotionslos – als spreche sie über eine andere, nicht die eigene Person. Als lebe sie in einer fremden Welt, in ihrer Welt, in die niemand eindringen darf. Wie hinter einer verschlossenen Tür, die sich nicht öffnen lässt, weil der Schlüssel fehlt. Verschollen – für niemanden erreichbar. Ich beobachte diese Frau sehr häufig und frage mich, wer oder was sie so gekränkt hat, dass sie ihre Gefühle verbergen muss. Wo ist die Traurigkeit in ihrem Blick? Wo finde ich diese eine Träne, auf die ich warte, wenn schon ich bei ihren Erzählungen den Tränen nahe bin? Und was sind das für rote, vernarbte Striemen auf ihren Unterarmen? Sie ist beliebt. Hat einen großen Freundeskreis. Wird begehrt – von Männern und von Frauen. Auf Partys steht sie oft im Mittelpunkt – ohne es zu beabsichtigen. Sie ruht in sich – die Augen geschlossen, ihre herausstechenden Hüften im Einklang mit der Musik. Wenn sie dann die geschwollenen Lider öffnet, ist’s, als erwache sie aus einem Traum und lande zurück in der Realität. Enttäuschung. Genervt von den Kerlen, die sich schmachtend nach ihr verzehren. Als habe sie genug von der Masse – der Banalität und Oberflächlichkeit, die den meisten Menschen innewohnt. Manchmal spielt sie eine Rolle. Insbesondere wenn sie getrunken hat. Dann verhält sie sich plötzlich laut, auffällig und provokant. Verdrängung, Show nehme ich an. Keiner darf erahnen, was in ihr vorgeht. Kummer. Sie hasst es, gefragt zu werden. Je stärker sie sich gibt, desto schwächer wird sie. Verletzlich. Ich glaube, dass sie nicht allein sein kann. Zumindest fällt es ihr schwer, allein zu sein. Sie mag’s, Leute um sich zu haben, sofern es ihr gelingt, sich dabei unsichtbar zu machen. Sie beobachtet – genau wie ich. Interessiert sich, ignoriert nicht. Aber sie würde gern weniger sehen, einfach blind durchs Leben laufen. Mal fünf gerade sein lassen. Sich um nichts und niemanden sorgen. Sie hört mir aufmerksam zu. Ernst. Sehr ernst. Es bewegt sie zwar, was ich von mir erzähle, aber es berührt sie nicht. Verbirgt sich Kälte dahinter? Oder Schutz? Kälte, um sich zu schützen? Wann und wodurch trifft man sie? Gibt es einen Punkt, an dem sie ausbricht? Zerbricht? Welche Situationen oder Schicksalsschläge verbindet sie mit sich selbst und ihrer Vergangenheit? Was macht sie weich, lässt hinter die Fassade blicken? Ich weiß nicht, ob ich’s jemals herausfinden werde. Ob es überhaupt jemand schaffen kann. Und was nötig ist, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Gespräche allein sind es nicht ...

Einer dieser Arschlochtage ...

15. September 2015 ... So ein Tag, an dem in mir langsam eine Zündschnur abbrennt und ich darauf warte, dass die Bombe explodiert. Wenn sie’s doch nur täte ... Stattdessen implodiert sie in meinem Körper. Dumpf, lautlos, ohne Beben, ohne Aufmerksamkeit zu erwecken. Dieses trockene Schlucken, das aufgesetzte Lächeln, die unterdrückten Tränen. Es war kaum auszuhalten, meinen Kollegen gegenüber freundlich und höflich zu bleiben, während sich mein Magen vor Schmerzen zusammenzog, die Galle hoch zum Hals stieg und ich mich selbst auf allen vieren visualisierte – erschöpft vorankriechend, mit den Zähnen knirschend ... Die Stunden und Gespräche fanden und fanden kein Ende. Das Gerede sprengte meinen Schädel, Nacken und Kiefer verspannten sich. Zu gern hätte ich geschrien, sie sollen aufhören, mich mit ihrem Gefasel zu belagern und mit ihren fröhlichen Fratzen anzustarren. Ungeduldig glotzte ich zwischen Uhr und Ausgang abwechselnd hin und her. Ich fragte zweimal, ob es noch etwas zu tun gebe, aber alle Aufgaben waren erledigt. Warum durfte ich dann nicht gehen? Wozu diese freizeitliche Unterhaltung, wo ich nichts mehr ersehnte, als endlich erlöst und allein zu sein? Ich weinte unkontrolliert in mich hinein. Nur meine Lippen funktionierten. Formten die Mundwinkel weiterhin nach oben und täuschten so eine perfekte Sonnenfassade vor. Ich versuchte, den Auslöser für diesen Ausbruch zu finden. Vielleicht hatte es gestern angefangen, weil ich wieder nicht umhingekommen war, meiner altbekannten Gewohnheit den Rücken zuzukehren. Triumphierend schwamm das Ausgekotzte in der Kloschüssel und bejubelte meine Niederlage, als ich enttäuscht und verbittert die Spülung betätigte. Die Vorwürfe gegen mich beherrschten Träume und Gedanken, hielten bis heut’ früh an, verschlugen mir die Sprache, katapultierten meine Stimmung in eine leere, dunkle Schlucht. Inzwischen verspüre ich Scham. Ich werfe mir nun nicht mehr nur den Rückfall, sondern meine ganze Persönlichkeit vor. So zu sein, wie ich bin. So zu handeln, wie ich’s tue. Ich verurteile mich für die mir fehlende Gelassenheit und Souveränität, für meine Rebellion, für meinen Pessimismus, für meine Dickköpfigkeit, für meine unnötigen Emotionsschwankungen, für meinen Wunsch aufzugeben, was mir nicht passt, und dafür, dass ich schöne Dinge und nette Menschen schwarzmale, sobald ich meine eigene Unzulänglichkeit nicht mehr ertrage. Dann sind alle für die äußeren Zustände, die mir missfallen, verantwortlich. Doch eigentlich bin ich diejenige, die dafür geradestehen sollte, aber Groll auf sich selber hat. Da ich nicht in der Lage bin, mich anzupassen, und jeder Abweichung von meinen Ritualen den Krieg erkläre. Ich führe Regie in einem Theaterstück, bringe die Dramatik in eine Komödie, die schließlich in einer Tragödie endet. Obwohl mir das Praktikum, das ich seit zwei Wochen mache, liegt und gefällt, übersäen die Probleme meinen Weg mit tausend Glasscherben, an denen ich mir die Füße blutig laufe. Es ist, als würden mich die Schnitte an all die Narben meiner Vergangenheit erinnern, die stets von Neuem aufreißen, sich entzünden, eitern, nicht verheilen. Dann bin ich so verwundet, dass ich mich geschlagen gebe, zu Boden falle, meine Trostlosigkeit annehme und letztlich an ihr scheitere. Wie viele Tode bin ich schon gestorben? Egal, was ich beginne, wo ich mich befinde, meine Schwierigkeiten begleiten mich überallhin und entziehen mir jegliche Vorfreude und Hoffnung auf eine leichtere Zukunft. Variierende Strukturen, Gewohnheiten, Regeln ... meine größten Feinde. Hürden, die ich erst zu überwinden lernen muss, bis ich meinen Rhythmus gefunden habe. Im Rahmen meines Studiums arbeite ich Vollzeit in einer Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose. Eigentlich hätte ich mein Praktikum gern in der niedrigschwelligen Drogenhilfe gemacht. Ich hatte mich nämlich bereits auf eine freie Stelle beworben und durfte dort auch hospitieren, wurde dann aber wegen meiner Offenheit und Kontaktfreudigkeit abgelehnt. Da hätte ich lieber angefangen, weil ich befürchtete, die Nähe zu den überwiegend alkoholabhängigen Obdachlosen würde mich zu arg an meinen leiblichen Vater erinnern. Obwohl er ebenfalls ein Konsument von Heroin gewesen war, das er sich finanziell allerdings nicht auf Dauer leisten konnte, scheute ich den Umgang mit einer akuten Drogensuchtklientel, die mir nicht ganz so dicht an ihm dran zu sein schien, weniger. Zumal mir Berührungsängste grundsätzlich fremd sind. Die Parallelen haben sich inzwischen glücklicherweise als unproblematisch herauskristallisiert. Es fällt mir leichter als gedacht, die harten Schicksalsschläge hier von denen meines Papas zu trennen. Manchmal erinnern mich einige der Besucher zwar durch ihre Erzählungen und ihren Geruch nach Bier, Pisse und Dreck an ihn; trotzdem gelingt es mir irgendwie, ein passables Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz, zwischen Mitgefühl und objektiver Betrachtung der Tatsachen zu finden. Vor Kurzem saß ich mit einem Gast im Beratungszimmer, um seinen Lebenslauf für den Antrag auf Arbeitslosengeld II anzufertigen. Er berichtete, bereits seit sechsundzwanzig Jahren unter der Brücke zu schlafen und wegen des Trinkens kaum in einer Obdachlosenunterkunft zugelassen zu werden. Er brauche dringend einen festen Wohnsitz mit Toilette – er sei schwer darmkrebskrank, scheiße sich ständig ein. Das tat mir leid, aber wirklich nah ging’s mir nicht. Es kratzte an der Oberfläche, prallte ab. Auf die Frage nach seinem Alter antwortete er: neunundvierzig. Und ich dachte ungerührt, dass Lenn im Vergleich zu dem – den Umständen entsprechend – vitalen Herrn vor mir, der sich klar und sachlich artikulierte, nicht mal die Achtundvierzig erreicht und sich – bevor er an den Folgen der Leberzirrhose krepierte – in seiner Demenz undeutlich und schwammig ausgedrückt hatte, schwach vor sich hingetrottet war. Zwischen den beiden Männern lagen Welten. Wenn ich heute an Papas Tod denke, regt sich kaum noch etwas in mir. Die Erinnerungen verblassen. Das Gesicht, das meinem ähnelt. Der Stolz über die von ihm geerbten hübschen Hände. Ich fange an, den Klang seiner Stimme zu vergessen. Das Lachen. Ich sehe ihn nicht mehr in meinem Spiegelbild. Da findet sich nur eine verwischte Skizzierung, eine vage Vorstellung. Obwohl ich ihn im Herzen trage – in Liebe, Zuneigung und Andenken ... Er ist fort, weit weg. Und mit ihm die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem Daddy ... Sieben Jahre – eine halbe Ewigkeit ... Genug, um nicht länger zu vermissen? Meinem Gedächtnis wird er nie entfallen, ich halte ihn stets in Ehren. Registriere, sobald er sich meldet und zu verhindern versucht, ins Abseits zu geraten. Nicht selten begegne ich ihm in kleinsten Alltagssituationen. Zum Beispiel beim Kauf seines Lieblingseises und Hören von Soul- oder Jazzmusik. Wenn ich meine beste Freundin Charly in Harburg besuche, denke ich ganz besonders an ihn und unser letztes Wiedersehen, bevor ich ihn verlor. Gedanken, die im Bruchteil einer Sekunde verfliegen – so schnell, wie sie gekommen sind. Die Besucher der Einrichtung haben zu circa siebzig Prozent einen Migrationshintergrund. Größtenteils kommen sie aus Russland, Rumänien, Afrika und Polen und sind wunderbare, interessante, zumeist höfliche und friedliche Persönlichkeiten. Etliche der Afrikaner retteten sich über Lampedusa in den überfüllten Flüchtlingsbooten nach Deutschland. Nicht vielen merkt man ihre Traumatisierung an. Die Mehrzahl ist zugänglich, unterhaltsam, gelegentlich ’n bissl gierig, wenn’s um Markenklamotten aus unserer Kleiderkammer geht. Mir gefallen ihr Temperament, ihr weißes Lachen, ihre Neugierde. Und die Big Mamas mit den runden Gesichtern, den bunten Gewändern, Afrozöpfen oder hochgewickelten Turbanen. Sie wirken trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse lebensbejahender und fröhlicher als die anderen Gäste. Sie alle, im Besonderen die Obdachlosen, die nicht einmal einen Containerplatz haben, zu empfangen, kennenzulernen, zu betreuen und sich einzuprägen, erscheint mir trotz der Gewissheit, dass jede Begegnung ein Abschied bedeuten könnte, weil sie den kommenden Winter in der Kälte vielleicht nicht überleben werden, wie eine Berufung. Als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Als wäre die Soziale Arbeit das, was man Bestimmung nennt. Meine Bestimmung. Lenn und sein Sich-nicht-kümmern-Können, das mein zügiges Erwachsen-werden-Müssen zur Folge hatte, haben mich in diese Richtung gelenkt. Unsere tragische Geschichte macht mich für diesen Bereich feinsinniger und robuster. Auch wenn’s zweifelsfrei schöner gewesen wäre, wenn ich dafür nicht einen Teil meiner Kindheit hätte einbüßen müssen, bin ich ihm unglaublich dankbar. Nun erhalte ich die Chance, einen Funken Licht in das triste, düstere Dasein derer zu bringen, die es brauchen. Meine Chance, das aufzuholen, was ich vor seinem Abgang gern für Papa getan hätte. Die Freude, die mir entgegengebracht wird, sobald ich einen traurigen Besucher mit einem Lächeln begrüße und ihm das Essen an seinem Tisch serviere, sind Momente des Friedens für mich. Ich will niemanden durch mein Mitleid in seinem Elend bestätigen, ihn besonders vorsichtig, rücksichtsvoll behandeln, sondern ihm als Mensch gegenüberstehen. Als Mensch auf Augenhöhe, der nicht tendenziell stärker oder ihm gar intellektuell überlegen ist. Weil das nicht stimmt. Faktisch würde man – gemessen an Schicht und Besitz – wohl sagen, mir gehe es besser. Klar hab ich ein Dach über dem Kopf, komme finanziell gut aus, kann essen und trinken, wann es mir beliebt. Dennoch behaupte ich: Fast jeder, der auf dem Asphalt hungert, friert und säuft, um den Frostschmerz in den steifen Gliedern und die Einsamkeit aushaltbarer zu machen, hat diese luxuriösen Möglichkeiten, die wir oft als selbstverständlich ansehen, ursprünglich ebenfalls genossen. Und doch zog die leidende Seele dem einen oder anderen ’nen Strich durch die Rechnung. Brachte ihn ins Draußen – an den Rand der Gesellschaft. Meiner Meinung nach ist keiner davor gefeit, sich in einer Kapitulation zu verschließen. Auch jene nicht, bei denen scheinbar alles glatt läuft. Karriere, Ehe, Kinder etc. Die meisten schaffen es, ihr Prestige zu wahren, indem sie den geforderten Erwartungen gerecht werden, ohne (restlos) abzustürzen. Sie tarnen sich hinter einer Maske der Brillanz, wie ich es tue, flüchten sich in Pflichten, Ziele und Träume von Heirat, Familiengründung, Hausbau ... (wovon träume ich eigentlich?). Oder sind einfach zu wurschtig, sich darüber Gedanken zu machen. Das beneide ich ja. Währenddessen zerbröckeln langsam die Zuversicht und das Innere manch anderer. Diejenigen, die das Ultimum der Selbstaufgabe schon erreicht haben, bringen sich um. Gegebenenfalls. Auf unterschiedliche Weise. Radikal von jetzt auf gleich oder in einem schleichenden Prozess – durch Vergiftung ihrer Körper mit übermäßig falscher Ernährung, mit Zigaretten, Alkohol und Drogen. Etlichen ist es unbegreiflich, wie man’s so weit kommen lassen kann, obdachlos zu werden ... Dabei braucht’s nicht viel, um ganz unten zu landen. Man verliert Job, Geld, Wohnung und letztlich Freunde. Wer nicht über die nötige Kraft verfügt, sich wieder hochzuziehen, beginnt, seine Wahrheit zu verdrängen, sie eventuell sogar zu ertränken. Vermutlich steckt in jedem, der dazu geboren wurde, enorm dünnhäutig, melancholisch und depressiv zu sein, ein Selbstmörder. Entweder der, der tatsächlich den Freitod wählt, oder der, der ihn sich in schlimmsten Krisensituationen als „Notausgang“ offenhält. Ich bezweifle, dass ich zu denen gehöre, die den Mut aufbringen, ihre Existenz freiwillig und abrupt zu beenden. Aber ausschließen kann ich das nicht. Denn immer dann, wenn meine Pein mich niederdrückt und droht, mir die Luft abzuschnüren, höre ich die Tür verführerisch klappern. Ich müsste nur zum richtigen Augenblick auf die Autobahn rennen, um überrollt, plattgefahren zu werden, und wäre von all den Ängsten, die ich habe, erlöst. Auch von der Horrorvorstellung, eines Tages im Badezimmer an meinem Erbrochenen zu sterben. Allerdings wünsche ich mir einen Tod, bei dem mein letzter Gedanke nicht dem Gewicht auf der Waage gilt. Noch klebt ein Fleck Optimismus an mir, mich irgendwann einmal aus den Fesseln meiner Essstörungen und Depressionen zu befreien. Bisher verlor ich bei jeder Arbeitsstelle, in der ein Buffet mit deftigem Essen aufgedeckt wurde, die Beherrschung. Es ist einfach zu paradiesisch, die Köstlichkeiten, die ich mir sonst verbiete, in Reichweite zu wissen und en masse nachfüllen zu können. Denn das ist genau das, was sich eine Bulimikerin für ihre Fressattacke zubereitet. Da ich in meinem Praktikum auf keinen Fall negativ auffallen will, verzichte ich nach dem Mittagessen auf den Klogang. Die berufsalltäglichen Phasen des Leerlaufs und der Langeweile außerhalb der Öffnungszeiten bieten viel, viel zu viel Raum für Grübelei und Raserei. Bis der Feierabend naht, bin ich bereits kurz davor, psychisch wie auch physisch zu platzen. Je später es wird, desto krasser entpuppe ich mich als hysterische Irre. Mein Plan, nach der Arbeit im Fitnessstudio zu trainieren, erübrigt sich, weil der Schuppen bis dato an Mitgliedern überquillt und ich auf die Cardiogeräte warten müsste, wozu mir die Lust fehlt. Außerdem fühlt sich mein aufgeblähter Bauch zu schwanger-rund und fett an, als dass ich mich so präsentieren möchte. Und so droht es wieder ein Tag zu werden, der sich dem Ende neigt, ohne dass ich etwas Nichtverpflichtendes erlebt habe. Darüber hinaus drehe ich bei Einladungen zu nicht regulären Teamveranstaltungen vollends am Rad. Meine Unfähigkeit, zu diesen Nein zu sagen – aus schlechtem Gewissen – und dafür das klitzekleine bisschen freie Zeit, das mir bleibt, zu entbehren, lässt mich verrückt und panisch die Wände hochklettern. So zieht Stunde um Stunde vorüber – in pausenloser Furcht vor Aufgabenmangel, Tristesse und Gewichtszunahme. Aufgaben, die man mir aufträgt – seien sie noch so stupide wie das Sortieren und Ausgeben der Besucherpost, Drucken von Dokumenten, Recherchieren, Befüllen der Getränkeplastikbecher, Geschirrspülen oder Aufräumen –, sind ein Geschenk. Denn jede Form von Ablenkung dient meiner Rettung. 15. Dezember Auf den Tag genau sind nun drei Monate rum. Seit Oktober bin ich im dritten Semester und arbeite studienbegleitend, also nur noch zweimal wöchentlich. Inzwischen hab ich die Essbrechsucht größtenteils im Griff, widerstehe den Versuchungen und schleppe selbst zubereitete Mahlzeiten mit. Da ich die Durststrecken, in denen es nix zu tun gab, nicht länger ertrug, bat ich meinen Chef um ein Gespräch, das weniger dienstlich ausfiel als angestrebt. Ich brach unvermittelt in Tränen aus, legte alle meine Befindlichkeiten, Sorgen und Probleme dar, traf überraschend auf sein tiefstes Mitgefühl und Verständnis. Seither erlaubt er mir, früher abzuhauen, und zeigt sich bemüht, mehr Order zu erteilen. Unter anderem durfte ich unsere Gäste, deren Selbstwertgefühl ich stärken wollte, mit meiner Fotokamera porträtieren. Erfolgreich – die Ergebnisse kamen super an. Montags leite ich einen eigenen Malkurs, bei dem ich leicht intimere Gespräche zu meinen Teilnehmern aufbauen kann. Zusätzlich bastele ich neue Flyer für das Unternehmen und Weihnachtskarten für unsere Spender. Dass meine Kreativität wieder zum Einsatz kommt, zeigt mir, dass es doch zu etwas gut war, meine Ausbildung zur Grafikdesignerin abgeschlossen zu haben. Kunst für einen sinnvollen Zweck – das kann gar nicht verkehrt sein. Die sporadische Eintönigkeit akzeptiere ich innerhalb der überschaubaren zwei Tage als dortigen Bestandteil. Trotzdem rieche ich die nahende Gefahr bereits. Ab März muss ich nämlich erneut in Vollzeit arbeiten und lerne trotzdem viel zu wenig darüber, was das Berufsfeld eigentlich ausmacht. Die einzige Option auf ein Jahrespraktikum während meines Studiums möchte ich nutzen, um so viele Erfahrungen wie möglich zu sammeln und nach dem Bachelor bestens vorbereitet in die Soziale Arbeit starten zu können. Obwohl ich mich nur ungern von meinem netten Team und den mir ans Herz gewachsenen Besuchern trennen mag, werde ich mich nach ’ner Einrichtung umsehen, die Abwechslung und Struktur verspricht.

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