Kitabı oku: «Dschihad als Ausweg», sayfa 2
(2)Um den mittleren sowie unteren militärischen Dienstgraden ihre von den Vorgesetzten legalisierten Diebeszüge in der Zivilbevölkerung als »zuverlässige« Nebeneinkunft zu gewährleisten.
(3)Um beiden Gruppen die illegale Ausbeutung tschetschenischer Erdölförderung zur persönlichen Bereicherung weiterhin zu ermöglichen.
(4)Um den von Moskau entsandten bzw. bestimmten tschetschenischen Verwaltern, die als »die neue tschetschenische Macht« bezeichnet werden, weiterhin deren persönliche Bereicherung aus den Budgetmitteln des tschetschenischen Wiederbaus zuzugestehen.101
(5)Um aus PR-technischen Gründen den Kreml vor kritischen, innenpolitischen Fragen zur wirtschafts-politischen Entwicklung Russlands immer dann zu schützen, wenn die jeweiligen »Beweislagen« zu erdrückend zu werden drohten.102
Maschadow musste aufgrund des russischen Übergriffs in den Untergrund fliehen, und Putin setzte im Juni 2000 Achmad-Hadshi Kadyrow103 als tschetschenischen Verwaltungschef ein.104 Die Tschetschenen betrachteten jedoch Maschadow nach wie vor als Präsidenten, während die Russen Kadyrow sen., der noch im Jahr 1994 Mufti von Tschetschenien war und zum Gasawat (Heiligen Krieg) gegen die Russen aufrief, nach seiner persönlichen Annäherung an Russland und Putin als gemäßigteren Verwalter Tschetscheniens ansahen. Maschadow wurde hingegen von russischer Seite unterstellt, dieser schrecke auch vor zivilen Geiselnahmen zur Durchsetzung seiner Ziele nicht zurück, was tatsächlich nicht der Fall war.105 Im Oktober 2003 wurde Kadyrow sen. in einer höchst umstrittenen Wahl zum Präsidenten Tschetscheniens gekürt und nur wenige Monate später, im Mai 2004 Opfer eines Anschlags im Stadion von Grosny.106
Seitdem ist sein Sohn Ramsan Kadyrow107 der neue tschetschenische Präsident ›von Moskaus Gnaden‹.
Maschadow wurde im Jahr 2005, eine Woche, nachdem er Putin ein Friedensangebot unterbreitet hatte, von einer FSB-Sondergruppe getötet.108
Seit dem Jahr 2008 verließen zigtausende Tschetschenen ihre Heimat und zogen verstärkt nach Europa, hier insbesondere nach Belgien.109 Aus dieser Tatsache lässt sich z. T. die starke Gewaltaffinität der belgisch-dschihadistischen Szene ableiten, wie im Kontext der Feldforschung im europäischen salafistisch-dschihadistischen Milieu konstatiert werden kann.110
Die kategorischen Versuche Russlands, sowohl die ursprüngliche tschetschenische Bevölkerung staatlich gesteuert zu enteignen und sich ihre Bodenschätze anzueignen, indem man versuchte, diese auszusiedeln, zu inhaftieren oder zu ermorden, als auch sie ihrer Sprache zu berauben, wenn man das zuvor erwähnte, dreizehnjährige Sprachverbot betrachtet,111 wirken wie ein gezielter Versuch, eine Volksgruppe ihrer Identität zu berauben. Darüber hinaus mutet das Bestreben, tschetschenische junge Männer willkürlich bei den erörterten »Säuberungsaktionen« zu verstümmeln,112 zu entmannen und als potentielle Gegner frühestmöglich zu demoralisieren, in Verbindung mit der staatlich gesteuerten Konstruktion des Bildes vom »wilden« und scheinbar »unkultivierten Tschetschenen«113 mittels russischer Medien wie ein Indikator für das über Jahrhunderte betriebene Vorhaben an, einen Genozid an dieser Volksgruppe zu verüben.114 Warum diese anti-tschetschenische russische Politik seit so langer Zeit praktiziert wird, ist fraglich und vermutlich nicht ausschließlich wirtschaftlichen Gründen geschuldet, sondern entspricht vielmehr einem Konglomerat von autoritären Herrschaftsansprüchen gegenüber sämtlichen umliegenden Regionen Russlands und einem ausgeprägten Überlegenheitsgefühl hinsichtlich anderer Kulturen, Religionen und Ethnien, der durchaus als ›russischer Orientalismus‹ bezeichnet werden darf.
Wie im weiteren Verlauf anhand der Biographien der drei Tschetscheninnen erkennbar werden wird, erscheint Politkovskajas Fazit hinsichtlich der tschetschenischen Geschichte im Kontext der vorliegenden Untersuchung über die Gründe junger Tschetscheninnen, sich in den kriegerischen Dschihad zu begeben, als sehr plausibel, da die Journalistin konstatiert, dass die »prinzipielle Bedeutung von Freiheit und Unabhängigkeit des Kaukasus von Russland«, die durch die zwei Nationalhelden Mansur und Schamil personell in das kollektive Gedächtnis Tschetscheniens eingegangen ist, deshalb besonders prägend für »die tschetschenische Nationalpsychologie war, weil die Heimsuchungen und Nöte Tschetscheniens von Generation zu Generation immer wieder mit Russland in Verbindung gebracht würden«.115
3.Gasawat
Die tschetschenischen Kämpferinnen verwenden in ihren Ausführungen zur ›Notwendigkeit‹ des Kampfes oftmals den Begriffs Gasawat, um ihre Teilnahme am kriegerischen Dschihad zu begründen.116 Der Begriff Gasawat bedeutet in der Übersetzung »Heiliger Krieg« und bezieht sich auf den Aufruf des ersten Imams des nördlichen Kaukasus, Scheich Mansur, an die lokalen Bauern und Stämmen, sich in Form des Gasawats gegenüber jeglicher Form sozialer Ungerechtigkeit, den Russen sowie deren regionalen Verbündeten, die als personifizierte Unterdrücker und Helfer des Bösen betrachtet wurden, zu erheben.117
Inwiefern korrespondiert der hier beschriebene religiös legitimierte Volksaufstand jedoch mit der gegenwärtigen Dschihad-Teilnahme der tschetschenischen Kämpferinnen? Und wie ist es möglich, dass tschetschenische Frauen am Kampf teilnehmen, obwohl das kaukasische Moralgesetz Adat der Frau weder die Rolle der Rächerin noch die der Kämpferin zugesteht?118
Um diesen Zusammenhang zu begreifen, empfiehlt sich ein kurzer Exkurs in die Konzeption des Terminus Dschihad. Der Begriff Dschihad leitet sich aus dem arabischen Wort (Jahd) ab und wird als »Anstrengung« oder »Bemühen« übersetzt.119 Die Übersetzung des Begriffs Dschihad als »heiliger Krieg« ist demnach inadäquat, zumal das Synonym des Verbes ›kämpfen‹ aus dem arabischen Wort qital abgeleitet wird und viermal so oft im Koran Verwendung findet wie der medial präsentere Begriff Dschihad.120 Grundsätzlich wird der Dschihad in drei Dimensionen aufgesplittet:121 den kleinen, kriegerischen Dschihad, dessen Bedeutungsgehalt theologisch betrachtet sehr gering ist, den mittleren Dschihad, verstanden als ›Wissensstreit‹, sowie den großen und bedeutsamsten Dschihad eines jeden Gläubigen, die kontinuierliche Anstrengung, ein rechtschaffener Gläubiger zu sein.122 Die Verquickung des Konzeptes des kleinen Dschihads mit dem tschetschenischen Äquivalent des Gasawats der Kämpferinnen basiert auch auf dem Kult um die im historischen Exkurs erwähnten Muriden. Diese berühmten kaukasischen Kampftruppen waren nicht nur für ihre Glaubensfestigkeit hinsichtlich der Prinzipien der Scharia sowie des Gasawats bekannt, sondern wurden auch aufgrund der sozialen Gerechtigkeit, die sie in ihrem Umfeld konstituierten, verehrt.123 Die tschetschenischen Kämpferinnen versuchen demnach durch ihr Wirken, die Tradition dieser ›ehrenvollen‹ Kämpfer zu imitieren und hierdurch deren Andenken zu huldigen. In eben jener Tradition agierte auch Bassajew, der sich selber als Amir der Islamischen Brigade der Märtyrer bezeichnete, während der saudische Abu al-Walid vielmehr dem wahabitischen Dschihad-Konzept nacheiferte. Ein verbriefter Hinweis auf das Konzept des kleinen Dschihads bzw. Gasawats und die individuelle Pflicht zur Teilnahme daran, findet sich ebenfalls im Majlis al-Shura, dem nationalen Scharia-Verteidigungsrat, aus dem Jahr 2003 zur Verteidigung des Islams und dessen Verbreitung sowie zum Schutz ›Gläubiger‹ und ›Ungläubiger‹, die sich unter dem Schutz der muslimischen Rechtsprechung befänden.124
Während das Kaukasus Emirat, als eine dschihadistische Gruppe mit Verbindungen zu Al-Qaida (AQ), bis zu Beginn der 2000er Jahre maßgeblich für terroristische Aktionen verantwortlich war, verlor diese Bewegung seit der Entstehung des Islamischen Staates, dem gegenüber viele lokale DschihadistInnen den Treueeid ablegten, an Bedeutung, obwohl das Kaukasus Emirat nach wie vor über zahlreiche Unterstützer verfügt, die in seinem Namen Anschläge verüben.125 Es existieren inhaltliche Übereinstimmungen hinsichtlich der dschihadistischen Ideologie des Kaukasus Emirats und der Gruppe Junud al-Sham, welcher die Respondentinnen vermeintlich angehören, bspw. im Hinblick auf die Ablehnung Andersgläubiger oder die Rechtfertigung von Gewalt.126 Unterschiede finden sich in Bezug auf die nationalstaatlichen Bestrebungen, die während der Interviews mit den Tschetscheninnen zum Teil erkennbar wurden und im weiteren Verlauf dieser Untersuchung detailliert werden.
4.Tschetscheninnen
»Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf.
Früh beim Löwengebrüll gab man uns unsere Namen.
In Adlernestern fütterten uns unsere Mütter,
Stiere zu zähmen lehrten uns unsere Väter.
Unsere Mütter weihten uns unserem Volke und unserem Lande.
Wenn sie uns brauchen, stehen wir ohne Furcht auf.
Wir wuchsen mit Bergadlern in der Freiheit auf.
Schwierigkeiten und Hindernisse überwanden wir mit Würde.
Eher schmelzen die Feuersteinfelsen zu Blei,
als dass wir in Leben und Kampf unsere Würde aufgeben.
Eher bricht die Erde durch die brennende Sonne,
als dass wir unsere Ehre verraten.
Nie sind wir irgendjemandem Untertan.
Entweder Freiheit oder Tod.
Ein Drittes gibt es für uns nicht.
Unsere Schwestern heilen unsere Wunden mit Liedern,
die Augen unserer Geliebten geben uns Kraft für den Kampf.
Beugt uns der Hunger, werden wir an den Wurzeln nagen.
Krümmt uns Durst, werden wir Tau vom Gras trinken.
Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf.
Diener sind wir nur Gottes, des Volkes und des Vaterlandes.«127
Die aufgeführte tschetschenische Nationalhymne zeigt sehr deutlich den Wertekanon, der jedem Tschetschenen von Geburt an vermittelt wird: Stolz, Tapferkeit, Würde, Ehre, Furchtlosigkeit, Mut, Durchhaltevermögen und der unbezähmbare Wille nach Freiheit, der von einem ausgeprägten Nationalbewusstsein und einer tief verwurzelten Frömmigkeit begleitet wird. Sie ist zugleich ein Abbild der wesentlichen Charaktereigenschaften, die im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich der drei Kämpferinnen mit tschetschenischen Wurzeln sehr deutlich zutage treten werden, unabhängig davon, ob sie die tschetschenisch-russischen Kriege selber erlebt oder nur in der familiären Retrospektive erzählt bekamen. Wie im weiteren Verlauf erkennbar wird, internalisierten offensichtlich alle drei Respondentinnen den Wortlaut der tschetschenischen Nationalhymne dergestalt, als ob es sich dabei um ihr fleischgewordenes Schicksal handeln würde.
Die Interview-Partnerinnen wurden in Neu-Ossetien und Inguschetien geboren, die sich selbst als »Bruderländer« Tschetscheniens verstehen und die zu Kriegszeiten sehr viele geflohene Tschetschenen aufnahmen.128 Da sich alle drei Dschihadistinnen in der Selbstbeschreibung als Tschetscheninnen betrachten und ebenfalls primär für ›die tschetschenische Sache‹ ihrer Familien, die tschetschenischen Ursprungs sind, einstehen, werden sie in der Folge als Tschetscheninnen bezeichnet.
Die Interviews mit den Tschetscheninnen wurden in zwei deutschen Städten, hiervon eine Stadt im Norden sowie eine Stadt im Osten Deutschlands, geführt.129 Die Respondentinnen befanden sich an diesen spezifischen Orten, da sie eigenen Aussagen zufolge über nicht näher thematisierte Verbindungen zu Familienangehörigen deutscher und deutsch-türkischer Dschihadisten verfügten, die kurzzeitig bei der tschetschenisch dominierten130 Gruppe Junud al-Sham von Murad Margoshvili (Abu al-Walid al-Shishani)131 in Syrien kämpften.132
5.Namensgebung und mögliche Ursachen der Dschihad-Teilnahme
Wie bereits geschildert, werden die tschetschenischen Dschihadistinnen in der Öffentlichkeit häufig als Schwarze Witwen bezeichnet. Dieser Name erinnert zunächst an eine Spinnenart, die ihren männlichen Partner nach dem Liebesspiel verspeist.133 Tatsächlich weist die Namensgebung im vorliegenden Fall jedoch keinen Fauna-Bezug auf, sondern ist, neben dem Verweis auf die schwarze Ganzkörperverschleierung der Protagonistinnen, vielmehr Ausfluss der nüchternen Realität, dass die meisten Selbstmordattentäterinnen mit tschetschenischem Hintergrund, häufig verwitwete Frauen waren, die aus Trauer um ihren Verlust, Vergeltung an den ›Tätern‹ üben wollten. Zudem handelte es sich bei ihnen um Frauen ›fortgeschrittenen‹ Alters,134 die aus individueller Perspektivlosigkeit und um den Eltern die vermeintliche Schande zu ersparen, eine ›ältliche‹ Tochter ihr Leben lang mit ernähren zu müssen, in den Dschihad gingen.135 Ein dritter Grund für die Tschetscheninnen, in den Dschihad zu ziehen, liegt in der beruflichen Perspektivlosigkeit, die noch immer in vielen Regionen Tschetscheniens vorherrscht und insbesondere die Frauen betrifft.
Diese grundsätzliche Perspektivlosigkeit ermöglicht den sogenannten ›Anwerberinnen‹ eine besonders ›leichte‹ Rekrutierung der jungen Frauen, die sie mit wahabitischer Literatur und Kleidung zunächst religiös indoktrinieren, um im weiteren Verlauf – auch über Süßigkeiten und Geld – das bereits initiierte Vertrauensverhältnis zu vertiefen.136 Wenn jenes Vertrauensverhältnis einigermaßen gefestigt ist, bringen sie die jungen Frauen entweder nach Russland oder zu einem anderen Zielort, setzen sie dort unter Drogen und unterstellen sie somit ihrer permanenten Kontrolle.137 Zum Teil spielen ihnen verwandte oder fremde ›Cousins‹ zudem vor, sie zu lieben und umgarnen sie mit Aufmerksamkeit und scheinbarer Liebe, die sie zu Hause nie bekamen. Durch diese intensive Zuwendung, die häufig mit der Gabe von weiteren Geschenken einhergeht, erlangen sie das Vertrauen der jungen Frauen, und es gelingt ihnen in der Folge oftmals, sie zu verführen, wodurch diese ihre Jungfräulichkeit verlieren.138 Der Verlust dieser sexuellen ›Unschuld‹ bedeutet in tschetschenischen Kreisen, die zumeist sehr puritanisch geprägt sind und bei denen oftmals, in ähnlicher Weise wie in anderen Kulturen auch, die »Ehre der Familie« über die Frau139 definiert wird, eine zusätzliche ›Schande‹, die die Tochter ihrer Familie – neben der beruflichen und familiären Ausweglosigkeit durch ihren Single-Status – bereiten würde.140 Aufgrund der geschilderten, perfiden Vorgehensweise der ›Anwerberinnen‹, den arrangierten sexuellen Kontakten und dem damit einhergehenden scheinbaren ›Ehrverlust‹ der jungen Frauen, willigen diese infolge ihrer scheinbar ›allgemeinen‹ Ausweglosigkeit ein, ihr Leben ›für‹ Tschetschenien, die Muslime oder die ›gemeinsame Sache‹ hinzugeben.
Warum immer noch die Frauen hierfür instrumentalisiert oder benutzt werden, ergibt sich zum einen aus der Annahme, dass weibliche Attentäterinnen weniger oft kontrolliert werden als männliche, weil man dem weiblichen Geschlecht diese Form der Gewaltanwendung weniger zutraut.141 Zum anderen ergibt sich dieser Umstand aus der Tatsache, dass männliche Tschetschenen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, denen noch immer in Tschetschenien ansässigen russischen Milizen als potentielle Gefahr für die russische Obermacht gelten. Jene russische Hegemonie über Tschetschenien wird durch den tschetschenischen Verbündeten des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Präsident Ramzan Kadyrow, und seine Milizionäre vertreten, die die jungen Tschetschenen häufig entführen und körperlicher142 sowie sexueller Misshandlungen unterziehen. Um ihren Söhnen diese Torturen zu ersparen, bringen ihre Mütter sie zumeist vor dem Erreichen der Adoleszenz ins benachbarte Ausland.143
Eine weitere Gruppe junger Tschetscheninnen hat sich für den Dschihad entschieden, weil sie sich aufgrund der Erzählungen der Familie, wie »schön und wild Nokhchi Mokhk« vor der Okkupation durch die Russen gewesen sei144 und was diese den Tschetschenen angetan hätten und noch immer antun,145 in der Pflicht sahen bzw. sehen, in den Kampf zu ziehen.
Demnach sehen sich viele Frauen auch selber nicht als Opfer ihrer Umgebung oder Indoktrination, sondern als Täterinnen, Verantwortliche oder als Kämpferinnen.146 Es ist fraglich, inwieweit sie eigenverantwortlich handeln, da sie zweifellos kurz vor den Selbstmord-Anschlägen häufig nicht mehr willens sind, diese Befehle auszuführen.147 Da es hiervon sehr viele Fälle gab, gingen diejenigen, die sie dazu überredeten, sich selbst in die Luft zu sprengen, dazu über, die Bomben an ihren Körpern per Fernzündung zu bedienen, um ›sicherzustellen‹, dass die Bomben auch gezündet würden und ihre ›Ziele‹ erreichten.148 Hinzu kommt die Drogenzufuhr, die diese jungen Frauen kurz vor der Tat erhalten, um wie ›ferngesteuert‹ zu reagieren und sich keine eigenen Gedanken mehr über ihr Handeln machen zu können.149
Im Falle der drei ausgewerteten Interviews handelt es sich um Frauen, die der ersten Gruppe, die hier als Witwe definiert wird, der zweiten Gruppe, die in der vorliegenden Untersuchung als ältliche Tochter bezeichnet wird, sowie der vierten Gruppe, die als Traditionsbewusste charakterisiert wird, angehören.150
6.Methodik und Vorgehensweise
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine qualitative Sozialforschung, deren Datenerhebung in einer Kombination aus narrativen und leitfragengestützten Interviews erfolgte. Der narrative Interview-Ansatz ermöglicht die Illustrierung des spezifischen Werdeganges und Lebensbereichs der Tschetscheninnen und bietet somit die Chance der Abbildung einer Typologie biographischer Verlaufsformen.151 Der Leitfaden-Aspekt manifestiert sich innerhalb der Interviews anhand von 17 Fragen zu den persönlichen Daten der Respondentinnen, den Strukturen, dem Aufbau und Zielen der Szene sowie durch Umgebungs- und Gewaltbezugsfragen, die nicht einer statischen Reihenfolge folgten, sondern variabel zum Einsatz kamen. Diese Vorgehensweise gestattete eine authentischere und ungezwungenere Interviewsituation, durch die die Innenansichten der Motivlagen der Respondentinnen sichtbar gemacht werden konnten.152
Zum Zweck der hermeneutischen Entschlüsselung spezifischer Daten-Muster und deren Entstehungsbedingungen wurden jeweils vier Analyse-Kategorien nach Strauss und Korbins Methodik des offenen, axialen und selektiven Kodierens herausgebildet, die als Vergleichspunkte zur Auswertung der unterschiedlich sozialisierten jungen Frauen dienen sollen und dazu geeignet erscheinen, deren spezifisches Dschihad-Verständnis als zentrales Phänomen herauszuarbeiten.153 Es handelt sich dabei um die folgenden Kategorien:
1)Die Identitätskonstruktion: die familiäre und berufliche Situation
2)Die Selbst- und Fremdwahrnehmung
3)Das grundsätzliche Dschihad-Verständnis sowie die individuellen Motivlagen zur Dschihad-Teilnahme
4)Die eigene Religiosität sowie die Einstellung gegenüber anderen religiösen und ethnischen Gruppen.
Es wird vermutet, dass die Dschihadistinnen aus unterschiedlichen Gründen im kriegerischen Dschihad einen Fixpunkt sowie eine Identifikationsmöglichkeit für sich selbst gefunden haben. Diese unterschiedlichen Beweggründe für das Interesse und die Partizipation am Dschihad werden mit den biographischen und nationalen Hintergründen der Interview-Partnerinnen kontextualisiert. Hieraus wird eine weitere Hypothese abgeleitet, die zugleich ein Parameter für die individualisierte Präventionsarbeit darstellen könnte: Die familiäre Umgebung, in der die drei Dschihadistinnen aufwuchsen, scheint dazu geeignet, ihre jeweilige Entscheidung für den Dschihad
(un-)bewusst
zu beeinflussen und zugleich ausschlaggebend dafür zu sein, dass sie mittels des Dschihad realpolitische Ziele verfolgen.
Aufgrund der besonderen Umstände, die ein Interview mit gewaltaffinen Akteurinnen kennzeichnet, da diese stets im ›Geheimen‹ agieren (möchten), um möglichst wenig Aufmerksamkeit bei den staatlichen Akteuren zu erzielen und folglich auch die Interviewerin selber in diese Art von ›Geheimhaltungspflicht‹ miteinbeziehen, damit sie sich ihr inhaltlich öffnen, ist es notwendig, ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen der Interviewerin und den Respondentinnen aufzubauen. Dieses spezifische Verhältnis und dessen Wechselwirkungen lassen sich anhand des folgenden Schaubildes dezidiert veranschaulichen:
* Abb. I: Vertrauensverhältnis zwischen der Interviewerin und den Interview-Partnerinnen, eigene Darstellung
Das Vertrauensverhältnis zwischen den Interview-Partnerinnen und der Interviewerin wurde im vorliegenden Fall in zwei Hauptkategorien unterteilt: Die erste Kategorie der notwendigen Wechselseitigkeit, die das ›Zugeständnis‹ des Freiraums der Interview-Partnerinnen und die Akzeptanz der Tatsache, dass es sich bei den Aussagen der jungen Frauen lediglich um eine subjektive Momentaufnahme und einen Teilabschnitt ihrer Biographien handelt, sowie die zweite Kategorie der Handlungen, die den Zugang zu den Respondentinnen erschweren oder erleichtern können, wozu die Kenntnis des sozialen und religiösen Umfeldes und des besonderen Misstrauens der Interview-Partnerinnen aufgrund deren spezifischer Sozialisation gehören. Beide Kategorien wurden im Sinne eines möglichst ›vertrauensvollen‹ Zusammenarbeitens während der Interviews zu konstituieren versucht. Da sich eine solche Atmosphäre grundsätzlich erst nach einem längeren Kennenlernen und einem intensiveren inhaltlichen Austausch kultivieren lässt, erklärt dies zum Teil die wie ›ferngesteuert‹ anmutenden Aussagen der seit frühester Kindheit ideologisierten Respondentinnen, wie im Verlauf der vorliegenden Untersuchung erkennbar werden wird.
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