Kitabı oku: «REISE OHNE ZIEL», sayfa 3

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Knappe Stellungnahme gefällig?

18. DezemberMonate des Wirbels, der Bedrängnis, des Bangens, der Belastung, Selbstzweifel und Vereinzelung – sieben, um genau zu sein, die ich meine Gedankenbrut mental in der Gefängniszelle aussaß. Einem unterirdischen Verlies der Finsternis zwischen Stahl und Mauern – ohne Vor und Zurück. Mit kleinem, vergittertem Luk, durch das keine Prise Sonne flutete. Bis mir endlich der Ausbruch gelang und ich mich traute, die illustrierten, unzensierten, gemischten Gefühle aus Reue und Groll in meiner Praktikumsstelle zur Sprache zu bringen. Meine Kollegin empfand den Vorfall und wie mit diesem umgegangen wurde als hochgradig überspitzt und albern. Sie fing zornig zu protestieren an, dass die hart erkämpfte Emanzipation der Frauen durch die Verschleierung zunichtegemacht werde.Aber nein. Das Thema ist viel umfangreicher. So umfangreich, dass ich es jetzt nur anschneiden will – in einer energischen, rauen Sachlichkeit, die meinem Selbstschutz und der Abgrenzung dient und daher kaum Platz für Feinheit gewährt. Dabei hätte es inhaltlich eine detaillierte Ausführung von mehreren hundert Seiten verdient, weil’s ohnehin Vorurteile und falsche Schlussfolgerungen schürt, was innerhalb eines kurzen Abrisses nicht zu lösen sein wird. Ich bin keine Islam- oder Politikwissenschaftlerin. Nicht zuletzt deshalb fällt es mir überaus schwer, darüber zu schreiben. Trotzdem schlaucht mich diese Brisanz unermesslich. Bisweilen zermürbte sie mich sogar so arg, dass ich mich intensiv mit dem Koran, religiösem Fundamentalismus und den Pegida-Rassisten beschäftigte, denen ich zuvor kaum Beachtung geschenkt hatte, da ich nicht wusste, wer konkret sich hinter ihnen verbirgt, und tatsächlich glaubte, es handele sich um harmlose Demonstranten, die an eine mir nachvollziehbare, kontrollierte Zuwanderung appellieren.Erst seit der Debatte um die Flüchtlingskrise wird deutlich, wie sich Gesellschaft und Politik spalten, wie leichtfertig Lob, Tadel und Etikettierungen über die Lippen gehen, und wie sehr man darauf achten muss, was man wie von sich gibt.Im Gegensatz zu einigen anderen EU-Staaten beweist Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine überaus hohe Bereitschaft. Allerdings steigt die Zahl der Migranten langsam derart krass, dass es vielerorts zu Überforderung und zum Zank um gerechte Verteilung kommt.Während ein Teil der Bürger bezweifelt, dass man den Überblick behalten und die Massen bewältigen kann, oder sich um knappe Kita-Plätze und überfüllte Schulklassen sorgt, stürzt sich der andere Teil in ehrenamtliche Mithilfe und schließt sich Merkels Meinung Wir schaffen das an.Gleichzeitig aber dürfen die Ängste etlicher nicht totgeschwiegen werden. Denn spätestens im eigenen Erleben hat Toleranz Grenzen. Und es ist eben nicht nur Aufgabe der Politiker oder die eines Sozialarbeiters, Erklärungen für Missstände zu finden, sondern sie aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten, beim Namen zu nennen und dementsprechend zu behandeln.Natürlich lassen sich die Gründe für unangemessenes und straffälliges Verhalten beleuchten – das machen wir bei Europäern auch, or? Mangelndes Benehmen und Brutalität findet jeder doof – unabhängig von Herkunft und Kultur. Wenn unsereiner uns die Vorfahrt klaut, uns anrempelt oder bespuckt, und wenn wir eine Mutter dabei erwischen, wie sie ihr Kind schüttelt, wird sie maßlos kritisiert. Darf man’s auch wagen, Gleiches bei Ausländern zu tun und zu fordern, dass sie den Tatbeständen gerecht sanktioniert werden? Ich finde, ja.

Back to myself

19. DezemberMeinen Minijob (zuletzt bei Balzac Coffee) musste ich wegen eines Nervenzusammenbruchs aufgeben und meine Rentenversicherung auflösen. Mit dem Geld kam ich neben der Unterhaltszahlung meines Vaters eine Weile gut längs. Erst als die Reserve fast aufgebraucht war und mein 28. Geburtstag nahte, an dem ich nicht mehr darauf hätte bauen können, dass Klaas mir finanziell weiterhin unter die Arme greifen würde, kontaktierte ich ihn. Bis aber endgültig feststand, worauf wir uns einigten, und bis der Erbverzichtsvertrag beim Notar unterschrieben wurde, vergingen Monate des Kampfes, der Ungewissheit und Existenzangst. Je mehr ich die Kontrolle über meine Emotionswelt verlor, umso drastischer stieg die Kontrolle über mein Gewicht an. Ich begann, weniger zu essen und mir die Kalorien in den Mund zu zählen. Jeder Bruch meiner Disziplin endete über der Kloschüssel. Die Bulimie beherrschte mein ganzes Sein, ließ mich zutiefst verbittert und in Bezug auf meinen Bekanntenkreis kleinkariert und zickig werden. Wer keine Zeit für mich hatte, wurde gnadenlos aus meinem Leben gestrichen. Und wer mich mit seinen Problemen belagerte, den hielt ich auf Abstand. Alles, was mir einst Freude bereitet hatte, war zur Last geworden und zum Scheitern verurteilt.Irgendwann verlor ich gänzlich die Lust daran, an der Gesellschaft teilzuhaben, und auch von Pascals Zuneigung fühlte ich mich mehr und mehr erdrückt. Phasenweise stand unsere Beziehung auf dem Spiel, da ich willkürlich Gründe suchte, mich mit ihm zu streiten, ihn zu kritisieren und ihm aus dem Weg zu gehen. Durch meine Distanz verlor er sein Vertrauen und das Gefühl, von mir begehrt zu werden. Ich unterband jeden seiner Versuche, mit mir intim zu werden, und reagierte gereizt, sobald er mich darauf ansprach oder vermutete, ich würde mich für andere Männer interessieren.Überdies ging mir auf die Nerven, dass sich seine Mutter in ihrer Einsamkeit ständig an mich wandte. Sie war mir unsympathisch geworden, seit ich mitbekam, wie sie trotz des Verfalls ihres Mannes einfach weitermachte. Sie sträubte sich vehement dagegen, ihn bei sich daheim zu pflegen, um ihm ein schöneres restliches Leben zu ermöglichen. Stattdessen kümmerte sie sich ausschließlich darum, ihren eigenen Bedürfnissen nachzugehen, ihre frisch gewonnene Freiheit zu genießen und seine ganze Kohle fürs Shoppen zu verprassen. Wenn ihr dann doch bewusst wurde, wie alleine sie eigentlich ist, heulte sie. Für ein solches Tamtam fehlte es mir an Verständnis und Kraft. Meine Kraft reichte nicht einmal für mich selbst.Um nach dieser aufreibenden Phase etwas Licht ins Dunkel zu bringen, schenkte meine Mutter mir für die Semesterferien im Sommer eine gemeinsame Reise nach Mallorca. Dieser Urlaub half mir dabei, ganze drei Wochen „clean“ zu bleiben, bevor das Praktikum in der Wohnungslosenhilfe begann und meine Essstörung erneut Achterbahn fahren ließ. Inzwischen ist’s im Schnitt nur noch ein Rückfall pro Woche.Auch wenn es mir so vorkommt, als würde mein Leben und das, was ich daraus mache, wenig Sinn haben, laufe ich wieder. Und bin froh darüber, dass mein Partner mit mir läuft, obwohl er es häufig schwer mit mir hat.Von Klaas erhalte ich eine Abfindung, die mir monatlich in steuerfreien Raten zugeteilt wird und es ermöglicht, mir keinen neuen Nebenjob suchen zu müssen. Nach seinem Tod steht mir außerdem ein kleiner Teil seiner Immobilien zu.In der Hochschule fühle ich mich nach wie vor wie ein rotes Tuch. Aber ich zieh das jetzt durch.In der letzten Sitzung wurde ich von meiner Therapeutin gefragt, was mir die Bulimie Positives gebe. Darüber musste ich sehr lange nachdenken. Sie bietet Möglichkeit, Frustration auszudrücken, Gefühle wie Leere und Ohnmacht zu verdrängen, über die Stränge zu schlagen – alles zu essen, worauf man Bock hat und etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Sie ist mein Ventil, wenn ich traurig, verzweifelt oder wütend bin.Sobald dieser Drang, einkaufen zu gehen, in mir aufkommt, bin ich wie fremdgesteuert. Dann sind da zwei Geister in meinem Kopf, die miteinander darüber streiten, ob ich’s wage oder sein lasse. Das Engelchen redet mütterlich und umsorgend auf mich ein, ich solle doch meinen Körper lieb haben und meine Gesundheit nicht gefährden. Es macht mich darauf aufmerksam, welche Konsequenzen ich auf mich nehmen müsse und dass es nicht weitergehen dürfe wie bisher.Das Teufelchen schreit: „Du hast ein Stück Schokolade zu viel gegessen! Willste riskieren, morgen ’n halbes Kilo mehr zu wiegen? Du warst auf’m best way abzunehmen. Mach dir das jetzt nicht kaputt!“ Oder es flüstert: „Der Tag war echt beschissen. Was stellen wir die restlichen Stunden an? Ich weiß auch nicht ... Komm, lass verkriechen, gemütlich vorm Fernseher an nichts denken, nichts fühlen, einfach nur fressen und kotzen. Danach sind wir müde genug, um einzuschlafen.“Meistens scheitere ich daran, dem Teufelchen zu widerstehen. Erst wenn die Tortur vorüber ist, sag ich zum Engelchen: „Hätte ich doch bloß auf dich gehört und das Geld gespart. Ich halte diese Magenschmerzen nicht aus. Wann endlich werde ich bereit sein, mir selbst zu begegnen? Warum fällt es so schwer, das Alleinsein und die mit ihm aufkommenden Emotionen zuzulassen?“

Adieu, mein Freund und Bruder

20. Dezember Ein Jahr und fünf Monate brauchte ich, um Lukas nach seinem Tod zu besuchen. Heute schien für mich der richtige Zeitpunkt des Abschieds gekommen zu sein. Pascal begleitete mich. Wir fuhren eine Stunde lang, bis wir den Ort fanden, an dem er begraben liegt. Als ich verwirrt inmitten des großen Waldes stehen blieb, ärgerte ich mich über Christina, die sich für diesen Friedwald entschieden hatte. Verzweifelt suchte ich jeden nummerierten Baumstamm nach Lukas’ Namen ab. Je näher ich ans Ziel kam, desto aufgeregter wurde ich. Plötzlich stand ich vor ihm. Es war ganz ruhig in mir und um mich herum. Das schmerzliche Begreifen erreichte nun nicht mehr nur meinen Verstand, sondern traf mich tief in der Brust. Sentimental betrachtete ich die zarte, kleine Metallplatte, an deren Ecke ein Herz aus Stein heftete. Keine Blumen, keine Kerzen, keine Bilder ... Trostlos und verlassen wirkte dieser Platz. Paschi trat hinter mich, das Laub raschelte unter seinen Schuhsohlen. Er nahm mich in die Arme und wir schwiegen für einen Moment. Dann nahm ich unsere Fotos und einen Brief aus meiner Tasche. Leise las ich Lukas vor, was ich ihm widmete: Geliebtes Bruderherz, seitdem du mich und das Leben verlassen hast, ist nichts mehr, wie es war. Dein Tod hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, mein Herz in zwei tranchiert. Bitte verzeihe mir, dass ich dich nicht schon eher an deinem Grab besucht habe. Ich wollte und konnte einfach nicht glauben, dass du fortgegangen bist. Ich hatte nicht vor, mich von dir zu verabschieden, denn ich mochte nicht realisieren, dass es kein Wiedersehen mehr gibt. Meine Gedanken waren bereits dabei, dir in den Tod zu folgen. Nun aber muss ich meine übrige Stärke aus dem mickrigen Eimer des Überlebensmuts schöpfen und meine Vernunft zu fassen kriegen. Du hast mir gewunken. Mich aufgefordert, dir nachzukommen. Und du gabst mir genug Gründe, das zu tun. Für mich ist die Zeit jedoch noch nicht reif. Trotz aller Schwierigkeiten muss ich weiter. Ohne dich. Deine Probleme werden wohl kaum aufhören, mich zu beschäftigen. Nach wie vor wirst du mir fehlen und meine Gedanken besetzen. Ich stehe dennoch hier ... Und trete einen Schritt zurück in das Leben. In mein Leben, das ich so gerne mit dir geteilt hätte. Ich bemühe mich, keine weiteren Fragen zu stellen. Und bitte unterlasse es, diese in mir aufzuwerfen. Du hast eine Entscheidung getroffen, die deine war, aber nicht meine ist. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Glaube mir, eines Tages werde ich bei dir sein. Wenn es so weit ist, gib mir ein Zeichen. Ich werde dich suchen und finden. Bis dahin schenk mir die Zeit, die ich brauche. Und bestärke mich in meinem Willen, nicht aufzugeben. Für immer deine kleine Schwester und beste Freundin. Winselnd vergrub ich mein tränenverschmiertes Gesicht an Pascals Brust. Obwohl er Lukas nicht hat kennenlernen können, musste er mitweinen. Vor Aufbruch klemmte ich die Fotos mühsam hinter das Herz und sah ein letztes Mal in das lachende Gesicht meines Bruders. Es bekümmerte mich, dass er oftmals sarkastisch, abweisend und nähescheu war. Ich hätte ihn gerne mal so richtig innig umarmt. Er hingegen hatte es stets bevorzugt, mir kumpelhaft auf die Schultern zu klopfen. Eigentlich weiß ich recht wenig über ihn und seine Gefühlswelt. Nun ist es zu spät dafür, mehr in Erfahrung zu bringen.

I luv u, Mom!

25. Dezember Die wenigen Tage vor Weihnachten waren ziemlich aufreibend. Ich begleitete Pascal in seine Heimat, um seine Familie zu besuchen. Sein Vater verhielt sich unverändert. Alle paar Minuten vergaß er, was wir besprochen hatten. Und auch, dass sein Sohn seit bereits sechs Jahren in Hamburg lebt, entfiel seiner Erinnerung. Wir stellten ihm Fragen zu seiner Frau, seinem Beruf und zu Paschis Schwester. Erst beim Abschied zeigte er sich emotional gerührt und mochte sich kaum aus unserer Umarmung lösen. Mir war klar, dass seine Geste, mir einen Kuss auf den Mund zu geben, unbewusst geschah. Dennoch empfand ich sie als grenzüberschreitend. Wir standen uns noch nicht nah genug, als dass eine solche Intimität angemessen wäre. Ihn überhaupt in diesem Zustand zu erleben, wo ich ihm, bevor der Unfall passierte, erst viermal begegnet war, widerstrebte mir eigentlich. Ich tat es meinem Partner zuliebe. Paschi und ich schlenderten eine Weile über den Dresdner Weihnachtsmarkt. Im Anschluss trafen wir uns mit seiner Mutter im Café. Es irritierte mich, wie freudlos wir von ihr empfangen wurden und wie flapsig sie sich im Gespräch äußerte, während ihr die weißen, strohigen Haare flusig zu Berge standen. Paschi war zu Recht distanziert. Von seiner Schwester hatte er erfahren, dass ihrer beider Ma ihn nie wirklich geliebt hätte. Weil sie in Bezug auf ihn grundsätzlich desinteressiert und kühl zu sein scheint, kann ich mir gut vorstellen, dass viel Wahres dran ist. Aber auch mir gegenüber benahm sie sich gleichgültig und teilnahmslos. Schon in der Vergangenheit witterte ich, wie kleinkariert, gastunfreundlich und egozentrisch sie ist. Ihre Nettigkeit wirkte nicht selten aufgesetzt. Die Situation war angespannt, ich fühlte mich hilflos unter der erzwungenen Konversation und bemühte mich, ’nen lockeren Austausch herzustellen – im Vermeiden einer Ausuferung. Sobald sich Pascals Tonlage vor Wut verschärfte, trat ich ihm gegen das Schienbein und wechselte ruckartig das Thema. Es ist fruchtlos, sie auf ihr Verhalten anzusprechen, denn es liegt ihr fern, sich selbst zu reflektieren. Auf der Zugfahrt ließ er seinen Dampf ab. Dass ihm seine Mutter weder ein Geschenk überreicht noch uns ein frohes Fest gewünscht hatte, verschlug auch mir die Sprache. Ich riet, zukünftig auf die lange Reise zu verzichten. Ich jedenfalls würde sie ungern wieder auf mich nehmen, nur um diese Strapazen aushalten zu müssen, zumal es nicht meine Aufgabe sei, mich in deren Angelegenheiten einzumischen. Den darauffolgenden Tag verbrachte ich auf der Weihnachtsfeier der Wohnungslosenhilfe. Ganz überraschend hatte ich kurz vorher erfahren, dass ich mein Praktikum in einer anderen Einrichtung, bei der ich mich gerade erst beworben hatte, schon nach den Weihnachtsferien weitermachen darf. Bei einer Beratungsstelle für drogengebrauchende und sich prostituierende Frauen. Im Januar geht’s los. Mein Chef wusste bereits Bescheid, meine Kollegen mussten erst noch in Kenntnis gesetzt werden. Nach dem Essen hielt ich eine kurze Rede, bei der ich mich für die Zusammenarbeit bedankte und meine Entscheidung für den Wechsel begründete. Beinahe bereute ich den Entschluss, da ich mit so viel Bedauern nicht gerechnet hätte. Jeder Einzelne erhob sich und trat vor, um mich zu drücken und mir alles Gute zu wünschen; die Türen stünden immer offen. Besonders bewegten mich die Zeilen auf der Postkarte meines Chefs: Liebe Victoria, vielen Dank für deine Kreativität und offene, menschliche Art. Du hast etlichen Besuchern ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Der 24. bei Susi verlief harmonisch. Wir tranken den letzten Glühwein in diesem Jahr, machten eine kleine Bescherung und kochten französisches Huhn zu Rosmarinkartoffeln. Mom ist enttäuscht darüber, dass ich so selten bei ihr zu Hause bin, weil ich mich davor ängstige, an meine Kindheit zurückerinnert zu werden. Daran, wie unsere kleine Familie zerbrach. Konnte sie überhaupt zerbrechen, wo es sie eigentlich nie gegeben hat? Vielleicht fürchte ich mich auch vor den möglichen Déjà-vu-Erlebnissen dieser schwierigen Zeit nach der Trennung. In der ich die Not meiner dann alleinstehenden, unsicheren, auf mich zentrierten Mutter noch heftiger miterlebte, für sie da sein, sie trösten musste und im Pubertätsalter die Essstörung für mich entdeckte. Wie wir vor dem Fernseher saßen und sie mich ermahnte, während ich unkontrolliert den Kühlschrank leerte – nicht ahnend, nicht wissen wollend oder könnend, dass ich den ganzen Fraß wieder ausgöbeln würde. Ja ... für das ihrer Generation typische Wegsehen hasste ich sie damals manchmal. Für das Verklemmtsein, die Scham und Sprachlosigkeit. Dafür, dass die für mich entlastende Offenbarung meines Leids, das sie aus Überforderung in dem Umfang nicht nachvollziehen konnte, sondern zu meiner Enttäuschung, genau wie Klaas, kritisierte. Und dafür, dass durch ihre Sorge mein Leid schnell zu ihrem Leid wurde. Was mich wiederum reumütig, grantig und verschlossen machte. Gegen den eigenen, verbal und präverbal mitgeteilten, von meinen vermeidenden Eltern unbeachteten, in mir aufgestauten, abgespaltenen Schmerz rebellierend, begann ich hinter verschlossenen Türen mit sechzehn das Ritzen. Das tat ich drei Jahre später (kurz nach meinem Auszug, der das Verhältnis zwischen Mama und mir besserte, das längst nicht immer so rosig war, wie mein Vater spekulierte) ebenfalls. An einem Abend im Winter, an dem die Wände immer näherkamen, der Raum kleiner und kleiner wurde. Bis er mich beengte und zerquetschte. Ich rief Susi an und beichtete die Selbstverletzung. Innerhalb von zwanzig Minuten klingelte sie an meiner Wohnungstür, sammelte mich ein und brachte mich zu Bett. Mit den Worten: „Ich hab mir immer gewünscht, dass du dich hier wohl fühlst. Gehofft, dass du mich besuchst, bei mir schläfst, dich von mir bekochen lässt ... Aber du bist nicht gekommen.“ Danach starrte ich – wie ich es voller Schuldgefühl wegen Christinas Ablehnung schon als Eineinhalbjährige tat – in die gespenstische Dunkelheit. In das Jugendzimmer, das ehemals einem Kunstmuseum geglichen und meine komplette Geschichte erzählt hatte, und von dem ich zum Tschüss-Sagen gern noch ein Foto gemacht hätte. Alle Poster, alle Bilder, alle blutverschmierten Postkarten, alle getrockneten Rosen von Exgeliebten, alle Rasierklingen ... futsch. Ausgerottet. Ohne mich zu involvieren. Back in the present: Am Nachmittag stießen ihre beste Freundin und mein Partner dazu. Wir tranken, ulkten, quasselten und blieben bis nachts. Es war so schön, dass ich am liebsten geblieben wäre. Im Auto auf dem Heimweg mit Paschi fing ich aus heiterem Himmel zu flennen an. Plötzlich überfiel mich die entsetzliche Einsicht, dass ich den Verlust von Susi niemals verkraften könnte. Seitdem Papa und mein Bruderherz fort sind, werde ich öfter von der Furcht ergriffen, auch Mom irgendwann loslassen zu müssen. Nichts macht mir mehr Angst als ihr Tod. Denn sie stellt einen Großteil meines Lebenssinns und -inhalts dar. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte. Und ich weiß auch nicht, ob und wie ich weiter existieren kann, wenn sie unter der Erde liegt. Susi hat mir die Liebe geschenkt, zu der weder meine Erzeugerin noch mein Adoptivvater fähig waren. Natürlich ist sie nicht unfehlbar – wer ist das schon? Nichtsdestotrotz beschützte sie mich in Gefahrensituationen und nahm jeden Kummer auf sich, um mir das Gefühl von Geborgenheit zu geben. Auch wenn sie selbst die große Liebe nicht in einem Mann hat finden können – no idea, ob sie mir bereits begegnete oder jemals begegnen wird –, so aber haben wir die große Liebe füreinander gefunden. Eine unerschütterliche Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Kind, wie sie stärker gar nicht sein kann. Ich fühle mich verantwortlich dafür, ihr Leben erschwert zu haben. Wo sie es doch in ihren zwei Ehen schon hart genug hatte. Die vielen Jahre, die sie um meine Gesundheit bangte, die vielen Momente, in denen ich sie mit meinem Unglück bedrückte und glaubte, sie würde an ihm sterben. Ich hätte ihr eine Tochter gewünscht, die stabiler und einfacher ist als ich; die sie nicht ununterbrochen mit neuen Problemen belastet. Oder wenigstens einen starken Gatten, der ihr einen Teil dieser Hürden abnehmen könnte. Umso mehr bewundere ich Mama für ihre Bereitschaft, mit mir die Kommunikation zu lernen, und für das unermüdliche Durchhalten. Was wir alles überwanden ... Wie oft ich auch daran dachte, meinem Leben ein Ende zu setzen ... Ich könnt’s allein aus dem Grunde nicht tun, das ihre zu bewahren. Es wäre fahrlässig. Unter Tränen hatte sie mal gewimmert: „Hör auf, über deinen Selbstmord zu reden. Dann kann ich mir ja gleich die Kugel geben!“ Wieso kann ich es nicht lassen, mir selbst zu schaden? Wenigstens für Mutti ... Eines Tages wird sie eventuell meinetwegen nicht bereit sein, mit einem guten Gefühl zu gehen. Daher hoffe ich für uns beide, dass das Schicksal vorgesehen hat, mich bis dahin zu festigen und meinen Weg zu finden. Ständig frage ich mich, ob ich Mama häufig genug in die Arme nehme, ob sie mehr Streicheleinheiten und Nähe ersehnt, ob sie sich in den Schlaf weint, ob sie wohl einsam ist in ihrem kleinen Zuhause, ob sie ihre Eltern, die lange vor meiner Zeit gestorben sind, vermisst, und ob sie es mir sagen würde, wenn sie erführe, unheilbar krank zu sein. Was mich jetzt schon in minimalste Staubpartikel zerbröselt, ist die Vorstellung von dem Augenblick, in dem ich mir vorwerfe, nicht ausreichend meine Zuneigung bewiesen und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt zu haben. Von dem Augenblick, in dem das herzliche Lachen meiner Mutter verstummt. Von dem Augenblick, in dem ich vergeblich auf eine Nachricht oder das Klingeln des Telefons warte. Von dem Augenblick, in dem mir klar wird, dass ich sie nie wiedersehen, mich bei ihr einhaken, ihre weiche Haut berühren, mit ihr reden, mich für sie interessieren und bedanken kann. Mein Herz würde mit ihr schwinden und das ihre bei mir bleiben. Mom ist nun neunundsechzig. Wenn ich so bald nicht imstande bin, mich selbst zu retten, dann bitte, Gott, falls es dich gibt, schenk Mama unendlich viele gesunde und glückliche Jahre.

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