Kitabı oku: «Lachen, Weinen, Hoffnung schenken», sayfa 2

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WENN DER REBBE SINGT

MUSIK HABE ICH MEIN LEBEN LANG geliebt und ich liebe sie noch immer.

In meinem Leben hatte ich die verschiedensten jüdischen Lieblingssänger, deren Platten ich gesammelt habe, von denen ich nur einen Teil live gesehen habe. Einmal aber war ich vor etwa zwanzig Jahren in Jerusalem und sah, dass ein Sänger, der längst in der Versenkung verschwunden war, dort ein Konzert gab. Da wollte ich unbedingt hin, weil ich diesen Sänger nie live gehört hatte und er nach seinen Plattenaufnahmen für mich einer der Größten war. Allerdings war er zur Zeit der Aufnahmen, die ich von ihm kannte, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Inzwischen musste er um die fünfzig sein. Ob seine Stimme gehalten hatte? Ich war gespannt.

Er trat in Jerusalem in einem kleinen Saal auf, was klug war, weil er den Zenit seiner Popularität längst überschritten hatte. Zu seinen Topzeiten hätte er einen Saal mit fünfhundert Leuten leicht gefüllt.

Als ich zum Konzertsaal kam, sah ich, dass mit mir nur vier Zuschauer vor Ort waren. In diesem Moment war ich mir sicher, dass der Sänger absagen würde, und enttäuscht, dass mir damit die wohl letzte Gelegenheit entgehen würde, ihn einmal live zu erleben. Ich dachte mir, er wird jedem seine hundert Schekel zurückgeben und sagen: Tut mir leid.

Er aber ging auf die Bühne und sang mehr als eine Stunde lang so, als ob der Saal voll wäre.

Das ist für mich ein Profi. Oder ein feiner Mensch. Ich erzähle diese Geschichte deshalb, weil sie zeigt, dass man auf den verschiedensten Gebieten des Lebens Beispiele finden kann, die sich auf das eigene Leben anwenden oder übertragen lassen.

So ernst, wie dieser Sänger seinen Beruf nahm, sollten wir alle es tun – oder wir sollten es zumindest versuchen. Zum Beispiel jetzt, in der Corona-Zeit, singe ich auch vor dreißig Leuten, obwohl der Saal Platz für hundert Zuschauer bieten würde.

Vor ungefähr dreißig Jahren gab es in Wien ein Duo, das hier bahnbrechend für Klezmer-Musik war. Sie nannten sich nach den Mädchennamen ihrer Mütter „Geduldig & Thiemann“. Ich habe bei einer Schallplatte, die sie gemacht haben, im Chor mitgesungen und sie immer sehr bewundert. In letzter Zeit trete ich oft mit dem Musiker Roman Grinberg auf, der wirklich ein Tausendsassa, weil sehr vielseitig in seiner Musik ist (Jazz, Klezmer, Russisch etc.). Da habe ich ihm als Namen für unser Duo vorgeschlagen: „Ungeduldig & Roman“.

Auf der Bühne mit Roman Grinberg (links)

Eigentlich bin ich ein ungeduldiger Mensch. Vor allem, wenn es darum geht, die Vorträge anderer anzuhören, finde ich immer eine Entschuldigung. So habe ich schon einige Male Leuten, die mich zu ihren Vorträgen eingeladen haben, mit folgenden Worten abgesagt: „Ich bin ungeduldig, ich gehe in letzter Zeit nur zu Vorträgen, die ich selber halte – und auch da nicht immer.“ In Wirklichkeit will ich selbst auf der Bühne nicht nur Oberrabbiner, sondern immer auch Erzähler und Sänger sein. Ich bin ein großer Fan von Otto Schenk, Helmut Qualtinger, Karl Farkas, Ernst Waldbrunn usw. und versuche, ihnen nachzueifern.

MEINE ERSTEN AUFTRITTE auf dem Feld der Musik fanden zu Hause am Schabbat-Tisch statt. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter hatten eine schöne Stimme, meine Schwester und ich auch, so klang das sehr gut, und wenn dann Gäste kamen, waren sie meist sehr angetan von unserem kleinen Familienchor.

Mein Vater hatte alte Schellacks, die sehr zerbrechlich waren, von Kantoren aus Osteuropa, viele davon noch vor dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen. Die kantorale Art zu singen ist dem Operngesang ähnlich. Und weil ich diese Platten oft hörte und sehr musikalisch war, konnte ich schon mit zehn Jahren einige davon nachsingen. Kinder, die das können, nennt man oft „kantorale Wunderkinder“. Es gab solche, die viel besser waren als ich und sogar als Kinder schon Schallplatten aufgenommen haben. Interessanterweise ist aber dann nur die Hälfte von ihnen als Erwachsene zu Kantoren geworden. Meist waren diejenigen, die später keine Kantoren wurden, jene, die man gezwungen hatte, während des Stimmbruchs Konzerte zu geben. Da kann man sich nämlich leicht „ausschreien“, was die Stimme kaputt macht.

Nachdem ich damals, in diesem zarten Alter, noch keine Konzerte jenseits unseres Esszimmers gegeben hatte, habe ich dann auch im Stimmwechsel auf Ratschlag meines Vaters wenig gesungen oder zumindest meine Stimme nicht angestrengt. Ich bin zwar nie ein berühmter Kantor geworden, kann aber bis heute schön und richtig singen – das sagen zumindest die anderen.

Während der Woche hörte mein Vater gerne die alten Schellacks, und wenn Gäste kamen, spielte er sie ihnen vor. Ein armer chassidischer Rabbi in Wien besuchte einmal im Monat meinen Vater. Nachdem ihm mein Vater dann regelmäßig eine Zuwendung gab, hörte er auch gerne die Schallplatten an. Insbesondere die Platten von Jossele Rosenblatt. Diesen schätzte der Rabbi nämlich als „ehrlichen Jid“, weil er nicht nur schön sang, sondern auch tiefreligiös war. Was man von vielen anderen Kantoren nicht sagen konnte.

Ich erinnere mich, dass mein Vater einmal unter großen Schwierigkeiten eine nagelneue Platte des Kantors Zevulun Kwartin aufgetrieben hatte, von der er sehr begeistert war und die er diesem Rabbi gerne vorspielen wollte. Allerdings war Kwartin nicht für einen orthodoxen Lebenswandel bekannt. Als der Freund meines Vaters das nächste Mal zu Besuch kam, spielte er ihm die Aufnahme einfach vor, ohne ihn darüber zu informieren, wer der Sänger war. Der Rabbiner hörte mit geschlossenen Augen tief bewegt zu und sagte dann: „Seht ihr, lieber Kollege, so kann nur ein frommer Kantor singen!“

Manche Rabbiner sagen über mich, ich sei der beste Kantor unter den Rabbinern, weil sie mir nicht zubilligen, dass ich auch ein guter Rabbiner bin. Und manche Kantoren sagen über mich, dass ich der beste Rabbiner unter den Kantoren sei, weil als Kantor nicht gar so gut. Ich weiß natürlich, dass ich beides genial verbinde.

DA ICH ABER NICHT NUR SELBST auf der Bühne stehen kann und will, sondern mich, wie gesagt, auch als Zuhörer für gute Musik begeistere, war es mir ein Anliegen, hervorragende Kantoren nach Wien zu bringen. So stellte ich, gemeinsam mit vielen Helfern, in den Neunzigerjahren eine Reihe von Kantorenkonzerten auf die Beine, die als Teil des Musikfestivals „musica sacra“ über die Bühne gingen, das wiederum ein Teil des weltumspannenden Musiknetzwerkes „Jeunesses Musicales“ ist und von der Stadt Wien bis heute gesponsert wird.

Auftritt bei einem jüdischen Konzertabend

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstand eine Organisation, die jüdische Topkantoren aus Europa, Israel und Amerika auf eine Reise durch Polen, Ungarn und die Sowjetunion schickte, weil viele Kantoren vor dem Zweiten Weltkrieg von dort aus in den Westen gekommen waren. Das sollte sozusagen ein Ansporn für die osteuropäischen Juden sein, sich wieder mit jüdischen Werten und jüdischer Musik zu beschäftigen. Obwohl Wien bekanntlich nicht hinter dem Eisernen Vorhang lag, als dieser noch zugezogen war, wollte diese Organisation auch hier ein solches Konzert veranstalten – aber die jüdische Gemeinde hatte kein Geld dafür.

Damals ging ich zum Verein „musica sacra“ und fragte sie, ob sie nicht auch ein jüdisches sakrales Konzert finanzieren könnten. Ich wurde ein wenig komisch angeschaut und gefragt: „Was ist ein jüdisches sakrales Konzert? Wir unterstützen nur Konzerte, die ein hohes musikalisches Level haben“, sagten die Herrschaften noch dazu, was der beste Beweis dafür war, dass sie wirklich keine Ahnung von kantoralem Gesang hatten.

Ich packte eine Schallplatte von einem Kantor aus, der Teil der beschriebenen Osteuropa-Tournee war, und spielte sie vor: Da ist den Herren von „musica sacra“, wie man so sagt, der Mund offen geblieben, und sie waren sofort bereit, jährlich ein Kantorenkonzert zu sponsern.

Es wird übrigens erzählt, dass sogar der große Enrico Caruso am Versöhnungstag in Synagogen gegangen sei, um dort die Kantoren zu hören. Caruso war natürlich ein besserer Sänger als sie, aber die Kantoren haben zu Jom Kippur vier Stunden und mehr durchgehend gesungen, und der berühmte Opernsänger wollte sich abschauen, wie sie diese ungeheure Ausdauer erreichten.

In Amerika gab es an der Metropolitan Opera in New York zwei Schwager, einer hieß Richard Tucker und der andere Jean Pierce, die sowohl Toptenöre als auch jüdische Kantoren waren. Die beiden traten nur ein- oder zweimal im Jahr als Kantoren auf, nahmen aber nie eine Rolle an der Met an, wenn sie für diesen Zeitpunkt schon als Kantoren engagiert waren.

Als Rabbiner muss man nicht unbedingt ein guter Kantor sein. Aber manche Rabbiner, darunter auch ich, behaupten von sich, dass sie Kantoren wenigstens gut beurteilen können. In den Neunzigerjahren wurden die sogenannten „Wunderkind-Kantoren“ bekannt, die ich schon kurz erwähnt habe. Wir haben zu unseren Konzerten im Stadttempel öfters zwei Kantoren eingeladen. Kantor Barzilai, der Oberkantor von Wien, hat natürlich auch gesungen. Ich habe die Moderation gemacht und hin und wieder vielleicht auch ein „Stickele“ gesungen.

Einmal hörte ich eine Aufnahme von einem Wunderkind-Kantor aus Israel, und ich dachte mir, dass es doch nett wäre, einen Erwachsenen und einen Buben zu engagieren, die auch öfters im Duett singen. Ich habe also diesen jungen Star für unsere Konzertreihe engagiert. Zu meiner Überraschung war er im Stimmbruch, wovon ich vorher natürlich nichts wissen konnte, und hat kaum einen Ton herausgebracht! Hätte ich die Geduld dazu gehabt, hätte ich sein Management klagen können, ja müssen. Wie es bei Wunderkindern leider manchmal passiert, hatte ihn sein Manager aus Geldgier weitersingen lassen und seine Stimme kaputt gemacht. Als Erwachsener konnte er dann nie wieder Kantor sein.

IN DEN LETZTEN JAHREN habe ich bei meinen Konzerten, zumeist mit Roman Grinberg, ein Liederprogramm zusammengestellt. In jüngster Zeit habe ich allerdings eine neue Liste von Liedern angelegt, und zwar von solchen, die ich nicht mehr singen kann. Es sind langsame jüdische Lieder, die sehr zu Herzen gehen und bei denen ich immer in der Mitte des Liedes zu weinen beginne, sosehr ich mir auch vornehme, dass es diesmal nicht passiert. Dazu gehört „A jiddische Mame“.

Der Text von „A jiddische Mame“ geht so:

A jiddische Mame

Nisch do kein bessres auf der Welt

A jiddische Mame

Oi, wie is bitter, wenn sie fehlt

Ich weine dabei nicht erst, seit meine Mutter gestorben ist, das habe ich früher auch schon getan – seither weine ich aber noch mehr.

Das andere Lied heißt „Es brennt“ und handelt von einem Pogrom in einem jüdischen Ghetto. Ich beginne zu weinen, wenn es im Liedtext heißt: „Löscht das brennende Feuer mit eurem eigenen Blut.“

Wie es bei jüdischen Liedern nicht anders sein kann, sind sie aber oft nicht nur sehr schön und manchmal rührselig, sondern mitunter auch sehr lehrreich. Sehr gerne singe ich zum Beispiel das Lied „Das Rädele“. Darin geht es um ein sich drehendes Rad, gemeint ist das Rad des Lebens, bei dem man manchmal oben und manchmal unten ist. Nun könnte man vermuten, wenn du oben bist, es dir also gut geht, kannst du zufrieden sein. Und wenn du unten bist, es dir schlecht geht, dann bist du traurig. Dieses Lied besagt aber das Gegenteil: Wenn du schon sehr hoch oben bist, solltest du dir Sorgen machen, dass du vielleicht bald ein bisschen abrutschen wirst. Wenn du dagegen ganz unten bist, kannst du dir Hoffnungen machen, dass es bald wieder aufwärts geht. Das Lied ist eine zweifache musikalische Medizin. Es hilft sowohl gegen Größenwahn als auch gegen Selbstmitleid. Ich finde, mehr kann man auch von einer rabbinischen Weisheit nicht verlangen. Vielleicht erklärt das auch, warum das Singen und das Predigen bei uns Juden zusammengehören.

Einer meiner ersten Musikpartner war ein Linzer Nichtjude namens Herwig Strobl, dessen Vater ein begeisterter Nazi gewesen war. Als Reaktion darauf hat sich Herwig, mit dem ich auch eine CD aufgenommen habe, viel mit dem Judentum und seinen musikalischen Traditionen auseinandergesetzt. Er gründete eine Klezmergruppe, die er „10 Saiten 1 Bogen“ nannte. Als wir einander in den Achtzigerjahren kennenlernten, lud er mich oft ein, ein, zwei Songs bei seinen Konzerten zu singen. Eines davon war „Wenn der Rebbe singt …“, das Lied, das diesem sowie den übrigen Kapiteln dieses Buches ihre Namen geschenkt hat.

Mit der Klezmergruppe „10 Saiten 1 Bogen“

Ich habe mich mit Herwig nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich von Anfang an sehr gut verstanden. Nachdem wir einmal in Linz ein paar Stunden miteinander geredet hatten, waren wir unzertrennlich. So ist unsere musikalische Zusammenarbeit immer enger geworden, und ich habe bei diesen Konzerten Geschichten als Einleitung für die Lieder erzählt. Manchmal haben wir auch aus den Liedern eine Art vertonten Sketch gemacht.

Klassisch ist bei „Wenn der Rebbe singt“, dass immer das getan wird, worum es in der Strophe gerade geht: beim Tanzen wird getanzt, wenn er lacht, wird „hahaha“ gesungen – und dann gibt es noch zwei Verse, die nicht immer gesungen werden. Einer lautet: „Wenn der Rebbe schloft (schläft) …“ – das machen die Chassidim nicht nach, sondern sie schweigen. Ich habe mich bei dieser Strophe auf der Bühne auf ein Sofa gelegt und herzhaft geschnarcht. Und bei „Wenn der Rebbe weint“ habe ich immer ein Taschentuch aus der Tasche gezogen und bühnenreif geschluchzt.

Diese beiden Strophen habe ich langsamer gesungen. Wenn nach dem Schlafen, als das Publikum schon fast mit eingeschlafen war, das Lied mit der Strophe „Wenn der Rebbe lacht“ beendet wurde, dann klatschten die Leute begeistert in die Hände und sangen mit.

Aus solchen Publikumsreaktionen kann man viel über Dramaturgie lernen. Ich habe von diesen Bühnenerfahrungen beim Predigen ebenso profitiert, wie mir umgekehrt die Erfahrungen der Predigten erst das Selbstvertrauen gegeben haben, das ich beim Singen auf der Bühne benötigte.

SO WIE DAS LIED „Wenn der Rebbe singt“ immer mit einer lustigen Strophe enden sollte, möchte ich auch dieses Kapitel mit etwas Erbaulichem beenden, das eng mit dem Thema der Musikalität verbunden ist. Alle Rabbis sollten gut Tora lesen und beten und Predigten halten können. Nicht jeder Rabbi aber kann so wie ich singen, tanzen, lachen und weinen. Es gab aber immer Spezialisten, die auf dem einen oder anderen Gebiet besonders gut waren.

Die folgende Geschichte handelt von einem Rebbe, der besonders gut tanzen konnte: Vor mehr als hundert Jahren hatten die Gutsherren in Polen und Russland oft Juden als Knechte oder Leibeigene, die vom Gutsherrn etwas gepachtet hatten und meistens jährlich diese Pacht bezahlen mussten. Die Pacht war aber meistens so hoch, dass dem Pächter zu wenig übrig blieb, kaum genug, um seine Familie ernähren zu können. Solange der betreffende Jude seine Pacht pünktlich bezahlte, war alles in Ordnung. Wenn er aber in Verzug geriet, wurde er oft windelweich geprügelt, und wenn die Bezahlung noch länger ausblieb, konnte es noch schlimmer kommen und er wurde sogar eingesperrt. Und zwar nicht in Luxusgefängnisse, wie es sie heute bei uns gibt, sondern er wurde in ein tiefes Loch, ein Verlies geworfen, das manchmal oben gar kein Schloss hatte, weil es ohnehin zu tief war, als dass man hätte herausklettern können.

Am Abend vor einem großen Fest stellte sich ein Gutsherr, der „seinen“ Juden wegen Zahlungsverzugs ins Verlies geworfen hatte, als kompromissbereiter Mensch dar und sagte dem Juden: „Morgen, Moschke, kommst du herauf zur Party, und wir tanzen miteinander Kasatschok. Die anderen Gäste werden, wie die Jury bei ‚Dancing Stars‘, entscheiden, wer von uns besser tanzt. Wenn ich gewinne, dann bekommst du hundert Peitschenhiebe, wenn du aber gewinnst, lasse ich dich frei.“

Nun wusste der schon geschwächte Sträfling, dass weitere hundert Peitschenhiebe für ihn wahrscheinlich tödlich waren. Beide wussten ebenfalls, dass der Gutsherr ein ausgezeichneter Tänzer und sein Gefangener, selbst wenn er ein guter Tänzer gewesen wäre, viel zu schwach war, um ihm bei diesem Wettkampf das Wasser reichen zu können.

In der gleichen Nacht aber kam der Rebbe des Juden zur Grube, der ihn in seinem Verlies regelmäßig besuchte, und fragte ihn, was mit ihm geschehen würde. Der Jude weinte sehr und sagte: „Ich wurde zu einem Wettbewerb herausgefordert, den ich nur verlieren kann.“

„Was ist das für ein Wettbewerb?“, erkundigte sich der Rebbe.

Der Jude erklärte ihm die Regeln des Tanzwettbewerbs und dass die Jury aus den Gästen des Gutsfests bestehen würde. Da hatte der Rebbe eine geniale Idee: „Du weißt doch, dass ich gut tanzen kann. Ich werde also statt deiner tanzen. Ich werde ein Seil herunterlassen, du wirst herausklettern, und mich lässt du am selben Seil hinunter. Wir tauschen die Kleider, und morgen gehe ich als Sträfling auf das Fest. Da wir einander nicht so unähnlich sehen, wird niemand auf die Idee kommen, dass wir Platz getauscht haben.“

Dieser Rebbe war ein besonders guter Tänzer. Und tatsächlich tanzte er den Gutsbesitzer in Grund und Boden, womit er die Jury beeindruckte und die Freiheit des Gefangenen (beziehungsweise, nach dem Platztausch, seine eigene) erwirkte.

Und was lernen wir daraus? Man weiß als Rebbe nie, wann einem die zusätzlichen Fähigkeiten, über die man verfügt, einmal besonders nützlich sein werden. Mit meinem Gesang habe ich zwar sicher noch kein Leben gerettet, aber bestimmt vielen Menschen einen schönen Abend bereitet. Und das ist auch schon einiges wert.

WENN DER REBBE WEINT

ES GIBT IM JUDENTUM DEN BRAUCH, dass man Brot mit Ehrfurcht behandeln soll. Wenn es auf den Boden fällt, soll man es nicht wegwerfen, sondern aufheben. Manche pflegen es sogar zu küssen. Denn Brot ist ein Symbol für Essen. So wie es ein Jude namens Jesus gesagt hat: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“

Ich erinnere mich, wie meine Mutter, als ich ein Kind war, immer darauf bestanden hat, dass wir kein Brot wegwerfen und die Brotrinden, wenn sie auch hart waren, aufessen. Sie sagte immer: „Die Rinden sind gesund.“

Nun könnte man sagen, sie war eben eine fromme Jüdin und wollte diesen Brauch ehren. Aber ich weiß, dass ihre Verbundenheit mit dem Brot, und besonders mit den Brotrinden, noch eine andere Ursache hatte.

Meine Eltern stammten beide aus Budapest. Sie erlebten dort den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung in der Schoa. Sie kannten einander damals noch nicht und hatten beide das Glück, nicht im Osten Ungarns zu wohnen, weil von dort über eine Million Juden nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden.

Viele wissen nicht, dass es unter den Nationalsozialisten verschiedene Arten von Konzentrationslagern gab. In manchen wurden die Juden – aber auch Roma, Sinti und andere Verfolgte – „nur“ zu schwersten Arbeiten gezwungen. Andere Lager, die zum Teil erst später errichtet wurden, waren Vernichtungslager, die für die industrielle Ermordung der dorthin deportierten Juden gebaut und verwendet wurden. Auschwitz-Birkenau war eine Kombination aus beidem. Im Lager Auschwitz mussten die Häftlinge Zwangsarbeiten verrichten, in Birkenau wurden sie getötet, in den meisten Fällen vergast und danach verbrannt.

Damit die Vernichtung schneller ging, wurden Schienen bis mitten ins Lager verlegt. An der Eisenbahnrampe des KZs gab es die sogenannte Selektion. Dort standen der berüchtigte NS-Arzt namens Mengele oder einer seiner Assistenten, und die Menschen, die dort vorbeigingen, wurden entweder nach rechts oder nach links geschickt. Nach rechts wurden jene geschickt, die so aussahen, als würden sie noch arbeiten können. Sie kamen ins Lager Auschwitz. Nach links wurden jene geschickt, die gleich in Birkenau vergast werden sollten.

Bis dahin wussten viele Juden, die dort ankamen, noch nichts von der Vernichtung. Sie glaubten und hofften, dass sie dort alle in ein Lager gebracht würden, in dem sie harte Zwangsarbeit leisten müssten. Aber an dieser Rampe verstanden doch die meisten, was mit jenen geschah, die nach links geschickt wurden. Fürchterliche Tragödien spielten sich ab, wenn Familien auseinandergerissen wurden. Kleine Kinder kamen auf jeden Fall nach links, in die Todesreihe, weil sie zu keiner Arbeit tauglich waren. Junge Männer und Frauen hatten die Chance, zur Zwangsarbeit nach rechts geschickt zu werden. Das hieß natürlich keineswegs, dass sie sicher überleben würden, im Gegenteil: Auch an den Folgen der Zwangsarbeit und der Unterernährung starben viele beziehungsweise sogar die meisten von ihnen.

Ältere Menschen wurden je nach ihrem Zustand aussortiert. Manchmal gab es sogenannte Grenzfälle. Wie der spätere Oberrabbiner von Israel, Israel Meir Lau, einmal in meiner Anwesenheit bei einer Gedenkveranstaltung in Auschwitz erzählte, war er mit seinem älteren Bruder in einem Konzentrationslager. Sein Bruder war schon 18 und offensichtlich geeignet für die Zwangsarbeit. Er selbst war erst 13, allerdings sehr groß gewachsen, und er konnte den Selektoren tatsächlich weismachen, dass er älter sei. So wurde er nicht von seinem Bruder getrennt und überlebte schließlich.

Es kam auch vor, dass ein Vater und eine Mutter, deren Kind nach links geschickt wurde, ebenfalls nach links gehen wollten. Nicht immer wurde das erlaubt. Aus manchen Familien überlebten einzelne Menschen, die sich verstecken konnten oder nicht zu Hause waren, als ihre Familien abgeholt wurden, und die manchmal erst viel später von anderen Überlebenden im Lager erfuhren, ob und wann ihre Familien ermordet worden waren.

Warum erzähle ich das alles? Ist es nicht hinlänglich bekannt, oft genug erzählt und dokumentiert worden? Ich glaube nicht. Wir nähern uns einer historischen Zäsur, ab der keine Zeitzeugen mehr am Leben sein werden, die die Schoa selbst miterlebt haben – weder auf der Täter- noch auf der Opferseite. Diese Tatsache birgt die Gefahr, dass in Vergessenheit gerät oder von geistigen Brandstiftern bewusst umgeschrieben und entstellt wird, was damals, vor mittlerweile mehr als 75 Jahren, wirklich passiert ist.

Deshalb ist es gerade heute ein unverzichtbarer Teil meiner Memoiren, an die Schoa zu erinnern, die nicht nur so viele Juden das Leben gekostet, sondern auch das Leben der Überlebenden, ihrer Kinder und Kindeskinder geprägt hat.

Wer mich ein wenig kennt und auch wer dieses Buch aufmerksam liest, wird wissen, dass ich im Zusammenhang mit dem Judentum, wenn ich die Wahl habe, über viele andere Themen lieber spreche als über den Antisemitismus. Da ich hier aber auch die Geschichte meiner Familie erzählen will, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als diese Geschichte in den historischen Kontext zu stellen, der sie geprägt hat – sonst wäre sie nämlich nicht verständlich.

Mein Vater wurde nach dem Krieg von Juden, meistens von ehemaligen österreichischen Juden, die noch vor der Schoa nach Amerika und Israel geflüchtet waren, gefragt: „Wie können Sie in diesem antisemitischen Österreich leben?“

Er antwortete: „Ich war während der Schoa in Ungarn und habe miterlebt, wie viele Ungarn jüdische Familien verraten und an die Nazis ausgeliefert haben. Freunde aus Polen haben Ähnliches über die Polen gesagt.“ Manche Historiker sagen, dass solche schrecklichen Vernichtungslager wie Auschwitz deshalb in Polen errichtet wurden, weil möglicherweise die deutsche Bevölkerung, obwohl sie ja auch nicht gerade philosemitisch war, so etwas nicht toleriert hätte. So spielten sich die schrecklichsten Erlebnisse meines Vaters während der Schoa in Ungarn und nicht in Österreich ab und deshalb „konnte“ er in Österreich leben und arbeiten.

ANDERS ALS IM OSTEN UNGARNS und der Slowakei, von wo aus die meisten Juden wie erwähnt nach Auschwitz oder in andere KZs deportiert wurden, hatten es die Juden in Budapest vergleichsweise besser. Meine Mutter Eva, geboren 1920, und ihre Eltern Markus und Johanna suchten während der Nazizeit in einem „geschützten Haus“ in Budapest Zuflucht.

Ein schwedischer Diplomat namens Wallenberg, der bemerkt hatte, dass man Juden in KZs deportierte, war nämlich ein anständiger Mensch, dem es gegen den Strich ging, dass man Unschuldige ermordete. Nach internationalem Recht gilt der Boden einer Botschaft als Boden des Staates dieser Botschaft. Im weiteren Sinn können auch andere Gebäude von Botschaften als exterritorial gelten, wo die Ungarn beziehungsweise die Nazi-Deutschen keinen Zutritt hatten. Allerdings, gegen Ende des Krieges half auch das nicht mehr.

Was besonders tragisch ist: Nach der Befreiung durch die Russen wurde derselbe Wallenberg nach Sibirien entführt und tauchte nie wieder auf. Überhaupt haben die Russen jeden, der einen deutsch klingenden Namen hatte, verdächtigt, ein Nazi zu sein. Mein Vater hieß Eisenberg und wäre auch fast in Sibirien gelandet. Er sah aber einen russischen Soldaten, der jüdisch ausschaute (was immer das konkret heißen mag), und flüsterte ihm zu: „Ich bin kein Deutscher, ich bin sogar Rabbiner.“ Der Soldat schickte ihn mit einem Handzeichen weg und rettete ihm so das Leben.

Aber zurück zu Wallenbergs geschütztem Haus, das meiner Mutter, ihrer Mutter Johanna und deren Mann Markus Kalisch das Leben rettete. Sie waren dort in relativer Sicherheit, weil die Nazis und ihre ungarischen Verbündeten nicht eindrangen und aus diesen Häusern keine Menschen deportierten. Wenn man aber ein solches Haus als Jude auch nur kurz verließ, konnte man jederzeit gefangen genommen werden und war damit schon auf dem Weg ins KZ.

Nun war der unmittelbare Schutz des Lebens die eine Sache, aber „Vollpension“ gab es in diesen Häusern natürlich keine. Die dort versteckten Menschen mussten auf verschiedene Arten versuchen, sich zu ernähren. Manche wurden von außen versorgt, aber je länger der Krieg andauerte und je chaotischer die Situation wurde, umso unsicherer wurde diese Versorgung mit den nötigsten Lebensmitteln.

Inzwischen fielen schon die ersten Bomben der Alliierten auf die Stadt, und auch das Haus direkt neben jenem, in dem meine Mutter mit ihren Eltern Zuflucht gefunden hatte, wurde von einer Bombe getroffen – so hat sie es mir und meiner Schwester später oft sehr eindringlich erzählt. Allerdings war es kein Volltreffer: Das Haus wurde nicht ganz zerstört, sondern es wurde hauptsächlich die Fassade weggesprengt.

So kam es, dass meine Mutter von ihrem Versteck aus durch das Fenster sehen konnte, dass sich in dem zerbombten Haus gegenüber eine Küche befand. Das muss schon in den letzten Kriegswochen in Ungarn gewesen sein, als die Versorgung der „geschützten Häuser“ völlig zusammengebrochen war und die darin verschanzten Menschen schlimmen Hunger litten.

Also beschloss meine Mutter, trotz der unmittelbaren Lebensgefahr, ihr Versteck zu verlassen. Sie rannte über die Straße und direkt in die nun zur Straße offene Küche des getroffenen Hauses, um nachzuschauen, ob in der Küche etwas Essbares zu finden wäre. Es befand sich dort aber nur ein Sack mit Brot. Diesen Sack schnappte sie sich und rannte so schnell sie konnte zurück zu ihren Eltern.

Als sie den Sack öffneten, muss ihre Enttäuschung zunächst riesig gewesen sein. Anstatt richtigem Brot fanden sie darin nur steinharte Brotrinden, die entweder zum Füttern eines Tieres oder einfach zur Entsorgung vorbereitet worden waren. Meine Großmutter aber nahm einen Topf, füllte ihn mit Wasser und kochte diese harten Brotrinden so lange, bis sie zu einer Art Brotsuppe wurden. Diese aus den Brotrinden zubereitete Suppe hat meiner Mutter und meinen Großeltern das Leben gerettet.

Nicht nur mir und meiner Schwester, sondern auch meinen Kindern, ihren Enkelkindern, hat meine Mutter diese Geschichte immer wieder erzählt. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich sie weitererzähle, und das, obwohl es ja am Ende eine schöne Geschichte ist. Denn wenn ich heute bei einem Familienfest auf meine inzwischen dreißig Enkelkinder blicke, dann denke ich daran, dass letztlich auch das Leben dieser dreißig Kinder – und der Kinder, die sie einmal haben werden – durch diesen Sack alter Brotrinden gerettet worden ist.

Auch mein Vater, Akiba Eisenberg, stammte aus der Gegend um Budapest und war mit seinem Bruder Oskar gegen Ende des Krieges bei einer Bauernfamilie versteckt. Der Sohn des Bauern, er hieß Ivan, wurde jeden Tag, während der Rest der Familie arbeitete, zum Greißler geschickt, um Brot zu kaufen. Da aber auch mein Vater und sein Bruder am Bauernhof lebten, musste mehr Brot eingekauft werden, um alle ernähren zu können.

Der Sohn des Bauern hatte eine geistige Einschränkung, und jeden Tag fürchtete sich die Familie davor, dass der Bäcker ihn fragen würde, warum sie plötzlich mehr Brot brauchten; und der kleine Ivan, der die Gefahr der Situation nicht erkannte, verraten würde, dass mein Vater und sein Bruder bei ihnen im Keller versteckt waren.

Mein Vater erzählte mir später, dass sie den ganzen Tag mit Tarock-Spielen beschäftigt waren und möglichst leise blöde Witze rissen, um die permanente Spannung, unter der sie in ihrem Versteck lebten, irgendwie erträglich zu machen. Es ist für uns Nachgeborene schwer vorstellbar, wie es sein muss, jeden Tag beim Schlafengehen damit rechnen zu müssen, dass man von einem Soldaten geweckt und in ein Konzentrationslager deportiert oder gleich erschossen wird.

Mein Vater war dieser Familie natürlich sein Leben lang ungeheuer dankbar und hat ihr nach dem Krieg sehr geholfen.

GEBOREN WURDE MEIN VATER im Jahr 1908 in Ungarn und er erwarb schon kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs sein Rabbinerdiplom in Budapest. Nach Kriegsende arbeitete er als Rabbiner jeden Schabbat in Győr, von Freitagabend bis Samstagabend. Unter der Woche war er Lehrer im jüdischen Mädchengymnasium in Budapest. Er erzählte mir einmal, dass alle Mädchen in ihn verliebt waren.

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