Kitabı oku: «Terra Aluvis Vol. 1», sayfa 4

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Der nunmehr tosende Strom Tical und seine Bäche traten über ihre Ufer und tauchten die Wiesen und Weiden des Umlandes in ihre Untiefen. Einige Fischerboote lösten sich mit klappernden Segeln und scheppernden Ketten von den Anlegestellen und trieben durch die Strömung ins tobende Meer davon.

Dann fuhr plötzlich ein besonders greller Blitz vom Himmel zur Erde hinab und schlug in eine hölzerne Ruine außerhalb der Stadt auf einem Abhang ein. Er entfachte in ihr ein solch verzehrendes Feuer, dass selbst die schwersten Wolkenschauer der Nacht eine geraume Weile brauchten, um die sengenden Flammen vollständig zu tilgen.

Lewyn zuckte bei dem darauffolgenden Donner­­grollen zusammen und rutschte an der Wand hoch, wo er die Beine mitsamt Bettdecke an sich heranzog und nachdenklich aus dem hohen Fenster seines Zimmers blickte.

Mensch, er fürchtete sich ja noch immer vor Gewittern …! Der Blonde lächelte traurig und seufzte … Was Sacris wohl jetzt tat …? Schlafen vermutlich, wie jeder andere Normalsterb­liche zu dieser späten Stunde. Nur er, Lewyn, konnte keine Ruhe finden, da ihn seine unmittelbar bevorstehende Zukunft so sehr beschäftigte. Ja, davon war er vollkommen überzeugt: Es waren einzig und allein die Reise und die daraus erhofften Erkenntnisse – und nicht zuletzt die große Sorge um Celine! – welche ihn so sehr beschäftigten. Ja, mit absoluter Sicherheit. Einen anderen Grund konnte es gar nicht geben. Wer würde sich denn keine Gedanken vor solch einem bedeutenden Aufbruch machen?

Dann seufzte der junge Mann aber ein weiteres Mal und erinnerte sich plötzlich an jene Zeit, da er und Sacris noch klein gewesen waren und ihr erstes Gewitter gemeinsam erlebt hatten …

Sie hatten damals in den goldenen Wiesen außerhalb der Stadt bei der alten Mühle gespielt, als der Sturm ebenso plötzlich ins Land hereingebrochen war wie in der jetzigen Nacht. Die Jungen hatten, ohne weiter zu überlegen, Unterschlupf in der Mühle gesucht. Doch diese hatte im beständigen Wind dermaßen schaurig laut geknarzt und geknackt, dass Lewyn dadurch fast noch mehr in Angst und Schrecken versetzt worden war als durch das fürchterliche Donnergrollen des Gewitters von draußen.

Sacris wiederum hatte sich einen unentwegten Spaß daraus gemacht, den ohnehin schon schreckhaften, kleinen Blondschopf noch zusätzlich so häufig wie möglich zu erschrecken. Das daraufhin immer wieder erklungene Japsen hatte ihm wohl eine herrliche Freude beschert …

Tz …! Lewyn wäre dort halb gestorben vor Angst – und sein Freund hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als alles nur noch zu verschlimmern …! Tja, das hatte er ihm dafür aber auch am nächsten Tag so heftig heimgezahlt, dass sich Sacris in zehn­facher Ausführung bei ihm entschuldigt hatte.

Der Blonde schüttelte die nostalgischen Gedanken aus seinem Kopf und beobachtete stattdessen stillschweigend, wie die Lichtblitze einander am Himmel jagten. Plötzlich kam in ihm die äußerst seltsame Frage auf, ob sich die Blitze deshalb jagten, weil sie einander nicht leiden konnten, oder ob sie es vielleicht einfach nur taten, weil sie verspielt miteinander kämpfen wollten … nur verspielt kämpfen wollten …

Die prasselnden Wassermassen auf seinen nackten Schultern kümmerten ihn wenig. Der eisig schneidende Wind um seinen klammen Oberkörper störte ihn nicht. Sacris verharrte auf sein Schwert gestützt am Boden bis zu den Knöcheln im Wasser kniend und ließ den Sturm seine Ängste und Befürchtungen mit all der Macht und Gewalt, die er mit sich brachte, hinwegfegen. Mochte sein Freund überleben. Mochte er lebend wieder zu ihm zurückkehren.

~2~

Zum Morgen hin war das Gewitter tiefer ins Gebirge gezogen und hatte die Küste in einem Zustand herrlichster Regenfrische zurückgelassen. Die ersten Menschen liefen schon auf den Straßen Hymaetica Aluvis' umher, um den ein oder anderen abhanden gekommenen Wagen oder Karren wieder zurückzuholen und eventuell aufgetretene Schäden in Ordnung zu bringen. Die Bauern waren vollends damit beschäftigt, nach ihrem Vieh zu sehen und dabei nicht wenige entlaufene Schafe und Reittiere wieder einzufangen. Die Fischer wiederum taten sich zusammen, um ihre Schiffe und verlorene Fracht aus den Gewässern zurück an Land zu ziehen.

Das Wasser auf den Feldern war schon größtenteils in den Boden eingesickert und erlaubte den Gräsern und Blumen, sich wieder aufzurichten und ihre Blätter kräftiger denn je auszubreiten. Der Tical und seine Bäche hatten sich wieder in ihre Becken zurückgezogen und plätscherten munter in gemächlichem Fluss vor sich hin. Die ersten Vögel wagten bereits, zwitschernd den neuen Tag zu begrüßen und sich in die Lüfte zu schwingen. Hier und da mochte manch einer sogar das eine oder andere Kleintier erhaschen, welches aus dem Dickicht über die Wege hüpfte und sich kurz an dem Nass einer Pfütze erquickte, nur um wieder raschelnd im nächsten Gebüsch zu verschwinden. Das Leben nahm langsam erneut seinen gewohnten Lauf und schien die Schrecken der ver­gangenen Nacht schon fast wieder vergessen zu haben.

Unter den Gestalten, die zu jener früh morgendlichen Zeit in der Stadt unterwegs waren, befand sich auch ein junger Mann in einer leichten, dunklen Lederrüstung und einem laubgrünen Umhang. Er trug ein silberglänzendes Schwert und einen Dolch an der Hüfte sowie einen Bogen und Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Sein Haar war honigblond, seine tiefblauen Augen ziemlich unausgeschlafen, aber entschlossen und ungetrübt zum Horizont gerichtet. Auf einem mit Gepäck und Proviant versehenen Schimmel beschritt er seinen Weg aus der Stadt heraus am Tical entlang ins Landesinnere.

Lewyn blickte nicht zurück – es machte keinen Sinn. Statt­dessen sah er zu den kahlen Gipfeln am gewitternden Horizont. Dort, in der Ferne, wo immer noch leises Donner­grollen erklang und sich die dunklen Wolken an den felsigen Berghängen brachen, ja, dort lag sein Ziel. Vierzehn Tage; mehr waren ihm nicht geblieben. Dann musste er das Feld der Himmelsspeere und den Berg des Ahiveth erreicht haben. Er würde den Pass zur Senke des Schicksals bei Henx tief durch das Gebirge des Grauens nehmen, um zu vermeiden, dass er in die westlichen Territorien der 'Anderwesen' kam, wie man sie nannte.

Die Anderwesen bevölkerten die gesamte Westküste bis hoch zum Norden hin, wo ununterbrochen Eis und Schnee vom Himmel fielen und den Ozean selbst zum Erstarren brachten. Manche behaupteten sogar, sie hätten sich bis in die Hochebene des Todes ausgebreitet: einem unwirtlichen Ort klirrender Kälte und frostiger Winde, an welchem kein Mensch – und war er noch so dick in warme Felle eingepackt! – den nächsten Morgen erlebte.

Es gab verschiedene Rassen von Anderwesen und sie alle waren auf ihre Art und Weise intelligent und den Menschen, wenn auch nur entfernt, ähnlich. Eine von ihnen war als 'Exenier' bekannt. Sie waren die ersten, die einem be­gegneten, stieß man an der Küste entlang in den Norden vor. Diese Wesen hatten eine schuppig glänzende Haut, welche an die von Echsen erinnerte, Schwimmhäute zwischen ihren Fingern und kiemenartige Ohrenflossen. Sie waren an sich sehr agil und zäh und konnten nur in schattig feuchten Gebieten, wie an bewaldeten Seen und Flüssen, überleben – so trocknete die Sonne ihre Haut aus, dass es sie verbrennen mochte. Sie waren am schlimmsten auf die Menschen zu sprechen, sofern bei ihren Schnalz- und Zischgeräuschen überhaupt von 'Sprache' die Rede sein konnte. Intelligent waren sie zweifelsohne, aber nicht sonderlich kooperativ. Händler und Reisende mieden ihre Lebensräume in einem großem Bogen, denn sie brauchten keinen Anlass, um jemanden anzugreifen. Als Rechtferti­gung für ihr aggressives Verhalten schien ganz allein die Tatsache zu genügen, dass man noch am Leben war.

Die Menschen erzählten sich von einer weiteren Rasse in den Bergen und Wäldern, die einem weitaus häufiger begegnen mochte, glücklicherweise jedoch wesentlich sanftmütiger zu sein pflegte. Sie wurden von den Menschen 'Tephias' genannt und erinnerten an teils aufrecht gehende, katzenartige Wesen. Sie waren zumindest aus der Ferne her niedlich anzusehen, wie sie sich entweder mit aufgeplustertem Fell in der Sonne fläzten oder gerade süße, reife Früchte von den Bäumen ernteten. Sie zählten eigentlich zu den Pflanzenfressern und lebten wie die Exenier in lockeren Gruppen zusammen. Nicht selten sah man sogar beide Arten in einer größeren Gemein­schaft miteinander leben. Ließ man sie in Ruhe, blieben sie friedlich und ignorierten einen schlichtweg; und so sollte man die Begegnung mit ihnen auch auf sich beruhen lassen. Ansonsten mochte bei dem betroffenen Tephia rasch seine Ader als 'Gelegenheitsfleischfresser' erwachen – und das nur, um den störenden Eindringling loszuwerden.

Einer weiteren, weniger bekannten Art sagte man nach, im kalten Norden zu leben und den ewigen Wintern auf dem Eis die Stirn zu bieten. Kein Mensch hatte sie jemals zu Gesicht bekommen und doch gab es viele Gerüchte über sie …

Einst war ein tollkühner Abenteurer nach langer Vorbereitung zur Hochebene des Todes aufgebrochen, um mehr über sie herauszufinden – so ungestillt war seine Neugierde über ihre rätselhafte Existenz jenseits des Eisgrenze gewesen. Er war nach langen Jahren zurückgekehrt, als man ihn schon längst tot gewähnt und eine Rückkehr für unmöglich gehalten hatte. Seine linke Hand sowie sein linkes Ohr waren abgefroren und das linke Auge vollkommen trüb gewesen. Der endlose Frost hatte seinen Tribut gefordert. Entstellt aber glücklich hatte er seine Aufzeichnungen dem Menschenvolk darbringen wollen. Doch noch bevor es dazu hatte kommen können, war seine Leiche in den Gassen aufgefunden worden – seine Aufzeichnungen entwendet. Nur eines hatte auf eine sonder­bare Art und Weise den Weg zu den Menschen gefunden; nämlich die Tatsache, dass jene Wesen die menschliche Sprache beherrschten. Seine Mitmenschen erwiesen ihm die letzte Ehre, indem sie die von ihm erforschte Art nach seinem Namen benannten: 'Nexus'.

Auch die Elfen in ihren fernen Wäldern jenseits der Wüsten von Rayuv zählten zu den Anderwesen, obwohl sich die Menschen dank der Wissenden mit ihnen verständigen konnten und Frieden mit ihnen geschlossen hatten. Sie nannten sich selbst 'aelyphen' und waren neben den Menschen vermutlich das größte Volk, welches Terra Aluvis je besiedelt hatte. Sie lebten in Symbiose mit der Welt und all ihren Elementen, Tieren und Pflanzen, richteten sich nach den Strömen der Natur und gehorchten der Wahrerin des Gleichgewichts und allen Lebens: ah'nya. Die Menschen hielten nicht viel von dieser – in ihren Augen – primitiven Kultur, waren soweit jedoch froh, jenes zweifelsohne mächtige Volk nicht auch noch gegen sich zu haben.

Es gab einen großen Landstrich an der Westküste, welcher von sanften Hügeln geformt und von fruchtbaren Weiden und reichen Gewässern durchzogen war. Selbst die Winde und Schauer glichen einem süßen Flüstern und leisen Rieseln, wenn sie über jene Wiesen, 'die Auen der Tausend Seen', zogen. Sie waren das heilige Herzstück des Anderreiches und keinem Menschen zugänglich.

Es hieß, einst hatten die Menschen mit den Anderwesen zusammen in jenen Auen gelebt. Eines bitteren Tages war dann etwas geschehen, was die Menschen in Ungnade hatte fallen lassen. Daraufhin hatten sich die Anderwesen gegen sie verbündet und gewaltsam aus ihrem Reich verstoßen – nur wobei es sich bei dieser Tat eigentlich gehandelt hatte, war weitestgehend ungeklärt geblieben. Seitdem hatten die Menschen zusehen müssen, wie sie alleine mit den weniger fruchtbaren Böden des südlichen Gebirges und dem trockeneren Klima zurechtkamen.

Als Lewyn bereits eine ganze Weile geritten war, kam er dann doch nicht umhin, sein Pferd wenigstens einmal zu wenden, um einen letzten Blick auf das so sehr geliebte Hymaetica Aluvis zu werfen …

Glitzernd lag es da in der Bucht des Tical, schillernd im Sonnenlicht, das sich seinen Weg durch die dichten Wolken vom Osten her bahnte und die Hauptstadt der Menschen in all ihrer Pracht erstrahlen ließ. Der Blonde seufzte und wollte sich wieder abwenden, da bemerkte er eine dünne Rauchfahne bei den Weidenhängen südlich der Stadt. Er stockte und flüsterte: "Die alte Mühle …"

Erinnerungen an seine gemeinsame Kindheit und Jugend mit Sacris flackerten in seinem Geiste auf und ließen ihn für einen kurzen Augenblick an seinem Vorhaben zweifeln. Lewyn zögerte und betrachtete noch einmal flüchtig die rauchende Ruine in der Ferne – bevor er heftig den Kopf schüttelte und seine Stute erneut wenden ließ.

Wesentlich schwerer fiel es dem jungen Mann plötzlich, seinen Weg fortzusetzen und weiterzureiten, obwohl er sich immer wieder einredete, dass das Ganze gar keine Bedeutung hatte und dass es so etwas wie 'höhere Zeichen' gar nicht gab, und … und überhaupt sollte er sich endlich zusammenreißen und auf das konzentrieren, was vor ihm lag, anstatt dem nachzutrauern, was er gerade dabei war, hinter sich zu lassen, verdammt nochmal aber auch!

***

"Eure Hoheit …? Eure Hoheit …!" Sacris raunte etwas Unverständliches vor sich hin und öffnete widerwillig die Augen. "Eure Königliche Hoheit, wie lange gedenkt Ihr noch zu schlafen? Die Sonne hat schon längst ihren Zenit überschritten und Seine Majestät, der König, lässt nach Euch rufen."

Der Prinz schloss seine Augen wieder und zog die Decke murrend über den Kopf, wobei er sich zur Seite wegdrehte und keinen weiteren Ton von sich gab – eine eindeutige Reaktion. "Wie Ihr wünscht, Eure Königliche Hoheit. Ich werde Eure Antwort umgehend Seiner Königlichen Majestät ausrichten." Anschließend war ein behutsames Schreiten und das Geräusch einer leise ins Schloss fallenden Tür zu vernehmen.

Sacris hatte seine Lider wieder geöffnet und die Decke umgeschlagen. Er hatte das Gefühl, dass es keinen Muskel an seinem Körper gab, der sich in der vergangenen Nacht nicht verkrampft hatte; und ihn fröstelte es unentwegt, als hätte er die Kälte des Windes selbst in sich aufgesogen. Seine Augen brannten und er fühlte sich einfach erschöpft, müde und ausgelaugt.

Gleichzeitig wusste der junge Mann jedoch, dass er nicht würde schlafen können: Seit dem Morgengrauen war er zwar ab und zu immer wieder in einen leichten Halbschlaf gefallen, doch niemals wirklich zur Ruhe gekommen. Allerdings war ihm gerade auch alles andere als nach Aufstehen und der Begegnung mit seinem Vater – nicht zu vergessen dessen 'allwissendem Berater' und all den anderen aufgeputzten Witzfiguren im Palast. Nein, nein … Er wollte lediglich hier liegenbleiben und-

Die Tür des Zimmers schwang auf und ein alter Mann in purpurnem, mit Pelz umsäumtem Mantel, dunkelblauen Gewändern und einem goldenen, edelsteinbesetzten Stirnreif betrat den Raum. König Rex Faryen schloss die Tür hinter sich und ging zum großen Bett seines Sohnes hin.

Sacris sah nicht auf und ließ seinen Blick stattdessen leer auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. "Sohnemann, so geht das aber nicht …!", begann sein Vater in tadelndem Tonfall, "Müßiggang ist keine der Tugenden, die ich dir beigebracht habe." Sacris verharrte regungslos in seiner Lage und schwieg. Als sein Vater das sah, seufzte er, zügelte sein Temperament und setzte sich auf den Bettrand. Sein nunmehr milder Blick ruhte auf dem matt traurigen Gesicht des Prinzen. "Was hast du nur, mein Sohn …?", fragte er leise, "Was ist geschehen …?" Sacris regte sich daraufhin langsam und sah seinem Vater stumm in die dunklen, braunen Augen …

Nach einer Weile des stillen Blickkontaktes stellte Rex ruhig fest: "Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass jemand gestorben ist. Aber dem ist nicht so, habe ich recht …?", der alte Mann hielt kurz inne und musterte sein Gegenüber aufmerksam, "Sage mir, mein Sohn, wo ist Lewyn?"

Sofort huschte Sacris' Blick wieder zur Wand. Er merkte, wie sich sein Körper bei der Erwähnung jenes Namens von Neuem verkrampfte und ein schmerzhafter Stich durch seine Brust ging. Der König seufzte erneut – doch dieses Mal deutlich schwerfälliger – und stützte seinen Kopf auf einer Hand ab, ohne dabei den besorgten Blick von seinem Sohn abzuwenden …

Wie lebhaft hatte er die beiden Rabauken noch in Erinnerung, als sie ihm damals nicht einmal zur Hüfte gereicht hatten …! Ständig hatten sie etwas Dummes angestellt und es ihm stets verschwiegen, bis dann plötzlich der Bauer oder der Fleischer – der seine 'frechen Unruhestifter' bis in den Palast verfolgt hatte! – an den Toren gestanden und lautstark zeternd Wiedergutmachung gefordert hatte. Oh, wie oft hatte er sich schon für seinen ungezogenen Sohn entschuldigen und schämen müssen! Sacris hatte stets seinen eigenen Dickschädel durchgesetzt, aber dieser Lewyn hatte es tatsächlich geschafft, ihn in seiner Sturheit sogar noch zu übertreffen …!

König Faryen seufzte und entsann sich daran, wie diese kleinen Knaben dann Jahr um Jahr immer mehr zu jungen Männern herangewachsen waren: Lewyn hatte sich trotz aller Schicksalsschläge seine Lebendigkeit und seinen Frohsinn bewahrt; doch Sacris, sein eigener Sohn, war mit dem Tod der Mutter schlagartig ernst und pflichtbewusst geworden – als wäre er zu jenem Zeitpunkt von der Realität eingeholt worden …

Nur ab und zu, wenn Rex die beiden hatte zufällig alleine be­­obachten können, war ihm noch etwas von jener unbefangenen Natur begegnet, welche sein Sohn einst besessen hatte. Ja, es machte für ihn sogar den Anschein, als wäre einzig L­ewyn in der Lage, jene Schale zu durchdringen, die sich Sacris seit jenem unglückseligen Tag geschaffen hatte …

Und nun …? Was war nur geschehen? Was war seinem einzigen, geliebten Sohn widerfahren, dass er so offensichtlich litt ...? Sein Vater wartete auf irgendeine Regung, irgendeinen Hinweis, doch jener schwieg und blieb von ihm abgewandt.

Nach schier endlosen Augenblicken, ohne dass irgendeiner der beiden Männer etwas von sich gegeben hatte, legte der König seinem Sohn eine warme Hand auf die Schulter und drückte diese herzlich. "Ich lasse dir Essen bringen, damit du mir zumindest nicht verhungerst", sprach Rex besorgt, "Iss es bitte wenigstens auf, sonst weiß ich auch nicht mehr, was ich mit dir anstellen soll …" Dann erhob sich der alte Mann, um mit einem weiteren Seufzer aus dem Zimmer hinaus zu schreiten. Die Tür fiel ein weiteres Mal in ihr Schloss – und der Prinz blieb allein zurück.

Diese Stille … Es war auf einmal so unheimlich ruhig, dass Sacris sogar das Rauschen in seinen Ohren hören konnte. Sein Puls war erhöht, ohne dass er sich den Grund dafür erklären konnte – so hatte er sich schließlich in keinster Weise bewegt.

Schweigend lauschte der junge Mann seinem eigenen Herz­schlag … Es war auf eine seltsame Art mehr als be­­ruhigend, ihm zuzuhören. Mit der Zeit wurde auch der Puls ruhiger, … noch ruhiger, … bis er ganz langsam geworden war und in jenem beständigen, langsamen Rhythmus fortwährte … Seine Augen fielen ihm kaum merklich zu … Sein Atem wurde tief und regelmäßig … Der ganze Rest seines Körpers entspannte sich … Und endlich fand sein Geist Ruhe … Ruhe im Schlaf.

Die Luft war von Hufgetrappel und Blätterrascheln erfüllt, die feuchte Erde mit dem Laub unter ihren Hufen aufgewühlt; und als die beiden Männer ihre Pferde zum Galopp anspornend durch den dichten Wald preschten, war nichts mehr von Bedeutung außer der Freiheit selbst.

Sacris wich einigen zu tief hängenden Ästen aus, sprang über einen von Farn umwucherten Baumstamm und holte Lewyn ein. Jener lachte, legte sich flacher auf seinen Schimmel und trieb diesen noch weiter an, sodass er dem dunkelhaarigen Mann wieder davonritt. "Na, warte …!", rief der Prinz daraufhin und blieb seinem Freund auf den Fersen. Lewyn lachte erneut, musste dann aber um einen halb umgestürzten Baum herumreiten und verlor dadurch seinen Vorsprung.

Nunmehr Kopf an Kopf ritten die Männer durch das langsam wilder werdende Dickicht, doch sie und ihre Pferde kannten den Weg. Sie waren mit dem Wald und seinem Unterholz vertraut, wussten, wo es weniger passierbar war und an welchen Stellen sie am besten durchkamen.

Plötzlich brachen sie durch die Baumreihen zu einem flachen Fluss durch, dessen Lauf sie umgehend folgten. Als die Pferde durch das Gewässer hindurchritten, spritzte das kalte Wasser bis zu ihren Beinen hoch – allerdings ließen sich die Männer dadurch herzlich wenig stören. Der herrlich frische Wind wehte ihnen entgegen und weckte ihre Lebensgeister. Sacris sah neben sich und freute sich sehr über das glückliche Gesicht seines Freundes. "Gefällt es dir?", rief er lächelnd zu ihm hinüber. "Merkt man das denn nicht …!?", erwiderte Lewyn strahlend und spornte seinen Schimmel noch ein wenig mehr an.

Das Flussbett wurde felsiger und steiler – so entschieden sich die Männer für eine Uferseite und folgten dem Fluss hang­abwärts, während sich ihnen durch die Baumschneise des Wassers ein atemberaubender Ausblick in die Ferne bot: hohe, kaltgraue Berggipfel mit grünen, ausgedehnten Waldhängen, so weit das Auge reichte!, und ein weiter, dunkelblauer Himmel bis über den Horizont hinaus. Ein einsamer Adler flog hoch über ihnen hinweg und erhob sich kreischend noch höher in die Lüfte. Die helle, ferne Sonne sandte ihre dünnen, und doch warmen Strahlen zu allen Seiten hinaus und verjagte jeden noch so kleinen Wolkenhauch, sodass die Himmelsgewölbe durchweg ungetrübt und klar blieben.

Der Fluss mündete in einen tiefen, ruhigen See, der sich in die Breite erstreckte und den dunklen Wald zu den Uferseiten hin sanft abfallenden Wiesenhängen weichen ließ. Das nun ent­stehende Panorama offenbarte einen sich scharf abzeichnenden, kahlen und hohen Gipfelkamm zum Osten hin und weiche, waldige Hügelberge zum fernen Ozean der Träume im Westen hin. Vor ihnen in den weiten Süden hinein vermengten sich beide Elemente wiederum zu einer ganz und gar umwerfenden Komposition, die das Auge und Herz erfreute.

Einige Kunags – harmloses Wild – wurden durch die herannahenden Pferde von den Ufern verscheucht und entflohen hüpfend in die hohen Gräser der Auen. "Sieh dir das an, Sacris …! Ist das nicht herrlich?", lachte der Blonde und breitete seine Arme in den Wind aus, während sie im seichten Wasser am See entlangritten.

Sacris schmunzelte unwillkürlich. Es würde ihn nicht wirklich wundern, wenn sein Freund jenem Adler gleich selbst jeden Moment in die Lüfte emporschweben würde. Er genoss es, Lewyn so unbeschwert zu sehen. Es beflügelte auch ihn, seine eigenen Fesseln des Alltages fortzuwerfen und alle Pflichten für den Augenblick zu vergessen, um sich einfach dem Gefühl der Freiheit hinzugeben.

Auf der glatten Oberfläche des dunklen Sees spiegelte sich so all die Schönheit wider, die jener Ort mit sich brachte. Seine südlichen Ufer bildeten eine geschlossene und nahezu kreisförmige Felsensichel, welche von Lianengewächsen, dichten Farnen und hohen Schilfen umwuchert wurde. Von jener Sichel aus stürzten die Wasser des Sees in hohen Fällen hinab und traten durch eine niedrige Steinhöhle hindurch wieder als strömender Fluss in die Welt hinaus.

Die Männer wussten ganz genau, wohin sie wollten; und so ritten sie zielstrebig die Wiesenhänge hinunter, bis sie an die Stelle kamen, bei welcher der Fluss wieder unter der Felsenwand hervortrat. Dort stiegen sie von ihren Pferden herab, nahmen ihnen Sattel samt Gepäck ab, legten diese zur Seite ins Gras – und ließen Concurius und Lydia frei auf den üppigen Hängen weiden.

Die zwei Freunde wiederum entkleideten sich bis auf einen Schurz und sprangen rasch ins kühle, erfrischende Wasser des Flusses. Während sich Lewyn kurz ob der Kälte schüttelte, schwamm Sacris bereits gegen die Strömung zur Felsenöffnung an. "Beeil dich, Lewyn!", rief der dunkelhaarige Mann grinsend hinter sich, ohne dabei mit dem Schwimmen aufzuhören, "Sonst wirst du am Ende doch noch Letzter sein …!"

Als Sacris an der Öffnung angekommen war, die weniger als eine Handbreite über dem sprudelndem Wasser verlief, holte er tief Luft und tauchte ins Höhleninnere hinein. Mit kraftvollen Arm- und Beinbewegungen kam er gegen die besonders starke Strömung an jener Verengung zwischen den Felsen an und passierte die kritische Stelle sicher. Anschließend griff der Prinz nach einem herausragenden Steinvorsprung, zog sich daran wieder an die sprudelnde Wasseroberfläche und wartete schnaufend darauf, dass Lewyn ihm folgte.

Die Höhle verlief nicht sonderlich tief und war zum anderen Eingang hin weit geöffnet. Eine Wand aus fließendem Wasser und tief herabhängenden Ranken verhinderten allerdings einen Blick auf das, was sich dahinter verbarg. Tropfende Felszapfen hingen von der Höhlendecke herab oder ragten aus dem rauschenden Wasser heraus – und mochten auf eine unheimliche Art und Weise das Gefühl vermitteln, sich eher im Rachen eines gierig aufgerissenen Tiermauls denn in einer Höhle zu befinden. Die verstärkte Strömung an der Felsenverengung betonte den unangenehmen Eindruck, jeden Moment verschluckt zu werden, dabei dermaßen, dass dem wartenden Prinzen ein Schauer über den Rücken fuhr …

Sacris schüttelte diesen unangenehmen Gedanken ab und blickte auf einmal besorgt um sich. Sein Freund blieb allmählich ungewöhnlich lange fort. "Lewyn …?", fragte er unsicher und wartete auf irgendeine Antwort …

Nichts.

Plötzlich wurde der junge Mann unruhig und versuchte, etwas in den Tiefen des Flusses zu erkennen. "Lewyn …!"

Wieder nichts.

"Lewyn!" Sacris glitt ins reißende Wasser hinein und ließ sich zur Enge zurücktreiben. Als er dort untertauchte, spürte der Prinz, wie er unerwartet gegen etwas Weiches stieß. Sofort griff er danach und stellte erschrocken fest, dass es sich dabei um den Arm seines Freundes handelte. Lewyns Körper hing schlaff zwischen zwei schmalen, vom Grund her aufragenden Felsenspitzen fest und regte sich nicht.

Angst machte sich in Sacris breit und er verhakte sich mit seinen Füßen in den Steinen, um nicht weiter fortgerissen zu werden. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die mächtige Strömung auf und versuchte, den Blonden vorsichtig, aber zügig zu befreien. Nach kurzer Zeit war es dem jungen Mann auch gelungen, sodass er seinen Freund nun sicher unter den Armen an der Brust umfassen und mit sich ziehen konnte.

An der rauen Höhlenwand festklammernd brachte Sacris sich und seinen Gefährten von der Felsenenge fort. Doch ging sein Atem plötzlich gefährlich schnell zur Neige; und er spürte, wie sein Herz heftig zu pochen begann, sich die Finger an den Felsen verkrampften und seine Kräfte schwanden. Nein … Nein!

Mit einem Mal bekam der junge Mann einen Vorsprung zu fassen und zog sie beide an die wild tosende Oberfläche. Sacris hielt sich, so gut er nur konnte, am Stein fest und schnappte atemlos nach Luft. Mit bangem Blick sah er zu seinem Freund, den er gegen den Felsen gelehnt hatte, damit dessen Kopf über dem Wasser blieb: Lewyn war vollkommen blass, seine Augen geschlossen und sein bläulich angelaufener Mund leicht geöffnet. Der Prinz starrte ihn entsetzt an und ergriff die eiskalte Hand, um nach dem Puls zu suchen …

"Verdammt, Lewyn …! Nein, nein …! Nein! Sag, dass das nicht wahr ist- …!"

– Sacris wachte schweißgebadet auf. Sein Herz raste und er rang verzweifelt nach Atem. Er stützte seine nasse Stirn auf den Händen ab und ballte diese zu zitternden Fäusten. "Nein …! Nicht … n-nicht schon wieder …!", keuchte der junge Mann und verbarg sein Gesicht im Ellbogen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Warum verfolgte ihn dieser Alptraum seit jenem Augenblick?! Warum nur? Warum?!? Jener Tag hätte so schön werden sollen …! Der Tag, an welchem sie ihren Ausflug zu den Nayayami Wasserfällen hatten machen wollen …

Die Prinzresidenz war in einem unbewohnten Landstrich errichtet worden. Die Menschen mieden die Küste nordwärts alles, was jenseits von Hymaetica Aluvis und dem Tal des Tical lag – zu sehr fürchteten sie, den Auen der Tausend Seen zu nahe zu kommen. Die Exenier und anderen Anderwesen wiederum schienen niemals südlich ihres eigenen Herzlandes zu gehen, als ob sie das Reich der Menschen ebenso mieden, wie die Menschen das ihrige.

Allein die Durchgangszone zwischen den Anderreichen und den Auen der Tausend Seen in der Nördlichen Einöde bei der Grafenstadt Henx blieb ein stetiger Konfliktherd. Alles südwestlich davon war sowohl von den Menschen als auch von den Anderwesen unberührt; und in genau jenem Grenz­­bereich hatte sich Sacris seinen Wohnsitz errichten lassen. Dadurch konnte er sich mehr als alles andere sicher sein, dass er seine Ruhe hatte und ungestört seinen eigenen Angelegen­heiten nachgehen konnte.

So begab es sich auch, dass die Wasserfälle, von denen der Prinz geträumt hatte, in ebenjenem Gebiet lagen und dass er mit seinem Freund gewisslich die einzigen Menschen waren, die überhaupt von ihrer Existenz wussten. Sie hatten jenen Ort einst bei einem ihrer vielen Ausflüge zu Pferd entdeckt und ihnen dann den Namen gegeben: 'Nayayami Wasserfälle'.

Seltsamerweise wollte Sacris nicht mehr einfallen, warum sie diese Wasserfälle überhaupt so benannt hatten. Aber … das war nunmehr irrelevant. Er hatte im Moment ohnehin nicht das Gefühl, als würde er in nächster Zukunft so schnell dazu kommen, wieder einmal dorthin zu reisen … – und allein … schon gar nicht.

Der Prinz ließ sich mit einem bedrückten Seufzer zurück in die Kissen sinken und sah sich um: Es war noch nicht ganz dunkel, ja, der Färbung des Himmels außerhalb seiner hohen Fenster nach zu urteilen, war die Sonne gerade dabei unter­zugehen. Der junge Mann verbrachte eine geraume Weile damit, lediglich die ruhigen Farbwechsel der Wolken zu betrachten – wie sie langsam ihr flammendes Orange verloren, eher rotstichig purpurfarben wurden … und schließlich in ein kühles Blauviolett verblassten, um die heranziehende Nacht einzuleiten …

Sacris wandte seine Aufmerksamkeit danach seiner näheren Umgebung zu und bemerkte, dass man ihm ein großes Silbertablett mit einem reichhaltigen Buffet gebracht hatte. Der Prinz seufzte abermals und betrachtete das üppige Mahl auf dem Tisch unglücklich.