Kitabı oku: «Anna Q und die Suche nach Saphira», sayfa 3
Ein seltsamer Traum
Anna liegt noch längere Zeit wach in ihrem Bett. Das ängstliche Kreischen des Vogels taucht immer wieder in ihrem Kopf auf, während die Regentropfen gegen das Fenster trommeln und Blitze in unregelmäßigen Abständen den Raum erhellen. Bei jedem einzelnen Donner zuckt das Mädchen zusammen. Sein Vater Aedan hat ihm einmal erklärt, was bei einem Gewitter passiert. Besonders im Sommer, wenn die Hitze warme Luft aufsteigen lässt, wird auch Feuchtigkeit aus dem Boden oder Gewässern mitgerissen. Diese kühlt ab, je höher sie steigt. Es entstehen Wolken, die sich zu hohen Gebilden auftürmen. Im Inneren und gegenüber zum Erdboden bilden sich dadurch elektrische Spannungen, die schließlich über die Blitze entladen werden. Diese Lichterscheinungen entstehen durch den Ladungskurzschluss, bei dem ein riesiger elektrischer Strom fließt, der dabei die Luft explosionsartig erhitzt. Die dehnt sich aus und zieht sich beim Abkühlen wieder zusammen, was zu einer Druckwelle führt, die als lautes Grollen und Knallen zu hören ist. Anna erinnert sich, dass ihr Vater ihr einschärfte, dass das Gefährliche beim Gewitter also nicht der Donner, sondern die vorher auftretenden Blitze seien. Sie weiß von ihm, dass diese von hohen Punkten im Gelände angezogen werden. Das können Gebäude oder Bäume sein, aber auch Tiere und Menschen, wenn sie auf einer freien Ebene von einem Gewitter überrascht werden. In dem Fall hilft nur, sich so klein wie möglich hinzuhocken und die Füße eng nebeneinanderzustellen. Am besten hält man sich bei dieser Naturerscheinung in einem Gebäude auf, dass mit einem Blitzableiter versehen ist. Strom wird von vielen Metallen sehr gut geleitet. Deshalb wird das für die Erstellung dieser Schutzeinrichtungen genutzt, um die gefahrbringenden Blitze sozusagen einzufangen und unschädlich in den Boden zu leiten. Derartige Blitzableiter gibt es auf allen Gebäuden des Internats. Das hatte ein Professor in einer der ersten Physikstunden erläutert. Obwohl Anna dies gerne glauben will, fürchtet sie bei jedem neuen Blitz um die Wirksamkeit dieser technischen Einrichtung. Die lauten Donnerschläge lassen sie ängstlich zusammenfahren.
Schließlich wandern ihre Gedanken zu ihrem Vater Aedan und ihrem bisherigen Leben. An ihre Mutter erinnert sie sich nicht, da diese kurz nach Annas Geburt gestorben ist. Sie kennt sie natürlich von Bildern und aus Erzählungen, aber das ist nicht das Gleiche. Aus Gesprächen mit ihrer Großmutter weiß sie, wie sehr ihr Vater nach Mutters Tod gelitten hat. Er vernachlässigte die Arbeit, um rund um die Uhr für seine Tochter da zu sein. Die beiden zogen Anna trotz dieser widrigen Umstände gemeinsam und sehr liebevoll auf. Als Aedan schließlich wieder regelmäßig seiner Arbeit als Wissenschaftler an einer angesehenen Universität nachging, versuchte er trotzdem, so viel Freizeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Als sie vier Jahre alt war, begann er mit ihr Schach zu spielen, da sie kein Interesse für Puppen zeigte. Als sich die Grundschulzeit dem Ende neigte, starb die Großmutter. Zu der Zeit wurde Annas Vater die Leitung einer Forschungsreise an den Südpol angeboten, weshalb sie gemeinsam nach einem geeigneten Internat suchten. Obwohl sich das Mädchen in den ersten Wochen nicht sicher war, eine gute Wahl getroffen zu haben, ist sie an diesem Abend bereit, das anders zu sehen. Während des Schachspiels zögerte sie vor manchen Zügen nicht deshalb, weil sie unsicher war, sondern, weil sie sich vorstellte, ihrem Vater gegenüberzusitzen. Sie freut sich auf die morgige Revanche gegen Robin und gleitet langsam in den Schlaf.
Zuckende Blitze werfen ihren hellen Lichtschein auf das Bild ihres Vaters und das ihrer Mutter. Auf ihnen ist ein feines, blaues Leuchten zu sehen, das schnell größer wird und in den Raum strahlt. Anna stöhnt im Schlaf und wirft sich unruhig herum.
Ein blau schimmernder, großer, schwarzer Vogel kommt mit ausgebreiteten Schwingen aus einem dunklen, drohenden Himmel herab auf das Mädchen zu. Er gleicht dem Kolkraben, den es befreit hat. Sein Krächzen klingt warnend, doch Anna versteht nicht, was das bedeuten soll. Feine Härchen richten sich in ihrem Nacken auf. Der große Vogel landet in Augenhöhe auf dem weit ausladenden Ast einer Linde. Der bläuliche Schein auf seinem Federkleid wird stärker. Jetzt durchschneidet ein greller Blitz die dunkle Nacht. Er strahlt bis in den Traum. Anna stöhnt erneut, als ihr scheinbar ein glühend heißes Messer zu einem Auge hinein und quer durch Schädel sticht. Für einen kurzen Moment verändert sich der Vogel und nimmt die Gestalt einer jungen Frau mit schwarzem Haar an, die dicht vor ihr steht. Dann hockt wieder der Kolkrabe auf dem Ast. Plötzlich versteht Anna, was der Rabe ihr entgegen krächzt:
»Wir brauchen Hilfe! Hüte dich vor …«
Ein lauter Donnerschlag lässt das Mädchen aufschrecken. Verstört reibt es sich die Augen. Was war das denn für ein Traum? Sofort sucht ihr Blick die Bilder über dem Schreibtisch. Sie benötigt einen Punkt, der Geborgenheit vermittelt. Dort ist ein leuchtender, blauer Schimmer zu erkennen. Anna schüttelt den Kopf und überlegt. Falls sie eine Migräne bekommt, hat sie vorher schon mal Lichterscheinungen gehabt, die aber nicht nur auf einen Ort fixiert waren. Die wanderten mit den Augenbewegungen mit. Dann kommt das schwächer werdende Leuchten wohl nicht von einem Migräneanfall! Der stechende Schmerz ist schon wieder verschwunden und dumpfe Kopfschmerzen bleiben offenbar auch aus. Soll sie trotzdem aufstehen und eine Schmerztablette nehmen? Sie könnte andererseits bei den Bildern nachschauen, woher das Schimmern stammt. Ist es eine Art Lichtreflex, der von draußen hereinscheint? Jetzt ist es ganz verschwunden. Seltsam! Bevor sie zu einem Entschluss kommt, schläft sie wieder ein.
Obwohl Anna die vergangene Nacht kürzer als sonst vorkommt, fühlt sie sich am Morgen ausgeruht. Sie denkt nur kurz an den seltsamen Traum und den bläulichen Schimmer, dann macht sie sich frisch, zieht ihre Schuluniform an und verlässt das Zimmer. Zusammen mit den anderen Schülerinnen des ersten Jahrgangs geht sie zum Haupthaus. Auf dem Weg dorthin kommen sie an der Stelle vorbei, wo sie den großen Vogel aus seinem Gefängnis befreit hatte. Der alte Gärtner steht davor und schüttelt den Kopf. Sie hört ihn verständnislos murmeln, warum die Falle ausgelöst ist, aber kein Tier gefangen wurde.
»Die Biester werden auch immer schlauer! Oder sollte jemand geholfen haben? Die Fußspuren sind gestern nicht hier gewesen, sie gehören zu Kinderfüßen.« Er dreht sich zu den Schülerinnen um und betrachtet sie mit finsterem Blick. Er vermutet offenbar, dass ihm eine von ihnen einen Streich gespielt hat. Er schüttelt stumm eine Faust in ihre Richtung und bückt sich dann zurück zur Falle. Anna nimmt sich vor, sie in der Abenddämmerung zu entschärfen. Sie will verhindern, dass der Vogel erneut darin eingesperrt wird.
Am Eingang zum Speisesaal hängt neben der Doppeltür ein Pinnbrett, auf dem aktuelle Informationen bekanntgemacht werden. Die Ansammlung sich aufgeregt unterhaltender Schüler allen Alters deutet auf eine wichtige Neuigkeit hin. Der Gong erklingt als Erinnerung, dass die Zeit für das Frühstück in fünfzehn Minuten endet. Anna kann endlich einen kurzen Blick auf ein Blatt Papier werfen, das mittig auf dem Pinnbrett befestigt ist. Ein Aufruf in fetten Buchstaben fordert dazu auf, sich bei Interesse auf große Herausforderungen am Nachmittag bis Punkt drei Uhr im Speisesaal einzufinden. Weitere Informationen und von wem dieser Ausdruck stammt, gibt es nicht. Das Mädchen schüttelt wie viele vor ihm den Kopf. Was soll das denn bedeuten? Wird hier auf die Begabung der Schüler gesetzt, sich selbst einen Reim darauf zu machen? Aber Anna hat keine Idee, was damit gemeint sein könnte. Die Anhaltspunkte sind einfach zu gering. Achselzuckend wendet sie sich ab und betritt den Speisesaal. Sie hat sich zu der Zeit mit Robin zum Schachspiel verabredet, so dass die seltsame Zusammenkunft für sie entfällt. Vielleicht hat der Junge eine Idee, worum es geht, doch sie kann ihn nirgends entdecken. Viele der Plätze sind bereits leer, da nicht alle Schüler so spät wie die Neulinge zum Essen kommen. Schnell setzt sie sich zu den Mädchen ihres Jahrgangs und greift sich einen Toast. Sie hat nicht viel Zeit für das Frühstück, bestreicht die Scheibe mit Orangenmarmelade und nimmt einen Schluck Kakao. Vor lauter Eile verbrennt sie sich fast den Mund.
Heute stehen zuerst Geschichte und danach Mathematik auf dem Plan, gefolgt von Physik und Muttersprache. Die ersten beiden Fächer gehören neben Kunst zu Annas liebsten, weshalb sie sich mit dem Essen beeilt. Sie möchte nicht zu spät im Klassenzimmer erscheinen. Als sie mit den anderen Mädchen aufspringt, müssen sie rennen. Der Weg bis in den ersten Stock ist noch weit, aber sie schafft es, pünktlich auf ihrem Platz zu sitzen.
Herausforderung
Der Vormittag geht schneller vorbei, als Anna zuerst vermutet. In Geschichte handelt der Unterricht von den Wikingern und ihren Überfällen. Bei den Berichten über die Eroberung von fast allen bisherigen Königreichen in England und der Bildung eigener, fiebert sie mit, wobei sie nicht sagen kann, auf welcher Seite sie dabei steht. Der kühle Mathematikunterricht zieht sich dagegen schon mehr, trotzdem verfliegt auch diese Doppelstunde, da die Hälfte des Unterrichts mit freiwilligen Knobelaufgaben gefüllt wird, die das neu Erlernte festigen sollen. Anna ist stets eine der Ersten, die die Aufgaben löst und dazu noch fehlerfrei. Die Professorin schaut sie lächelnd an.
»Anna, du bist ein richtiges Mathe-Ass!« Das sagt sie so leise, dass die weiteren Schüler nichts davon mitbekommen, um das Mädchen nicht als Streberin aus der Masse herauszuheben. Die anderen sind jedoch nicht wesentlich langsamer als sie, obwohl deren Lösungen manchmal kleinere Fehler aufweisen.
Der Physikunterricht nutzt das Gewitter des vergangenen Abends, um die dabei auftretenden Vorgänge zu erläutern. In kleinen Experimenten wird die statische Aufladung der Luft und der Wolkenschichten demonstriert, die sich schließlich in heftigen Blitzen entlädt. Der Raum wird verdunkelt. Eine Wolldecke wird von einigen mutigen Schülern über den Kopf gezogen. Während sie dabei die Augen offen halten, können sie kleine Blitze als Folge einer statischen Entladung sehen. Der Professor erläutert, dass dies in ungefährlicher Form dasselbe sei, wie in der Natur das Gewitter in größeren Dimensionen.
Nach einer kleinen Unterbrechung für eine Mittagspause steht Sport auf dem Plan, dann werden die Schüler in den Nachmittag und zur freien Gestaltung entsprechend ihren Neigungen entlassen.
Anna kann es kaum erwarten, das Schachspiel gegen Robin bestreiten zu können. Sie stürmt von den Sportstätten in das Haupthaus des Internats und rennt durch den Flur zur Bibliothek. Einmal muss sie plötzlich bremsen. Um eine Ecke biegend wäre sie sonst direkt in eine Gruppe diskutierender Schüler gerast. Sie gehören in die fünfte Schulklasse und schütteln verstehend die Köpfe. Es ist typisch für viele Kinder des ersten Jahrgangs, dass sie andauernd meinen, etwas zu versäumen.
Anna bremst nach wenigen Momenten erneut ihren Lauf. Was ist los? Warum steht Robin vor dem Eingang zur Bibliothek und geht nicht hinein? Sie stutzt. Er wartet doch wohl nicht auf sie, damit sie gemeinsam den Lesesaal betreten können? Ein frohes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
»Robin. Das ist aber nett von dir, auf mich zu warten!« Der Junge antwortet verlegen:
»Hallo Anna. Ehrlich gesagt stehe ich nicht im Flur, damit wir gemeinsam hineingehen können. Es ist vielmehr so, dass die Tür versperrt ist. – Hast du heute Morgen einen diesbezüglichen Hinweis an der Pinnwand zum Speisesaal bemerkt?«
»Nein. Dort hing nur eine seltsame Notiz, in der es um Interesse an großen Herausforderungen ging. Das habe ich nicht verstanden. Du?« Der Junge blickt grübelnd erst sie, dann seine Armbanduhr an.
»Es passt nicht zu Professor Mulham, nicht wenigstens für eine Vertretung in der Bibliothek zu sorgen. Das im Zusammenhang mit der Notiz ist seltsam. Ob sie der Urheber der Nachricht ist?« Ein auffordernder Blick genügt, dann stürmen beide im Laufschritt Richtung Speisesaal. Die Turmuhr schlägt drei Mal, als sie die Saaltüren öffnen und hineinstolpern.
»Das war auf dem letzten Drücker!« Gleichzeitig mit diesem Ausspruch verriegelt Morwenna Mulham die Eingangstür und geht langsam zum erhöhten Podest, auf dem die Tische stehen, an denen die Professoren des Internats am Essen teilnehmen. Robin und Anna schauen sich an, dann folgen sie der Professorin weiter in den Raum hinein. Nur wenige Plätze der langen Tischreihen sind besetzt, es mögen insgesamt etwa zwanzig Anwesende sein.
Die Lehrerin blickt die Schüler einen nach dem anderen an. Anna meint, ein freudiges Aufleuchten ihres Blicks zu bemerken, als der auf Robin und ihr ruht, so wie vorhin am Eingang.
»Ihr habt also Interesse an großen Herausforderungen!« Pause. »Dass ihr ohne weitere Erläuterungen gekommen seid, beweist eine gewisse Neugier, und das ist gut!« Pause. »Hat jemand von euch eine Idee, worum es gehen mag?« Pause. Ein Schüler der fünften Klasse erhebt sich und wartet, bis ihm das Wort erteilt wird.
»Sie sind doch die Bibliothekarin. Hat es etwas mit Büchern zu tun, möglicherweise die Verfolgung einer alten Spur, die in einem Wälzer erwähnt wird?«
Die Professorin schaut ihn lange an, bevor sie entgegnet:
»Die Möglichkeit könnte bestehen, trifft aber nicht zu. Trotzdem danke ich dir, da du damit einen Gedanken in meinem Kopf angestoßen hast, den ich verfolgen werde!« Der Jugendliche blickt in die Runde und setzt sich. Anna hatte erwartet, ein Kichern zu hören, so wie es ihr manchmal in der Grundschule ergangen ist. Doch das passiert nicht. Sie atmet erleichtert auf. Offenbar sind die hier versammelten Schüler reifer als andere, oder es liegt an der streng blickenden Professorin. Anna schaut zu ihr hin und stellt eine Änderung fest. Sie blickt heute viel freundlicher als sonst. Ein feines Lächeln umspielt ihre Lippen, als ihre Augen lange in ihre schauen. Es wirkt so, als ob sie das Mädchen zu einer Antwort auffordern würde.
Jetzt erhebt sich eine Schülerin, die in Robins Jahrgang ist.
»Ja? Wie lautet dein Vorschlag?«
»Machen wir eine Forschungsreise? Vielleicht einen Ausflug zu einer archäologischen Ausgrabung?«
»Das wäre sehr interessant«, denkt Anna. Ihre Gedanken wandern sofort wieder zu den Wikingern, doch die Professorin verneint. Der nächste Schüler schlägt einen Rätselwettkampf vor. Aber das wird genauso wie ein Logikwettbewerb als nicht zutreffend bezeichnet. Die Spannung steigt mit jedem Vorschlag und seiner Verneinung. Jetzt erhebt sich Alexander.
»Da sie keinen Sportunterricht erteilen, entfällt ein entsprechender Ausflug zu einem Wettkampf. – Wollen sie ein Wissensturnier austragen, dessen Kategorien aus verschiedenen Fächern gebildet werden? Sozusagen einen Zehnkampf über geistige Herausforderungen?«
»Ich danke dir für diese Anregung«, beginnt Professor Mulham. »Aber das ist es auch nicht, obwohl das einen großen Reiz hätte. Hat sonst niemand einen Vorschlag? Was ist mit euch beiden?« Sie schaut jetzt direkt zu Anna und Robin. »Liegt euch nicht die Lösung auf der Zunge?«
»Was meint sie wohl?«, rätselt der Junge an Anna gewandt.
»Sie schaut uns so seltsam an, ob sie damit auf unsere Partie von gestern anspielt?« Das Mädchen fast sich nach dieser Frage ein Herz und steht auf.
»Ich glaube, du hast die Lösung, stimmt’s?« Die Professorin ist gespannt.
»Wenn es das ist, worauf sie mich und Robin vermutlich hinweisen wollen, dann …« Sie stoppt.
»Ja?«
»Dann geht es um Schach. Wollen sie ein Schachturnier ausrichten?«
»Du hast es fast getroffen, Anna. Das ist doch dein Name, richtig? Gut. Ich möchte eine alte Tradition dieses Internats wieder aufleben lassen. Früher nahm unser Haus an Schachwettkämpfen teil, die zwischen den Schulen des Landes ausgetragen wurden. Dafür ist es erforderlich, eine Mannschaft aus Spielern in verschiedenen Altersklassen zu bilden. Gerade in den jüngeren Jahrgängen ist es aber schwierig, geeignete Kandidaten zu finden. Gestern habt ihr mich beeindruckt, was mich sofort auf die Idee brachte, die alte Tradition wieder aufleben zu lassen.« Ein Murmeln unter den Schülern entsteht. Etwa die Hälfte gibt zu verstehen, kein Interesse an turniermäßigem Schachspiel zu haben. Die Professorin dankt für ihr Kommen und schließt ihnen die Tür auf. Währenddessen ruht Alexanders nachdenklicher Blick auf Robin und Anna. Sollte er das Mädchen doch unterschätzt haben? Er ist trotzdem überzeugt, gegen sie mit Leichtigkeit zu gewinnen.
Morwenna Mulham trägt die verbliebenen Schüler mit Namen, Alter und Jahrgang in eine Liste ein. Sie vereinbaren anschließend, sich in den nächsten Wochen mindestens jeden zweiten Tag zum Üben zu treffen. Als Ort dafür wird der Lesesaal gewählt und der Beginn auf fünf Uhr nachmittags festgelegt. Professor Mulham verspricht, sich darum zu kümmern, dass sie auch nach der offiziellen Zeit fürs Abendessen etwas bekommen werden. Die Zeit für ein Spiel kann wesentlich länger als eine Stunde dauern, wie sie aus Erfahrung weiß. Der erste Tag soll der morgige sein.
»Falls jemand von euch noch einen möglichen Teilnehmer kennt, sprecht ihn an und bringt ihn einfach zur Übungsstunde mit. »Stunde« ist dabei nicht wörtlich zu nehmen, da manche Spiele sicher länger dauern werden.« Die Professorin nickt Anna und Robin lächelnd zu. »Wenn die ersten Übungen zufriedenstellend verlaufen, melde ich euch und damit unsere Schule zur Teilnahme am Winterturnier an.« Mit einem freundlichen Lächeln entlässt sie alle. Die beiden begleiten sie anschließend in die Bibliothek, um die verabredete Partie auszutragen. Während des Spiels verspürt Anna erneut den brennenden Schmerz im Kopf. Sie kneift die Augen zusammen, sagt jedoch nichts. Sie grübelt:
»Weshalb habe ich jetzt zum dritten Mal eine Migräneattacke? Eine könnte von den schnellen Folgen von Helligkeit und Dunkelheit beim Gewitter ausgelöst worden sein. Aber die Häufigkeit der Anfälle ist seltsam und ihr Verlauf ist auch anders als alle früheren.« Sie findet keine einleuchtende Erklärung. Die anschließenden Züge misslingen ihr derart, dass Robin sie besorgt anschaut.
»Geht es dir nicht gut? Sollen wir Schluss machen? Wenn du möchtest, biete ich dir ein Remis an.«
»Das ist nicht nötig. Ich gebe mich geschlagen.« Mit blassem Gesicht erhebt sie sich. Der Schmerz lässt bereits nach und sie verabschiedet sich von dem Jungen.
»Wir sehen uns morgen. Bis dahin.« Doch Robin begleitet sie noch mit besorgter Miene durch den Flur, bis sie ihm zu verstehen gibt, im Park etwas Luft schnappen zu wollen. Zum Abendessen ist sie rechtzeitig wieder zurück und nickt lächelnd in Robins Richtung, der ein gutes Stück entfernt in der gleichen Reihe sitzt.
Anderswelt
Anna liegt im Bett, kann jedoch nicht schlafen. Ein lautes Kreischen lässt sie aufschrecken. Sollte die Durchlauffalle erneut ein Opfer gefangen haben? Jetzt fällt ihr siedend heiß ein, dass sie das Ding entschärfen wollte. Nach ihrer neuen Migräneattacke beim Schachspiel drängte es sie nach dem Essen nur noch in ihr Zimmer und so hatte sie es glatt vergessen. Dort angekommen, konnte sie aber nicht einschlafen und wälzte sich unruhig hin und her. Sie zog sich die Bettdecke sogar über den Kopf, um die geringe Helligkeit der Abenddämmerung auszusperren. Doch alles half scheinbar nicht.
Erneut kreischt es laut. Sie steht auf und geht zum Fenster hinüber. Seltsam. Vorhin waren doch keine Gewitterwolken zu sehen und es war auch keineswegs schwül. Trotzdem wetterleuchtet es am Horizont und das Donnergrollen wird schnell lauter. Das Unwetter kommt offenbar näher. Anna springt in ihre Sachen, greift sich die Taschenlampe und eilt aus dem Zimmer.
Im Haus ist es seltsam ruhig. Sollten bereits alle Schülerinnen in den Federn liegen? Das Mädchen zuckt die Schultern. Egal was der Grund dafür sein mag, das gefangene Tier muss dringend gerettet werden. Anna möchte das schaffen, bevor sie draußen vom Gewitter überrascht wird. Als sie im Freien steht, prasseln die ersten, dicken Regentropfen aus den drohenden Wolken. Ein greller Blitz lässt die Umgebung hell erscheinen und blendet sie. Anna verharrt erschrocken im Eingang. Automatisch zählt sie die Sekunden und multipliziert das Ergebnis mit 300.
»Der Blitz war nur etwa 4200 Meter entfernt«, ergibt die aus dem Unterricht erlernte Formel. »Ich wage es trotzdem. Das Tier wird sicher halb verrückt vor Angst sein.« Noch bevor sie die Stufen zum Weg hinuntergeht, beginnt die Turmuhr die Zeit zu verkünden. Auf dem Weg zur Giebelseite zählt sie die dumpfen Glockenschläge. Als sie mit der Taschenlampe unter den Haselstrauch leuchtet, ist sie bei Zwölf angelangt. Mitternacht! »Das erklärt, warum es so still im Haus ist, bedeutet aber auch, dass ich eingeschlafen sein muss«, überlegt Anna. Der Lichtkegel durchdringt kaum die vielen, silberhellen Regentropfen. Das Mädchen blickt suchend umher, doch die Durchlauffalle steht nicht mehr am bisherigen Platz. Ein blendend heller Blitz macht die Nacht zum Tag, dann grollt der Donner ohrenbetäubend. Das Gewitter ist fast direkt über dem Mädchen, doch das beachtet es nicht. Die nächste Lichterscheinung zeigt ihr, wo die Falle steht: auf der anderen Seite des Busches. Und eine Bewegung ist darin zu erkennen, bevor die schwarze Nacht alles verschwinden lässt.
Es dauert etwas, bis Annas Erstarrung verschwindet und sie wieder etwas im Lichtkegel der Taschenlampe zu erkennen vermag. Hastig umrundet sie den Busch und hockt sich nieder. Täuscht sie sich, oder ist es derselbe Vogel wie gestern? Er hält den Kopf schräg und klappt die Augendeckel mehrmals auf und zu. Sollte er ihr zublinzeln? Ein leises Kollern ist zu hören, das keinesfalls von seinem Schreck kündet. »So schnell kann er sich doch nicht an mich gewöhnt haben, oder?«, rätselt Anna. Sie entriegelt mit kalten Fingern den Schließmechanismus. »Komm raus, du dummer Vogel. Wie kann man nur zweimal in die gleiche Falle gehen?« Plötzlich zuckt erneut ein Blitz über den Himmel und Anna hält den Atem an. Der Kolkrabe beginnt immer stärker bläulich zu schimmern, dann steht er außerhalb der Falle und krächzt laut, sobald der Donner verklungen ist.
»Das ist manchmal notwendig, besonders dann, wenn du sonst nicht auf Hinweise reagierst!« Diese Antwort des Kolkraben versteht Anna natürlich nicht. Erneut wird es strahlend hell um sie, doch diesmal ist es kein greller Blitz sondern ein gleißendes Blau.
»Das glaub ich jetzt nicht«, denkt Anna. Es sticht kurz in ihrem Kopf, dann wird es schwarz um sie herum. Das Erste, was sie wieder wahrnimmt, sind aufgeregte Stimmen.
»Konntest du das Kind nicht anders zu uns holen?«
»Es wirkt viel jünger, als ich gehofft habe!«
»Und du bist sicher, die Richtige ausgewählt zu haben?«
»Bin ich«, knarzt eine raue Stimme. »Sonst reagierte kein Schüler auf mein ängstliches Kreischen, und sie kam sogar mitten in der Nacht während des grässlichen Unwetters zu mir!«
»Hm. Das spricht wirklich für das Mädchen!«
»Aber sie ist noch so klein. Wie soll sie dann gegen die gefährlichen Dämonen bestehen können?« Nach mehreren vergeblichen Versuchen bleiben Annas Augen geschlossen. Sie kommen ihr bleischwer vor. Sie überlegt angestrengt, ob ihr die Stimmen bekannt sind. Die knarzende könnte von dem schwarzen Vogel stammen, schlussfolgert sie aus dem Gehörten. Aber ist das denn möglich? Zu den anderen hat sie keine Idee. Erneut versucht sie, mit großer Anstrengung ihre Augenlider zu öffnen. Das gelingt wieder nicht. Anna möchte sich herumwälzen, denn seltsamerweise scheint sie zu liegen. Was ist denn nur los? Wurde sie vom Blitz getroffen und ist gestorben? Aber warum hört sie dann Stimmen? Sie könnte auch schwerverletzt auf dem Boden unter dem Haselbusch liegen. Vom elektrischen Strom gelähmt und zumindest teilweise scheußlich verbrannt. Aber Schmerzen spürt sie keine und frieren muss sie auch nicht. Obwohl es Sommer ist, müsste sie, durchnässt vom Gewitterregen, wenigstens frösteln. Was bedeutet das alles? Sie kann mehrere flüsternde Stimmen hören, die sich unterhalten und den Raum verlassen, in dem sie auf einem weichen Lager oder einem Bettgestell liegt. Schließlich sind nur noch zwei Personen anwesend, die leise miteinander reden.
»Ainoa, du wartest an … wie heißt das Kind eigentlich? Halt, stopp, sag es lieber nicht!«
»Das ist sicherer, meine Königin!«
»Du bist wohl leichtsinnig geworden, du voreilige Elfe. Das darf noch niemand wissen, deshalb redest du mich besser nicht so an!«
»Aber das Mädchen ist bewusstlos. Eine magische Reise in unsere Anderswelt ist für einen Menschen sehr anstrengend, besonders für ein Kind.«
»Das war schon immer so, zumindest beim ersten Mal. – Was ich sagen wollte, du wartest an seiner Seite, bis es aufwacht. Dann wirst du ihm erklären, wo es ist und was wir wollen.«
»Immer ich!«, mault die knarzige Stimme.
»Keine Widerrede! Du weißt genau, dass ich diese Aufgabe den anderen nicht übertragen kann. Wenn die Kleine aufwacht, könnte sie beim Anblick von Dragon-tan einen tödlichen Schock bekommen. Die Menschen würden ihren Tod natürlich nicht mit uns in Verbindung bringen, bis auf die wenigen, die von unserer Existenz wissen. Wenn das Kind dann in ihrer Welt gefunden wird, würde das einem Blitz zugeordnet werden, dafür haben deine magischen Kräfte gesorgt. Aber wir haben mittlerweile schon so viele Tage auf die Hilfe eines geeigneten Menschen gewartet, da ist es besser, das Kind nicht unnötig dieser Gefahr auszusetzen. Die Aufgabe, die es erledigen soll, ist gefährlich genug!«
»Na gut, Katherin! Was macht ihr in der Zwischenzeit?« Auch wenn Ainoa ihre Zustimmung gibt, klingt sie nicht begeistert.
»Was schon? Wir versuchen, einen möglichen Plan zur Rettung Saphiras aufzustellen. Da der von dir auserwählte Mensch noch so jung ist, müssen wir den bisherigen anpassen. Mit magischen Schwertern oder unseren Elfenbögen kann die Kleine sicher nicht umgehen. Sie ist ja fast noch ein Baby.«
»Ich bin kein Baby!«, versucht Anna, empört einzuwerfen. Doch genau wie die Augen, gehorchen die Stimmbänder ihr nicht. »Was mag das für eine Aufgabe sein und welche Person kann so schreckenerregend aussehen, dass ich offenbar auf ihren Anblick vorbereitet werden muss?« Katherin entfernt sich und ermahnt die Elfe noch einmal:
»Und bereite das Kind auf den Anblick von Dragon-tan vor!« Dann hat sie den Raum verlassen. Ainoa zieht sich einen Stuhl neben die Liege, was Anna aus dem dabei verursachten Geräusch folgert. Die junge Elfe murmelt etwas vor sich hin. Vermutlich redet sie sich den Frust über diese Aufgabe von der Seele.
Plötzlich durchströmt ein warmer Impuls das Mädchen. Es vermag die Augen zu öffnen und bemerkt einen goldenen Schimmer, der von über ihm gehaltenen Händen ausgeht. Das leuchtende Licht fließt auf Anna zu und scheint die Ursache für die sich ausbreitende Wärme zu sein. Sie seufzt erleichtert und kann sich wieder bewegen. Das wird offenbar bemerkt, denn sie vernimmt ein gemurmeltes:
»Inhibeo!« Die bisher ausgestreckten Hände sinken herab und geben den Blick auf ein strenges, aber freundliches Gesicht frei. Es gehört einer jungen Frau, die lange und glatte, schwarze Haare hat und sie mit tiefblauen Augen anschaut.
»Hallo Kleine.« Die Stimme klingt seltsam rau und ähnelt dem Knarzen des Kolkraben, den sie befreien wollte.
»Wo bin ich? Wurde ich von einem blauen Blitz getroffen und liege jetzt auf der Krankenstation?« Dass die junge Frau eine Elfe sein soll, erscheint ihr widersinnig, obwohl sie von der anderen Stimme so bezeichnet worden war. Sie sieht aus wie ein normaler Mensch, dabei sind Elfen doch eher mystische Wesen, die nur in Märchen und Geschichten existieren!
»Keine Angst! Das helle, bläuliche Licht kommt davon, dass ich dich mit in die Anderswelt genommen habe. Halt, warte einen Moment. Du solltest dich nicht so ruckartig erheben!« Anna meint, den Ohren nicht trauen zu können. Vermutlich läuft gerade irgend so ein alberner Streich ihrer Klassenkameradinnen ab. Sie müssen mitbekommen haben, dass sie sich manchmal in eine Traumwelt flüchtet, wenn sie für sich allein ist und auf einer Bank im Park vor sich hin träumt. Möglicherweise hat sie dabei gesprochen, was von anderen gehört wurde. Ja, das muss es sein! Sie sinkt auf das Bett zurück, da ihr unversehens schwarz vor Augen wird. Erst nach einiger Zeit vernimmt sie wieder die knarzige Stimme, die für eine junge Frau untypisch ist.
»... du dich vorsehen. Hörst du eigentlich, was ich sage?«
Anna öffnet ihre Augen erneut und schüttelt langsam den Kopf.
»Nein, ich habe nicht alles gehört, was du sagtest. Du behauptest, mich in eine Anderswelt geholt zu haben. Was soll das sein und wer bist du?« Das Mädchen spürt zwar das Verlangen, sich aufzurichten, unterlässt es aber vorläufig noch.
»Ich bin eine Elfe und werde Ainoa genannt. In eurer Welt erscheine ich meist als Kolkrabe, weshalb meine Stimme auch rauer, als die anderer Elfen klingt.« Sie grinst Anna verschwörerisch an. »Hast du noch nie etwas von der Anderswelt gehört? Sie ist durchaus nicht unbekannt in eurer Welt, aber nur wenige Menschen wissen von ihr oder waren hier. – Hm, wie soll ich dir das nur erklären? Ich versuche es mal, da Katherin das von mir fordert.«
»Ist sie wirklich eine Königin und warum darf das niemand wissen?«
»WAS SAGST DU? Woher weißt du das?« Ainoa ist aufgesprungen und starrt erstaunt auf Anna hinab. Ein heller, blauer Schimmer breitet sich im Raum aus. »Bist du womöglich bereits einmal hier gewesen und spielst mir das Unschuldslamm vor? Wenn das so ist, wäre es besser, ich bringe dich wieder zurück. Du könntest ein großes Unheil anrichten.« Anna versucht, den Redefluss mehrmals zu unterbrechen. Jetzt gelingt es endlich.