Kitabı oku: «Das Grab des Franzosen», sayfa 2
Kapitel 2
15. April 1865, preußische Provinz Westfalen, Eilpe bei Hagen
„Es ist ein Junge!“, rief das Mädchen freudig dem Vater entgegen, als sie den düsteren Raum des Fachwerkhauses betrat, der den, durch Wasserkraft angetrieben, Hammer beherbergte. Es war nicht nur schummerig, sondern auch laut. Friedrich Recksiepe verstand kein Wort, was einerseits an der Lautstärke, andererseits an der trotz seines jungen Alters von 24 Jahren bestehenden Schwerhörigkeit des Juniorchefs der Klingenschmiede, lag. Die Schmiedewerkstatt lag am Selbecker Bach, dessen Kraft zwei mehrere hundert Kilogramm schwere Hammer unablässig über ein hölzernes Räderwerk hochhob, die dann am oberen Punkt freigegeben und vom eigenen Gewicht angetrieben mit dem Schmiedekopf auf einen Amboss fielen. Neben jeder Schmiedestelle befand sich ein Kohlefeuer, in dem die Werkstücke auf die erforderliche Schmiedetemperatur gebracht wurden.
Der Betrieb wurde von Friedrichs Großvater, Friedrich sen., zu einer denkbar ungünstigen Zeit, im Jahr 1813 gegründet. Wobei es keine Neugründung war, sondern vielmehr die Übernahme eines verwaisten Betriebes. Friedrich Recksiepe war der Sohn eines Bauern aus dem oberbergischen Kreis. Als Zweitgeborener hatte er kein Anrecht auf einen Anteil des Hofes. Ihm wurde ein Unterhalt für die Zeit seiner Ausbildung gewährt und eine Abfindung, die weit unterhalb der Hälfte des Wertes der eigentlichen Erbmasse lag. Obwohl diese gängige Art der Erbfolge heutzutage manchem als ungerecht oder moralisch verwerflich erscheinen mag, hatte sie einen praktischen und nachhaltigen Nutzen. Durch diese Praktik wurde eine fortwährende Verkleinerung der Höfe durch Teilung in jeder Generation vermieden, die zwangsläufig dazu führen würde, dass die Höfe irgendwann zu klein wären, um davon leben zu können.
Friedrich erlernte das Schmiedehandwerk und legte seine Meisterprüfung ab. Das Glück wollte es, dass er von einem Betrieb erfuhr, dessen kinderloser Eigentümer kürzlich verstorben war. Friedrich verpflichtete sich vertraglich zur Zahlung einer geringen Rente an die Witwe und bekam im Gegenzug die kleine Schmiedewerkstatt, in der seit vielen Jahrzehnten Klingen geschmiedet wurden.
Der wirtschaftliche Aufschwung der Klingenproduktion begann, nachdem der große Kurfürst, Markgraf Friedrich Wilhelm zu Brandenburg, mit einigen Klingenschmieden aus Solingen einen Vertrag geschlossen hatte, in dem er ihnen das Monopol auf die Herstellung von Schwert- und Degenklingen in Preußen zusicherte. Im Gegenzug verpflichteten sie sich, ihre Betriebe auf preußischem Territorium zu errichten. So entstanden in Eilpe mit der Zeit über 50 Betriebe. Der Kurfürst ließ dann 1664 auf seine Kosten Wohnungen und Werkstätten errichten, auch eine Schule für die Kinder der Schmiede wurde 1665 erbaut.
Doch der Stern der Klingenschmieden in Eilpe befand sich mittlerweile in einem Sinkflug, der zur Zeit der französischen Besatzung durch Napoleon Bonaparte zwischen 1808 und 1813 begonnen hatte. Zu bequem war es, regelmäßige Aufträge von staatlicher Stelle zu erhalten, ohne in Wettbewerb mit Unternehmen aus anderen Orten zu stehen. Aufgrund der politischen Veränderungen durch die französische Besatzung und dem damit einhergehenden Wegfall der staatlichen Aufträge sowie des sich zunehmenden Wettbewerbs zu den Solinger Schmieden mit ihren qualitativ hochwertigeren Produkten, wurde es für die Eilper Schmiede immer schwieriger, ihre Produkte abzusetzen. Man kann sich vorstellen, dass die Bürger und besonders die Schmiedezunft nicht sehr gut auf die französischen Besatzer zu sprechen waren. Die durch Missernten und Getreideknappheit 1816/17 ausgelöste Hungersnot war eine weitere Herausforderung. Für viele ging es ums Überleben.
Aufgrund der abnehmenden Produktionsmenge an Klingen war Friedrich Recksiepe sen. seit der Gründung seines kleinen Unternehmens bestrebt, ständig neue Produkte ins Sortiment aufzunehmen. Sein Sohn Friedrich Wilhelm, der zum Verkauf der Fabrikate oft mehrtägige Reisen unternahm, hatte nicht selten Anfragen zu neuen Schmiedeprodukten im Gepäck. Dadurch und durch harte Arbeit konnte der Betrieb bestehen, ja sogar bescheiden wachsen. Mittlerweile beschäftigte man drei Gesellen, von denen einem sogar eine Meisterausbildung in Aussicht gestellt wurde.
Friedrich Wilhelm selbst kam während einer Reise bei einem Kutschenunglück ums Leben, so dass sein Sohn Friedrich schon früh im Betrieb helfen musste und, nach seiner bestandenen Meisterprüfung, die Leitung übernahm. Von da an begnügte sich sein Großvater, mittlerweile im biblischen Alter von über 75 Jahren, mit leichten Aufgaben oder brachte fertige Werkstücke mit der Kutsche zu Kunden in der Umgebung.
Das Mädchen aus der Nachbarschaft war von der Hebamme zum Betrieb geschickt worden, stand mittlerweile direkt neben Meister Friedrich und wiederholte ihre Botschaft mit lauter Stimme. Der Meister inspizierte den Lagerblock des gewaltigen Hebelarmes eines Hammers. Er schaute überrascht auf, schien zwar nichts verstanden zu haben, aber folgte ihr dennoch nach draußen. Dort wiederholte das Mädchen: „Meister Recksiepe, es ist ein Junge. Die Hebamme hat mich geschickt nach Ihnen zu rufen.“ Auf das Gesicht des Meisters trat trotz des Schmutzes der Werkstätte ein Glanz von Freude. Er dankte ihr, griff in die Tasche, kramte kurz und gab dem Mädchen 2 Pfennige. Nun strahlte ihr Antlitz, denn offenbar hatte sie nicht mit einer solch hohen Belohnung für den Gang gerechnet. Sie dankte vielmals und verschwand. Friedrich Recksiepe lief schnellen Schrittes den Berg Richtung Goldbergsattel hinauf. Nach zehn Minuten, auf einem Drittel der Höhe, erreichte er das Wohnhaus seiner Familie. Ein kleines, aber ansehnliches Fachwerkhaus, das sein Großvater aufgebaut hatte, und das sie zusammen mit ihm bewohnten. Betrat man das Haus, gelangte man in einen kleinen, kaum zwei Quadratmeter großen Flur, dessen dominantes Element die zum zweiten Stockwerk führende Treppe war. Vor der Treppe gelangte man links und rechts jeweils durch eine Tür zu weiteren Räumen. In dem Linken war die Kammer des Großvaters, rechts kam man in eine behagliche Stube. Diese war gut 15 m² groß, ausgestattet mit einem Tisch und Stühlen und einem hohen Schrank, der die Geschäftsbücher des Unternehmens beherbergte. In einer Ecke befand sich eine alte Truhe aus Eichenholz, in der einst die Aussteuer von Elisabeth Recksiepe, der schon vor vielen Jahren verstorbenen Ehefrau des Firmengründers, aufbewahrt gewesen war. Dort empfing man Gäste. Der Stolz des Raumes spiegelte sich auch in einem gusseisernen Ofen wieder, der in der zur Mitte der Hausgrundfläche zeigenden Ecke aufgestellt war, und so auch, die sich direkt über ihm befindenden, Räume heizte. Hinter diesem Raum waren die Küche und die Speisekammer.
Im oberen Stockwerk waren eine große Kammer auf der rechten Seite und zwei kleinere auf der linken. In der großen stand das Ehebett und davor seit einiger Zeit eine Wiege, die geduldig auf den Zuwachs der Familie wartete. Die beiden kleinen Kammern waren für die Kinder gedacht, sobald der Platz für sie im elterlichen Schlafgemach nicht mehr ausreichen würde.
Der stolze Vater erblickte nach Betreten des Hauses sofort die Hebamme, die im großen Raum zur Rechten am Tisch saß, im Arm ein kleines Bündel mit dem Kind. „Der Wundarzt ist gerade noch bei der gnädigen Frau oben Meister Recksiepe. Aber schaut, hier habe ich Euren Sohn. Habe ihn auch schon gewogen, stolze sieben Pfund ist der Junge“, und reichte ihm dabei das Bündel. Friedrich nahm vorsichtig seinen Erstgeborenen in den Arm und schaute ihm ins Gesicht. „Friedrich, sollst du heißen!“, und zur Hebamme gewandt: „Sag bitte dem Pfarrer Bescheid. Wenn es recht ist, würden wir ihn gerne morgen nach der Messe taufen lassen.“
Der Wundarzt hatte der Mutter, Katharina Recksiepe, dringend davon abgeraten, ein weiteres Kind zu gebären. Sie neige zu starken Blutungen, hatte er ihr gesagt, und das Risiko bei einer weiteren Geburt zu verbluten, wäre zu groß. Doch dieses Mal hatte Katharina überlebt. Der junge Friedrich genoss damit die größte Aufmerksamkeit von Mutter, Vater und Urgroßvater, die man sich vorstellen konnte. Mit dem Urenkel verbrachte dieser viel Zeit, obwohl ihm davon nicht mehr so viel blieb. Denn gut ein Jahr nach der Geburt des Stammhalters fuhr der Urgroßvater nach Herdecke, einer kleinen Stadt in unmittelbarer Nähe von Hagen. Eigentlich kein erwähnenswerter Vorgang. Er lieferte dort einige wichtige Schmiedeteile an eine mechanische Werkstatt aus, nahm in einer Gaststätte ein Mittagsmahl zu sich, und fuhr wieder zurück nach Eilpe. Doch zwei Tage später bekam er starken Durchfall und war am dritten Tag tot. Denn, was er vor seiner Abfahrt nicht gewusst hatte, war, dass in Herdecke zu dieser Zeit die Cholera wütete.
Kapitel 3
Frisch geduscht betrat Sophia gegen 15 Uhr das Rathaus an der Volme. Die Volme ist einer der kleinen Flüsse, die das Stadtgebiet durchfließen und durch ihre Wasserkraft der Stadt einst zu einem ansehnlichen Wohlstand verholfen hatten. Im Foyer wurde sie bereits von Erwin Walther empfangen, der nach kurzen Blick auf seine Armbanduhr in Hektik verbreitender Art sagte: „Die Pressekonferenz fängt in 20 Minuten an. Einige vom Rundfunk und vom WDR sind schon da. Es ist oben im großen Konferenzsaal.“
„Und wer veranstaltet hier diesen Hype?“, entwich es ihr, als sie die breit geschwungene Treppe hinauf liefen.
„Nun, soweit ich das richtig mitbekommen habe, hat der Herr Recksiepe den Oberbürgermeister angestachelt. Das sagt ja wohl alles“, erwiderte Erwin mit gedämpfter Stimme.
Sophia hob erstaunt die Augenbrauen. „Nein, tut es nicht!“
Erwin stutzte kurz, um sich aber direkt wieder zu fangen:
„Oh sorry, ich vergesse immer wieder, dass du ja nicht von hier bist. Also, die Firma Recksiepe gehört in Hagen zu den größten Arbeitgebern. Sie hat vor Ur-Zeiten in der Klingenproduktion angefangen und ist mittlerweile ein bedeutender Automobilzulieferer. Ich glaube, es fährt kein Auto durch die Gegend, in dem nicht irgendein Teil von Recksiepe verbaut ist.“ Er hob die Hand, wie zur Abwehr, „Aber grundbodenständige Leute! Und Dieter Recksiepe plant da gerade ein Joint-Venture mit irgendeinem großen indischen Konzern. Da möchte er natürlich keine seltsamen Geschichten über Leichen in seinem Garten erklären müssen. Er möchte den Ball halt flach halten.“
„Und um den Ball flach zu halten, veranstaltet er dieses Brimborium hier?“, platzte es abermals aus Sophia heraus.
„Das nennt man Offensive!“, erwiderte der Kommissar mit einem fetten Grinsen.
Mittlerweile waren sie an den noch geöffneten Türen des großen Saals angekommen. Schweigend betraten sie ihn und augenblicklich waren etliche Blicke auf sie gerichtet. Im hinteren Teil des Saales stand ein langer Tisch, mit etlichen Stühlen dahinter. In der Mitte der Stuhlreihe saß der amtierende Oberbürgermeister, Thomas Reiter. Neben ihm saß ein Mann um die fünfzig in einem dunkelblauen Anzug. Dazu passend trug er ein gelbes Einstecktuch in der Brusttasche des Zweireihers und in der gleichen Farbe eine Krawatte. Mit den silber-grauen Haaren und den blauen Augen eine äußerst seriöse Erscheinung.
Links vom Oberbürgermeister befanden sich zwei freie Plätze. Vor einem dieser Plätze stand ein weißes Namensschild mit ihrem Namen, deshalb nahm sie dort Platz und begrüßte die Anwesenden in der Reihe mit gut sichtbarem Kopfnicken. Auf dem Namensschild zu dem verbleibenden freien Platz stand „Uwe Volkerts“. Der Name kam ihr bekannt vor, sie konnte ihn aber nicht zuordnen. Nachdem sie Platz genommen hatte, drehte sie sich zu Erwin um, der in der zweiten Reihe hinter ihr stand, als wäre er ihr Bodyguard.
„Und was ist mit dir? Musst du stehen?“
Er neigte sich zu ihr hinunter und erklärte „Der OB meinte, wir sollen kein falsches Licht auf den Fund werfen, und daher wäre es besser, wenn die Kripo nicht in der ersten Reihe sitzt.“ Dann beeilte er sich, noch zu ergänzen, „Bei dir ist das ja was anderes. Du bist Wissenschaftlerin.“
Seltsame Veranstaltung hier dachte Sophia, als sie sich wieder umdrehte. „Guten Tag, Frau Kollegin“, erklang eine gehetzt wirkende Stimme zu ihrer Linken. Irritiert blickte sie zur Seite und sah einen korpulenten Mann, aus dessen hell-blauem Oberhemd man gut ein Einmannzelt hätte nähen können. Er trug eine aus der Mode gekommene Krawatte mit grünem Paisley Muster und dazu ein beigefarbenes Sakko aus zerknitterten Leinenstoff. Sophia konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, Oh mein Gott, der Typberater gehört ins Gefängnis! Er nahm neben ihr Platz. Immer noch schwer atmend. Die Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und die wenigen, dünnen und asch-blonden Haare waren eine traurige Erscheinung über dem blassen Gesicht und der Brille der Marke Kassengestell.
„Guten Tag“ Ah, das war also Herr Volkerts. Sie nahm nicht an, dass er Mediziner war, sonst würde sie ihn wahrscheinlich kennen. Die Anrede als Kollegin wirkte verstörend. Seltsame Menschen, hier.
Oberbürgermeister Reiter ergriff das Wort: „Meine Damen und Herren von der Presse und vom Rundfunk, ich danke Ihnen, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten, und bin sicher, Sie werden nicht enttäuscht werden. Aber zunächst möchte ich uns kurz vorstellen; zu meiner Rechten Herr Dieter Recksiepe, Direktor und geschäftsführender Gesellschafter der Firma Friedrich Recksiepe & Söhne. Zu meiner Linken darf ich vorstellen Frau Dr. Sophia Jäger, leitende Forensikerin hier in unserer schönen Stadt“, dabei bemühte er sich, ihren Namen und die schöne Stadt besonders zu betonen, wohl um vom Synonym für Gerichtsmedizin abzulenken. „Und zu unserer gemeinsamen Linken unser lieber Dr. Uwe Volkerts, Direktor unseres Heimatmuseums.“
Der rhetorisch geübte Oberbürgermeister begann seine Einführung mit einer Darstellung der Funde prähistorischer menschlicher Skelette im Stadtgebiet und der Bedeutung der geographisch und strategisch interessanten Umgebung. Der Museumsdirektor nickte gelegentlich zustimmend. Anschließend leitete er seine Ausführungen zum aktuellen Fund ein. „... Wie bereits erwähnt ist das menschliche Skelett nahezu vollständig erhalten und in gutem Zustand. Aber nun möchte ich die Fragerunde eröffnen, bei der uns unsere Expertin Frau Dr. Jäger sicher gerne ein Bild zum aktuellen Stand geben wird.“
Woher hat er nur diese Details? Die Knochen sind ja noch erdfeucht!, schoss es Sophia durch den Kopf. Doch sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, da sie direkt angesprochen wurde. Ein Vertreter der Lokalpresse wandte sich an sie:
„Frau Dr. Jäger, was können Sie uns zu dem Fund sagen? Wie alt ist das Skelett? Ist es prähistorisch oder aus der Neuzeit?“
Das Ganze ging ihr entschieden zu schnell, daher versuchte sie, ein paar Gänge zurückzuschalten, holte tief Luft und begann dann: „Nun, wir stehen gerade erst am Anfang unserer Untersuchung. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich lediglich bestätigen, was der Herr Oberbürgermeister bereits dargestellt hat. Es ist ein offensichtlich gut erhaltenes menschliches Skelett. Eine Angabe zum Alter des Skeletts und Alter zum Todeszeitpunkt können wir erst nach weiteren Untersuchungen machen.“
Gerne hätte Sophia mit diesen Worten die Konferenz verlassen, doch so einfach wollte man sie nicht gehen lassen.
„Aber wie kann man vom Erhaltungszustand des Skeletts auf das Alter schließen?“, bohrte der Journalist weiter.
Sophia versuchte, nicht genervt zu klingen, während sie kurz antwortete: „Wie gesagt, detaillierte Ergebnisse können erst weitere Untersuchungen bringen.“
Doch ihre Aussage stellte die Pressevertreter nicht zufrieden. Ein Vertreter des hiesigen Lokalsenders gab seinem Vorredner Schützenhilfe: „Verstehe, aber aufgrund ihrer großen Fachkompetenz haben Sie doch sicher schon eine Vermutung, ob es sich eher im einen prähistorischen oder einen Fund aus der Neuzeit handelt, oder?“
Vom schmeichelnden Lob des Fragenden verführt, schnappte die Falle zu.
„Ja, sicher. Ich denke nicht, dass es prähistorischen Ursprungs ist. Es kann gut 200 Jahre alt sein bei den Bodenverhältnissen ....“ Für sie war es eigentlich nur eine beliebige Zahl, doch schon während sie die Zahl aussprach, sagte ihr ihre innere Stimme, dass es ein Fehler gewesen war. Sie versuchte, sofort zurückzurudern: „..., aber wie gesagt, ohne weitere Untersuchungen kann man da eigentlich gar nichts sagen.“
Doch der nachgeschobene Hinweis fand wenig Beachtung, die Meute hatte bekommen, wonach sie gierte. Ohne ihr eine Verschnaufpause zu gönnen, fuhr ein Vertreter einer überregionalen Nachrichtenagentur fort: „Stimmt es, dass Sie auch Artefakte neben dem Skelett gefunden haben, Waffen oder andere Gegenstände?“
Wer hat Ihnen das denn gesteckt?, hätte Sophia ihm am liebsten entgegengeworfen. Doch sie lernte schnell. Nochmal würde sie in keine Falle hineinstolpern! Sie bemühte sich um einen lässigen Ton.
„Wissen Sie, ich habe mich so beeilt, um Sie hier heute nicht warten zu lassen, da konnte ich gar nicht bis zum Ende der Exhumierung bleiben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was mein Team da heute noch gefunden hat.“
Für sich genommen stimmte diese Aussage sogar.
„Aber Sie können es nicht ausschließen, dass eine Waffe gefunden wurde?“
„Wer kann das schon?“, war ihre spontane Antwort. Und irgendwie schienen die Vertreter der Presse damit erst mal genügend ‚Fakten‘ zu haben. Sie hätte nichts dagegen gehabt noch Auskünfte zur Vorgehensweise zu erläutern. Allerdings schien das Interesse an Informationen von ihr befriedigt zu sein.
Nun war der Museumsdirektor Uwe Volkerts an der Reihe: „Herr Dr. Volkerts, welche Pläne haben Sie angesichts dieses offensichtlich so bedeutenden Fundes?“
Volkerts holte weit aus, indem er die Bedeutung des Heimatmuseums für die heimische Bevölkerung und die positiven Auswirkungen auf den Tourismus mit Enthusiasmus darlegte. Anschließend wies er auf die Kooperation mit den Wissenschaften hin und den damit verbundenen Nutzen für die Menschheit. Endlich ging er dann auf die Frage ein. Er sprach von Sonderausstellungen zum geschichtlichen Hintergrund des Fundes, Lehrveranstaltungen für Schulklassen, Studienangebote für Studenten der Archäologie und Geschichte. Schließlich beklagte er noch im letzten Teil seiner Ausführungen die enormen Kapitalmittel, die solche Vorhaben verschlängen und die tatsächlich leeren Kassen. Das nahm das Stadtoberhaupt als Stichwort auf, um einerseits ins gleiche Horn zu blasen und andererseits das Wort an seinen Sitznachbarn zur Rechten zu übergeben.
Herr Recksiepe begann damit, dass man sich als alteingesessener Hagener Unternehmer in der fünften Generation durchaus und gerne der Verantwortung stelle. Im Besonderen, weil dieser Fund auf einem mittlerweile zum Familieneigentum gehörenden Grundstück lag. Man werde daher mit Freude die weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen auch finanziell unterstützen. Mit diesem kurzen Statement gab er das Wort direkt wieder zurück.
Welche wissenschaftliche Untersuchungen? Sophia hatte nicht das Gefühl, dass der Industrielle damit ihre Arbeit im Sinn hatte.
Thomas Reiter bedankte sich für die Ankündigung einer finanziellen Unterstützung und bei allen Anwesenden für ihre Aufmerksamkeit und erklärte die Pressekonferenz damit für beendet.
Sophia hatte das diffuse Gefühl, unfreiwillig Teil einer Inszenierung geworden zu sein. Wovon soll hier abgelenkt werden?
Kommissar Walther und sie verließen schweigend das Gebäude. Draußen, abseits von potenziellen Zuhörern platzte es aus ihr heraus:
„Nur damit ich nicht im falschen Film bin, bis jetzt ist das doch immer noch eine kriminaltechnische Untersuchung, oder habe ich irgendwas verpasst?“ Sie sah ihn mit großen Augen und fragendem Blick an.
„Formell ja, aber ich denke, das wird es nicht lange bleiben. Schau, wir haben keinen Vermissten. Meine Befragung der Familie hat nichts ergeben und es war ja heute Morgen offensichtlich, dass das Skelett schon verdammt lange dort liegt. Ich meine, du hast es ja selbst gesagt, dass die Liegezeit schon gut 200 Jahre sein kann!“
„Verdammt, das habe ich so nicht gesagt!“
„Nein??“
Sie standen sich einen Moment schweigend gegenüber, schließlich sagte Erwin: „Wie auch immer, passt es morgen um 13:00 Uhr im Präsidium zur Fallbesprechung?“
„Ja sicher, bis dann. Ciao“
Was sie jetzt brauchte, war Luft, Luft zum Atmen, ohne diesen ganzen künstlichen Druck, der ihr aufgezwungen worden war. Sophia wohnte in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, des allgemeinen Krankenhauses, den sie so bequem zu Fuß erreichen konnte. Sie hatte Glück gehabt, direkt hier ein kleines Haus mit Garten mieten zu können, denn dieser Teil des Stadtteils in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wald war eine bevorzugte Wohngegend. Sie genoss es immer wieder, ohne große Anfahrt durch den Wald zu joggen. So auch heute.
Doch ihr Genuss wurde getrübt durch die Ereignisse des Tages, die sie nicht losließen. Es war offensichtlich, dass einige eine kriminaltechnische Untersuchung am liebsten verhindern oder möglichst schnell beenden würden. Aber warum? Was sollte nicht ans Tageslicht kommen?
Da war zunächst Herr Recksiepe mit seinem geplanten Joint-Venture. Klar, dass eine Leiche im Garten sensible Geschäftspartner abschrecken würde, aber ihrer Meinung nach konnten sich mit einer kriminaltechnischen Untersuchung doch schnell alle Bedenken zerstreuen lassen, sofern dadurch kein Bezug zur Familie Recksiepe herstellen ließe. Vielleicht dachten Manager aber auch anders, es blieb ein Fragezeichen.
Dann war da Herr Volkerts. Hierzu war ihr bereits während der Pressekonferenz eingefallen, dass sie den Namen schon einmal von ihrem Freund Kai Sommer gehört hatte. Kai hatte einen Bachelor in archäologischer Geschichte und aktuell einen befristeten Arbeitsvertrag im Heimatmuseum. Herr Volkerts war sein Chef. Den Erzählungen Kais und den heutigen Ausführungen von Uwe Volkerts selbst zufolge lag es auf der Hand, dass er nach jedem potentiellen Exponat lechzte, um an Geld zu kommen.
Nach ihrer ersten Runde durch den Wald konnte sie die Gedanken abschütteln, indem sie sich vornahm, sich auf ihre Untersuchungen zu konzentrieren. Nun nahm sie auch die Herrlichkeit des Waldes wahr, die frische Luft, die durch ihre Bronchien strömte, und das besondere Grün der Blätter, wie es jedes Jahr nur in einem kleinen Zeitfenster von zwei Wochen zu sehen war. Denn nachdem die Bäume aus ihrem Winterschlaf kommend neue Blätter produzieren, enthalten diese zu Anfang nur wenig Chlorophyll, das die Blätter grün erscheinen lässt. Die Blätter sind dann zart und lichtdurchlässig, sodass die Sonnenstrahlen zum Teil durch sie hindurch scheinen, und somit im Auge des Betrachters ein leuchtendes helles Grün erzeugen.
Erst als sie abends im Bett lag, holten ihre Gedanken sie wieder ein. Was sollte nicht ans Tageslicht kommen? Warum schien sie die Einzige zu sein, die den Fund als das betrachtete, was es war? Ein kriminaltechnisch zu untersuchender Fund!
Das Verhalten ihres Kollegen Walther war schwerer einzuordnen. Agierte er nur als der Profi, der wusste, was in dem großen Spiel hinter der Bühne ablief? Der sich nicht opferte, weil er sich im Klaren darüber war, dass er nicht gewinnen konnte? Sophia war sich sicher, dass sie in ihrem Fachbereich, der Rechtsmedizin, gut war. Und sie war sich dessen bewusst, dass sie mit ihrer Frage nach den Fakten fachlich gesehen richtig lag. Doch wenn es um politische Ränke- und Machtspiele ging, war ihr Erwin aufgrund seiner Erfahrung um einiges voraus? Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu der Überzeugung, dass Erwin aktuell, aus seiner Perspektive betrachtet, einfach nur klug agierte. Nicht umsonst hatte er es bis zum Leiter der Mordkommission gebracht. Aber Erwin war nicht der Schlüssel zur Lösung des Falles, jedenfalls nicht im Moment, das wurde Sophia klar. Und sie würde gut beraten sein, sich nicht an Erwin aufzureiben.
Ihre Selbstdisziplin, sich unbeirrt auf die weiteren Untersuchungen zu konzentrieren, ließ sie schließlich einschlafen.