Kitabı oku: «Wollter»

Yazı tipi:

Olaf W. Fichte

Wollter

Roman

Olaf W. Fichte

Dieser Roman beruht auf wahren Ereignissen.

Die Namen einiger Orte und fast aller Personen wurden geändert.

I

Die Luft war trocken, es roch nach altem Papier und Körperausdünstungen, aber auch nach einer Spur Tod, die mehr und mehr nahte, sich verdichtete, aus dem Nebel trat und mich für den Bruchteil eines Augenblicks meine Blähungen vergessen und auf das Entfalten dieser zaghaften Knospe hoffen ließ. Doch sie lebte nicht - und ich hörte wieder das Lachen. Ein bitteres, ein böses Lachen. Und sie lachten und lachten. Es nahm kein Ende. Meine Ohren dröhnten, Wut verfärbte sie purpurn.

In einer lächerlich wirkenden Pose hing ich wie ein dahingeworfenes, kunstvoll gefaltetes Gästehandtuch auf einem unbequemen, harten Holzstuhl und sah mit seitlich verdrehtem Kopf zu ihnen auf. Mein Hals signalisierte Schmerz, aber sonst empfand ich nichts. Speichel mit dem Geschmack erdbeersüßer Mordgier sammelte sich auf meiner Zunge und seilte sich über den rechten Mundwinkel zwischen meinen Oberschenkeln zum Boden ab. Ohne mit der Wimper zu zucken hätte ich aufspringen und beide gleichzeitig erwürgen können. Den einen mit der Linken, den anderen mit der Rechten - und schnapp! Würgend ihr abstoßendes Hohn lachen zerquetschen. Ein für alle Mal die längst fällige abgestandene Luft aus ihnen lassen.

Jesus, hatten die ein verdammtes Glück, dass ich mich zurückhielt. Na ja, genau genommen war ich zwangsgehemmt und tat mich deshalb bei der Umsetzung meines Vorhabens etwas schwer. Kräftig genug war ich wohl, allein die Beherrschung zu verlieren, gelang mir nicht.

In weiser Voraussicht legten mir die beiden Rohlinge Handschellen an, führten sie um ein Tischbein herum und zerrten meinen Stuhl einen halben Meter nach hinten weg, so dass mein Kopf auf die Knie nickte und sich mein Hintern in Windeseile auf der abgerundeten Kante des Stuhls Halt suchend ausbalancierte. Es drückte ein wenig quer, möchte ich mal sagen. Vorbei mit aufrecht sitzen. Gepflegter Rundrücken war angesagt. Ganz klar, dass sie so ungestraft ihre Späße mit mir treiben konnten.

Die Situation war mir nicht ganz neu, die Haltung dagegen schon. Äußerlich regte sich kein Muskel an mir, weil diese Begebenheit eben nichts grundlegend Neues offenbarte und meine gewöhnungsbedürftige Pose kein schmerzloses Muskelspiel zuließ.

"Wollte er oder wollte er nicht?"

"Der Butler wollte!"

"Nein, nein, James wollte nicht!"

"Doch! Er wollte, konnte aber nicht!"

Wie spaßig! So ging es in einem fort. Ich bin beileibe kein Kostverächter, leihe einem anständig schmutzigen Witz gern beide Ohren, aber mein Verständnis für solcherart Humorausbrüche hat Grenzen. Wenn ich etwas wirklich nicht ausstehen kann, dann sind es zusammengeschusterte, völlig deplatzierte Witze ohne Pointe. Wie nennt man eigentlich den Witz eines Witzes? Staats-Diener?

Ja, ich heiße James Wollter - na und?

Und damit auch das gleich geklärt ist: Ich bin weder Butler noch Komiker - und war es auch nie.

Geboren wurde ich als kleines rotes, vom Ast gepurzeltes Käfigkind; war hässlich wie ein Teller Hafergrütze und zu allem entschlossen.

Heute ist das alles anders.

Aber der Reihe nach.

II

Eifrige Geschäftigkeit deutete am Nachmittag dieses 26. Oktober im Nürnberger Polizeipräsidium Feierabendstimmung an. Türen knallten, irgendwelche Menschen stürzten durch schmucklose Gänge; rempelten uns an, grummelten ohne aufzusehen und hasteten weiter durchs grelle Neonlicht in die Nächsten hinein.

Merochs und sein Partner zerrten mich an einer Handschelle hinter sich her zur erkennungsdienstlichen Behandlung, wie sie die Schweinereien mit einer Farbe, die zu lösen mir erst beim siebenden Waschgang glückte, verhüllend umschrieben. Mit geübter Hand rollte Merochs die angeschwärzten Fingerkuppen meiner Hände über weißes Papier.

"Warum haben Sie sich freiwillig gestellt?"

Fasziniert sah ich auf die Hinterlassenschaften meiner Finger und Handflächen in den schwarz geränderten Feldern.

Ob man das verkaufen kann? Bestimmt. Musst nur einen finden, der sich freut und dafür löhnt, dann ist es Kunst und teuer.

So viele kleine Kringel zählt also ein Verbrecher. Doch eigentlich war ich ja gar kein Verbrecher, nur eine Nummer. Zwölf Kästchen mit den Kringeln einer Nummer. Nummern begehen keine Verbrechen.

"Sie müssen nicht antworten. Ihre Vernehmung wird erst in München stattfinden. Wir sind nur neugierig. Es ist nun mal nicht alltäglich, dass sich einer wie Sie stellt."

Einer wie ich? Hohoho! Wohl Autogrammjäger? Ich unterließ es, vor den beiden meine Gründe auszubreiten. Wie sollten ausgerechnet zwei trieblose K 21-Bullen meine Beweggründe verstehen, war ich mir doch selbst nicht mehr sicher, warum ich es tat und weshalb mich mein Weg der letzten Wochen bis zu diesem Tisch führte. Einerseits hegte ich Zweifel, andrerseits war ich recht froh und auf eine eigenartig traurige Weise erleichtert.

Bei der sich anschließenden Fotosession bewerkstelligte es Merochs Juniorpartner nicht, den Film manuell zu transportieren. Technik zum Schmunzeln. Ich war sehr gespannt, zu sehen, wie ein Profi einen echten Harakiri hinlegt. Früher mal sah ich das in einem Film. War nicht sehr appetitlich. Aber hochinteressant. Eigentlich könnte er mir die kleine Freude machen.

Unablässig stieß mein Seppukuanwärter unflätige Flüche aus und zitterte mit fiebrig langen, spindeldürren Fingern um das zarte, schutzlose schwarzsilbrige Gerät, bis er beschloss, dem Japaner mit deutscher Geduldsamkeit zu begegnen. Und, siehe da, schon nach zwanzig Minuten hatte er meine drei Fotos im Kasten und befahl mir entnervt, zu jenem Tischchen zu gehen, an welchem ich zuvor - wie wir in Fachkreisen zu sagen pflegen - Klavier spielte.

Lustlos tapste ich die fünf Schritte am Kameraständer vorbei zum Tisch und sah mich fragend nach ihm um.

"Setzn!"

Wenn du meinst.

Junior kniete neben mir nieder, löste routiniert wie ein alter Bulle die Handfessel von meinem linken Handgelenk, forderte mit einem kräftigen Ruck meinen rechten Arm zum nachgeben auf, führte den blitzenden Stahl um das angeknabberte linke Tischbein herum und ließ ihn wieder an meinem Handgelenk einrasten.

Huch, mächtig verkeimt hier unten, war das Erste, was mir nach dem unvermittelten Hechter durch den Kopf ging. Und das Zweite: Sieht so der Dank für meine Reserviertheit aus? Keinen Mucks gab ich von mir, als du mit dem Japaner kämpftest. Gelangweilt sah ich zur Decke, tapfer hielt ich geistreiche Bemerkungen nieder und tötete den aufsteigenden, quälend drängenden Lachkrampf ab.

Alles weitere ist bereits bekannt.

Sie drehten mir ihre Rücken zu, schaukelten sich hoch und ich kaute an meiner Wut. Schmerzliche dreißig Minuten vergingen, dann endlich nahte die Erlösung. Zwei Uniformierte schoben sich in den Raum als müssten sie ihren Körpern vor jeder Bewegung gut zureden. Der eine lüpfte seine Schirmmütze und wischte sich mit dem Handrücken über die trockene Stirn; der andere hielt sich die Dunstkiepe vors Gesicht und gähnte angestrengt. Danach ging alles sehr schnell. Sie wickelten mich vom Pflock - und schwups fand ich mich auf einem muffigen Zellentrakt im Keller wider.

Mitten auf dem Gang saß ein Doppelpack in Grün an einem kümmerlichen Tischchen und füllten mit heraushängender nachdenklicher Miene irgendwelche Formulare aus. Vielleicht verfassten sie auch Lyrik oder hakten den Speiseplan ab, so genau habe ich das aus drei Meter Abstand nicht erkennen können. Es erschien mir auch nicht so wichtig.

Mein müder Begleiter stupste mir in die Seite und befahl mit schleppendem Stimmchen, all die guten Sachen aus meinen Taschen vor den beiden Gelehrten auszubreiten. Artig kam ich seinem höflich vorgetragenem Wunsche nach. Ich war heilfroh, keinen Striptease hinlegen zu müssen. In ihrem Verlies zog es fürchterlich.

Während einer der Protokollführer meine Habseligkeiten, die aus einem silbernen Drehkugelschreiber, einer silbernen Halskette mit silbernem Wassermannanhänger, einem silbernen Dupont-Feuerzeug, einem silbernen Zigarettenetui, einer silbernen Handgelenkkette und einem schwarzen Ledergürtel mit silberfarbener Schnalle bestanden, und von denen ich mich nur schweren Herzens trennte, lieblos in einen hundekotbraunen Karton mit dem vielsagendem Schriftzug "Erdbeer-Konfitüre" warf, zählte sein Kollege meinen unermesslichen Reichtum. Bei 20,49 DM brach er ab und übertrug die Zahlen akkurat mit ruhig geführter Schönschreibschrifthand in ein eigens dafür entworfenes Formblatt.

Nicht zu glauben, der andere schleuderte mein Geschmeide doch tatsächlich in einen klebrigen Marmeladentrog. Ja, und außerdem war das Ding auch noch viel zu groß. Doch ich hielt mich zurück, schlug die Zähne aufeinander und verfolgte mit geballten Fäusten in den Hosentaschen die Flugbahn meiner Kleinodien. Die grünen Männlein waren in der Übermacht.

Nichts von alldem würde ich vor meiner Entlassung wieder zwischen die Finger bekommen, so der psychologisch schwergewichtige Einschüchterungsversuch des Schmuckweitwerfers. Die paar Tage, dachte ich, und fühlte mich schlagartig besser. Hastig warf ich Blicke über das Papier. Sie drängelten, hätten noch Wichtigeres zu tun.

"Aus Gründen, die zur Schädigung von Leben und Gesundheit sowie zur Beschädigung fremder Sachen geeignet seien", las ich und kritzelte ein halbes Dutzend Mal meinen Namen. Deshalb also. Natürlich sah ich nun ein, dass die Formalitäten unerlässlich waren.

Aber ließe sich dieses zweckmäßig formulierte, dieses verspielte und zugleich kesse Sprüchlein nicht auch als Warnhinweis an Fußbälle, Biergläser oder Automobile anbringen? Und weshalb, fragte ich mich weiter, beließen sie mir ausgerechnet die Schuhbänder? Sollte ich sie darauf hinweisen? Oder kommentarlos auf den Tisch legen? Nein, nein, sie hatten Wichtigeres zu tun.

Auf dem Weg zur Schlafstelle, so an die sechs Meter den Flur entlang, beschlich mich im Duster der Kellergewölbe ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Ohne netten Plausch löste sich unsere heitere Männerrunde auf. Meine Konversationsbestrebungen ignorierend, bohrte einer der Sheriffs in der Nase. Er bohrte tief, wurde aber nicht fündig, so dass er den Meißelrhythmus intensivierte, was verständlicherweise keinen Dialog mit mir zuließ. Die anderen drei taten es ihm zwar nicht nach, folgten jedoch seinen Bemühungen mit verstohlen neugierigen Blicken, so als erwarteten sie nach dem Heben das aufteilen außergewöhnlich seltener Fundstücke.

Blitzartig durchfuhr mich das Entsetzen. Ich hätte wissen, daran denken müssen, dass so etwas geschehen konnte, bevor ich den wahnwitzigen Entschluss fasste, mich auszuliefern. Mir schauderte, meine Hände zitterten, Schweiß ergoss sich über meinen Körper und mein Magen wollte unbedingt noch einmal herzeigen, was ich ihm vor Stunden zuführte. Unbeweglich stand ich da, starrte hinauf in das fahle Licht der nackten, sich schamhaft in einer kleinen, quadratischen Vertiefung über der Tür versteckenden Glühlampe. Hilfe suchend umklammerten meine eiskalten Hände die Gitterstäbe, wurden feucht und glitten an ihnen hinab. Tränen tauchten meine Perspektive unter einen dichten Schleier. Und irgendwo - weit, sehr weit weg - sah ich ein sanftes weißes schimmern um ein verschwommenes dunkles Nichts.

"Wie spät?", fragte ich leise den Geologen.

"Nach sechs", beschied er mürrisch, schlug das Eisengitter und kurz darauf die schwere Zellentür ins Schloss.

III

Verstört warf ich den Kopf herum. Angst trocknete meine Augen. Scheppernd verhakte sich sein hässliches mausgraues Maul, rastete ein, verband sich mit der umlaufenden Mauer zu einem Ganzen. Kein Entrinnen. Ich fühlte mich beengt und bedroht. Auf puddingweichen Knien wankte ich durch den Schlund der Hoffnungslosigkeit als folge ich einem gespannten Gummiband. Was mich antrieb, ich kann es nicht sagen. Oder doch: Eigentlich trieb mich nichts, ich wurde getrieben.

Wieder dieses Zucken. Kalte Blitze durchfuhren alle Glieder. Mein Körper bebte, doch sah ich mich nicht um, als das zweite stählerne Schleusentor sein meterhohes gefräßiges Maul schloss, mich gefangen nahm, würgte und verschlang. Ich sah nach vorn und mir wurde kotzübel. Die Sonne schien, prasselte unbarmherzig auf mich hernieder. Ein wunderschöner Tag für ein Picknick im Grünen. Und höllisch heiß für einen Tag Anfang Februar. Ich schwitzte nicht. Warum wurde es nicht dunkel? Kommt wohl noch. Bitte etwas Regen, nur einen kühlenden Schauer. Wer friert, lebt. Ich fror nicht.

*****

Erst neun Monate lag das zurück. Fast auf den Tag genau. Bevor ich an diesem freundlichen Februartag durch das Haupttor der Jugendstrafanstalt in Ichtershausen, einem ehemaligen Kloster, das irgendwann korrigiert wurde, schlenderte, drückte ich mich fünfzehn Monate in verschiedenen volkseigenen Gefängnissen herum.

Ichtershausen war nicht irgendein Jugendknast. Wen die Justiz des Arbeiter- und Bauernstaates hierher karrte, der war entweder Gewaltverbrecher oder Wiederholungstäter. Schon mit fünf Jahren war man dabei und durfte sich unter Mörder, Bankräuber und auch Republikflüchtlinge mischen; sie sogar als Freunde gewinnen, wenn man was anständiges vorzuweisen hatte.

Während sich die Mehrheit mitten im Vollrausch der Pubertät befand, glitt ich zufällig - oder vielleicht auch nicht - genau an diesem Tag charmant und leichtfüßig über die viel gepriesene Schwelle zur Volljährigkeit. Doch irgendwie wollte es mir nicht so richtig feierlich ums Herz werden. Mag sein, es lag daran, dass noch fünfundvierzig Monate vor mir lagen. Kein Pappenstiel, aber mir machte das alles überhaupt nichts aus. Natürlich nicht!

Festgenommen wurde ich übrigens auf der Herrentoilette des Dresdner Hauptbahnhofs. Drei Monate später verurteilte mich ein Jugendschöffengericht des Bezirksgericht Dresden Nord wegen versuchter Republikflucht zu sechzig Monaten Jugendhaft. Den Qualm verdankte ich den Aussagen zweier Klassenkameraden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es keine x-beliebigen, sondern wirklich dicke Schulfreunde waren.

*****

Acht Tage verbrachte ich mit Nichtstun auf der Zugangsabteilung während deren die Leitung knobelte, auf welche Gruppen sie uns neun Neuzugänge am zweckmäßigsten verteile.

Als ehrlicher und unaufdringlicher Junge, der ich nun einmal war, sagte ich ihnen, um Missverständnissen vorzubeugen, gleich am ersten Tag, was ich von ihnen hielte und sie mich höflicherweise könnten, wenn ihnen mal danach sei. Da mussten sich die Herrn aber erschrocken haben, denn sie knobelten und knobelten, knobelten und knobelten - oder taten jedenfalls so. Reine Zeitverschwendung, denn ich wiederholte nur, was ich drei Wochen zuvor auch schon meinen Verurteilern anbot.

Ihr Ergebnis blieb ohne Alternative und nannte sich verschärfte Einzelhaft. Eine ebenso umständliche wie blöde Bezeichnung für ein simples Fingerschnippen.

Zum Davonlaufen! Irgendwas oder irgendwer moderte vor sich hin. Die Luft stand - und ich mittendrin, nackt vor dem Tresen der Effektenkammer auf dem schummerigen Dachboden des zweistöckigen Häuschen, nur wenige Schritte von der Zugangsabteilung über den Hof. Und plötzlich fror ich. Mir wurde kalt, richtig furchtbar kalt. So kalt, dass ich... dass mir... Oh, nein! Ich hob den Kopf, schlug die Backenzähne fest aufeinander und verzog mein Gesicht zu einer Miene, die ausdrücken sollte, "Wer jetzt Witze macht..." Den Rest schenkte ich mir. Keiner interessierte sich für meine Gedanken. Also änderte ich die Zielrichtung und dachte ungeniert weiter. Ich schrie, oder besser, ich flehte in mich hinein: "Komm schon, komm schon." Er hatte sich verkrochen, so klein gemacht, dass eine halbe Walnussschale genügte, ihn unsichtbar werden zu lassen. "Jetzt wird nicht Verstecken gespielt. Hör auf damit! Mach mir keinen Ärger. Bitte, bitte!" Wie beiläufig sah ich auf die verstreut am Boden liegenden Kleidungsstücke, die ich auf Zugang habe tragen müssen, streifte ebenso beiläufig über die Stelle, an der ich ihn vermutete, doch schien es, als habe ich ihn nun erst recht eingeschüchtert. Von Begeisterung jedenfalls keine Spur. "Tu mir das nicht an. Komm her, Mann!" Nichts. Er regte sich nicht. "Willst du wohl!" Nichts. "Wie du willst. Fortan sollst du fahnenflüchtiger Karottenstumpf Hermann heißen", knurrte ich und griff geschwind nach der Unterhose. Mit unruhigen Fingern riss ich sie vom Tresen und schlüpfte hinein. Schon wärmer. Sehr viel wärmer. Weniger hastig streifte ich den dünnen, ausgewaschen blauen Overall, den mir einer der drei Kammerkalfaktoren reichte, über, schnürte die ausgetretenen, absatzlosen schwarzen Halbschuhe an mir fest und schob das dunkelblaue Schiffchen entsprechend der Anstaltsordnung vorschriftsmäßig auf den Kopf. Nur natürlich viel lässiger.

Kaum eine Armlänge entfernt stand Oberleutnant Borrmann zu meiner Linken und betrachtete mit wissenschaftlichem Forschungsdrang seit einer viertel Stunde stumm seine Fingernägel.

Er und zwei Schlüsselschwinger brachten mich vom Zugang hierher. Beim überqueren des Hofes stellte sich mir Borrmann als Erzieher jener Gruppe vor, derer ich zugeteilt wurde, weil nun einmal jeder Jugendliche einer Gruppe zugeteilt werden müsse.

Meine erste Begegnung mit ihm lag einen Tag zurück. Beim Zugangsgespräch, im Aufenthaltsraum der Zugangsabteilung, gehörte er der fünfköpfigen Kommission an. Sie saßen vor rot-weiß gekästelten Gardinen hinter Schultischen. Ich stand und erzählte bruchstückhaft von meiner Verurteilung. Lust hatte ich keine, fast alles stand in meiner Akte. Was nicht darin stand, ging sie auch nichts an. Sie fragten nach meiner Familie, wie ich so in der Schule und beim Sport gewesen sei; welche Pläne ich für die Zeit nach meiner Entlassung habe und ob ich eine Freundin hätte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie wollten mich verarschen. Ich wurde sauer und fragte, ob ich denn wenigstens früher rauskäme, erzählte ich ihnen schlüpfrige Geschichten. Daraufhin bot mir einer "eine Kräftige auf mein großes Schandmaul an" und Borrmann, der während der zehnminütigen Aushorche regungslos aufrecht auf seinem Stuhl saß und einen blauen Kugelschreiber, den er wie eine Zigarette zwischen den Fingern der rechten Hand hielt, inspizierte, fragte mich, ohne den Blick vom Studienobjekt abzuwenden, nach den Gründen, die zu meiner Festnahme führten.

Gründe? Welche Gründe? Sieben unscheinbar gekleidete Herren nahmen meine beiden Freunde und mich auf dem Bahnhof fest. Schleiften uns vom Pinkelbecken weg. Dabei taten wir nichts Unrechtes, standen einfach nur da, pinkelten, rauchten und amüsierten uns über anstößige Kritzeleien an den Kacheln vor uns.

Zuerst dachte ich an Kinderräuber oder so was, brachte meine Fäuste in Position und brüllte: "Ich darf nicht mit fremden Männern mitgehen!". Doch die Kinderräuber waren schneller, warfen sich auf mich und legten mir eine Acht an. Die erste Acht in meinem Leben. Und die war wirklich total echt. Gott, war ich Stolz auf das Ding. Ich verdrehte den Kopf, sah in die Leidensmienen meiner Freunde, hob die Hände wie zum Gruß - Hunderte kleiner Blitze schossen über meine Acht hinweg - und rief ihnen zu: "Jetzt sind wir wer!"

"Halt die Luft an!", befahl irgendeiner hinter mir.

Jetzt war ich mir ganz sicher, dass die Kinderräuber Abgesandte der Staatsmacht waren.

"Seht her, sie haben Angst!", sagte ich laut und lachte vergnügt.

Weit nach Mitternacht, die Vernehmungen waren abgeschlossen und meine Freunde nach Hause geschickt, stellten sie mir meinen Hauptgewinn zu. Beide hatten unabhängig voneinander Protokolle unterschrieben, in denen es hieß, ich habe die Absicht geäußert, die Deutsche Demokratische Republik illegal zu verlassen. Ein gewöhnliches, sieben Zentimeter kleines Klappmesser, das ich immer bei mir trug, und wie es sich vermutlich in der Hosentasche jedes Sechszehnjährigen gelernten DDR-Bürgers finden ließ, untermauerte ihre Behauptung und brach mir schließlich das Genick.

Es war mir egal. Ich war hungrig und immer wieder fielen mir die Augen zu.

Versuchte Republikflucht unter Anwendung einer Waffe, nannten sie es. Ganz was schlimmes. Sie meinten bestimmt nicht mich.

Meinten sie doch. Denn nun stand ich vor Borrmann und schob mit beiden flach aufgelegten Händen mein Schiffchen noch eine Idee in Richtung rechtes Ohr. Borrmann zupfte unsichtbare Fussel von seiner dunkelblauen Uniform und sagte: "Das haben allein Sie sich zuzuschreiben. Denken Sie mal nach. Sie machen alles nur noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Kommen Sie zur Vernunft."

Ohne es rational begründen zu können, war mir Borrmann auf Anhieb irgendwie, na ja, sagen wir mal, jedenfalls nicht so richtig ganz sympathisch. Und doch fühlte ich mich von diesem schlanken Mittdreißiger angezogen. Sein babyarschglattes, urlaubsgebräuntes Gesicht allein konnte unmöglich diese Kraft erzeugen. Dazu wirkte es zu weich, zu anfällig. Woraus schöpfte dieser Teufel? Wurde ich Opfer seiner aufgesetzt abweisend, desinteressiert gelangweilten Art und vielleicht auch der überdeutlichen, jedes Wort betonenden, leisen, hinterhältigen Sprache?

Quatsch nicht rum, mach die Tür auf.

"Ich bin müde", sagte ich schnippisch, langte nach der übel riechenden, braunen Pferdedecke auf dem Tresen; klemmte das kratzige Ding unter den rechten Arm, steckte beide Hände in die Taschen des Overall, drückte mich am fusselsuchenden Borrmann vorbei und folgte den beiden Obermeisterdienstgraden die Holztreppe hinunter und über den Hof in ein kleines, frei stehendes, einstöckiges gelbes Gebäude.

Ich meine natürlich ein Gartenhäuschen. Hängepetunien bepflanzte Blumenkästen suchte ich zwar vergebens, doch fiel mir im entzückend kleinen Vorraum gleich die Schreibblockgroße Glasscheibe im Mauerwerk zu meiner Rechten auf. Eine wirklich durchdachte Lösung. Öffnen ließ sie sich nicht, dafür aber hatten durchblickende Aufseher eine nur anderthalb Meter entfernte, ocker Farbe abstoßende Wand vor sich. Und beugten sie sich dann nach vorn und drehten den Kopf mal nach links, mal nach rechts, kamen sogar noch die Eingangstür und bestimmt zwei Zellentüren hinzu.

Locker schlenderte ich durch den Vorraum auf einen quer verlaufenden fensterlosen Flur. Er lag im Halbdunkel. Das lustlose Glühlämpchen aus dem Vorraum brachte keine Erleuchtung. Es tat sich schwer, vielleicht wollte es auch keinen Schritt um die Ecken wagen. Ich atmete flach in kleinen Häppchen. Zunächst glaubte ich, einer der Schließer habe einen mächtigen Koffer abgestellt, doch hier hinten wurde aus dem Koffer die Gepäckabfertigung eines internationalen Flughafens. Ich dachte nicht weiter nach und atmete mehrere Male tief ein. Mein Brustkorb blies sich auf wie ein Ballon, der, ließe man ihn gewähren, im nächsten Augenblick die ihm eingepresste Luft mit hohem Druck angewidert ausstieß.

Als Kinder spielten wir oft in der Kanalisation unserer Stadt. Manchmal Verstecken, meistens aber erschlugen wir Ratten. Übler Fäkaliengestank war mir nicht fremd, es befremdete mich nur, ihn nun auch in der Wohnung zu haben.

Sechs pedantisch ausgerichtete dunkelbraune Zellentüren verteilten sich wie Pferdeboxen über die gesamte Breite des Gebäudes.

"Links! Leg die Decke hintn aufn Haufn drauf!", befahl mir ein übergewichtiger Schließer.

Gehorsam trabte ich die sechs Meter bis zum Ende des Gangs. Unmittelbar neben der Zelle mit der schwarzen Nummer eins auf der Tür türmten sich zwei Stapel Seegrasmatratzen auf. Der eine mit neun, der andere mit sechs dieser, selbst in mattem Licht gut erkennbaren, versifften Teile. Auf dem kleineren Haufen machte ich etwas aus, das ich für zwei ordentlich zusammengelegte Pferdedecken hielt. Ich nahm die Hände aus den Hosentaschen und warf meinen Lappen achtlos dazu.

"Mach das anständig, du Sackgesicht!"

Ich tat einfach so, als hätte ich ihn nicht gehört. Überlegte es mir aber anders, als mich sein Bummi mit voller Wucht auf dem Rücken traf und mich ein furchtbar lästiger Schmerz zusammenfahren ließ.

"Los, anständig die Decke da drauf, sonst setzt's noch was!"

Danke für den freundlichen Hinweis. Schon überredet. Lächelnd nahm ich sie auf, legte sie ordentlich zusammen und zurück auf die beiden anderen.

"Geht doch. Man muss bei euch Gesindel nur etwas nachhelfen. Komm, hier geht's rein, du Schwein!"

Gib mir für eine Minute deinen Bummi; nur eine Minute - und ich zertrümmere dir deine aufgeschwemmte Visage. Mit funkelnden Augen drehte ich mich eine halbe Drehung nach rechts, musterte das Grinsen im feisten Gesicht des Schließers, der abwartend neben der geöffneten Tür lauerte, und sagte: "Nach Ihnen, Herr... äh?"

"Rein ins Loch!!!", schrie das Ferkel mit hochrotem Kopf.

Ich ging hinein als suche ich nach Beginn der Vorstellung einen Platz im Kino und zuckte zusammen, als er das Gitter hinter mir zuwarf und abschloss. Ich drehte mich nicht um, spannte jeden Muskel meines Körpers und zuckte doch wieder zusammen, als er die beiden Riegel vor die Tür schob und den Schlüssel zwei Mal im Schloss drehte.

Zelle eins war keine Zelle. Es war der wahrgewordene Albtraum, den zu träumen ich vermied. In meiner Verzweiflung trat ich wie ein ausschlagender Gaul mehrfach gegen das Gitter. Mein Rücken schmerzte, und ich kämpfte mit den Tränen.

"Gib Ruhe, sonst setzt's noch mehr!"

Zum dritten Mal zuckte ich zusammen und hasste mich dafür.

Du bist ein Knacki in Einzelhaft. Halte dich daran! Sei gefälligst hart und lass diese verdammt weibische Schreckhaftigkeit.

Doch sein Angebot kam derart schnell und unverhofft, dass ich mich erschrocken umwandte und mit aufgerissenen Augen zunächst das Gitter anstarrte, bevor mir gewahr wurde, dass er mich durch den Spion in der Tür beobachtete.

Mein Albtraum bestand aus vier Quadratmeter Finsternis hinter einem eigenen Zaun. So von der Art eines Hundezwingers - nur vielleicht nicht ganz so komfortabel. Dem eingehenden Trettest entnahm ich, dass die Einfriedung keinen Strom führte.

Der Tür gegenüber eine Fensteröffnung, bei der das Gitter nicht wie sonst bei klassischen Bauwerken diesen Typs üblich, auf der Außenseite, sondern innen angebracht war. Vielleicht um Unbeholfenen den Gang zu erleichtern. Nur einen spaltbreit ließ sich das maulwurfsgraue Milchglas kippen - nach außen. Was sich dahinter verbarg, es blieb mir verborgen. Ein außen um die Fensteröffnung angebrachter, geschlossener grüngelber Drahtglaskasten mit dunklem, möglicherweise lebendig, saftig grünem Moosteppich nahm mir die Kraft der Sonne, die Hoffnung des Regens und die Philosophie der Winde. Er saß wie der Deckel auf einem Einweckglas, das Großmutter weit hinten im feuchten Kellerregal vergaß.

Ich sah auf dieses Loch in der Wand und fragte mich, ob ich nicht viel zu viele Gedanken daran verschwendete, denn schließlich war ich hart, unbeugsam und überhaupt ein schlimmer Finger.

Im Rücken die stumme Traurigkeit des Zaunes, der wie ein Moskitonetz von der Decke zum Boden fiel und sich quer durch die Zelle von einer Wand zur anderen spannte. Womöglich ein Qualitätsprodukt des Stahlwerkes Riesa - Knackischweiß vom Anfang an. Und dahinter mein Vestibül, wenn ich mal so sagen darf. Ein schönes Vestibül. Brach lag es da, erstreckte sich vom Zaun bis zur einem Meter zwanzig entfernten Tür. Nein, keine Tür. Es musste etwas anderes sein. Türen haben Klinken, Sargdeckel haben niemals Klinken.

Wände, Decke und Fußboden in den ruhigen Farben nasser Friedhofserde. Eine schwachbrüstige Glühbirne oberhalb des Deckels, in einer Vertiefung hinter einem Schutzgitter. Das arme Dinge strengte sich an, gab ihr Bestes, und erhellte mein Daheim doch kaum mehr als es eine Kerze vermochte. Irgendwann erlosch es.

Zwei in der Höhe versetzt angebrachte dunkelbraune Bretter, über Betonstützen fest in der linken Wand verankert, dienten als Stuhl, Hocker... was auch immer, jedenfalls zum hinsetzen und als Tisch.

Unmittelbar neben dem Sitz, in der Ecke links unterhalb des Fensters, ein Kübel. Kübel - das Imagemobiliar harter Jungs. Skeptisch musterte ich meinen ersten Kübel, kniete schließlich vor ihm nieder, klappte die kreisrunde, schwarze Plastiksitzfläche hoch und öffnete den darunter liegenden Deckel. Mausgraue Farbsplitter bröselten vom Metall.

"Scheiße!", brummte ich und warf in einem Schub von Atemnot angewidert den Kopf zurück. Abgestandene Vernehmerzimmerluft schlug mir entgegen, traf mich unvorbereitet und hart wie Dickerchens Bummi. Daher also das atemberaubende Bukett des Zellenhäuschens. Ich erholte mich schnell und wagte einen erneuten Vorstoß. Mein Blick fiel ins Innere. Der Eimereinsatz war leer. An seinen Wänden hafteten fingerdicke schwarzbraune Ablagerungen, die mehr Bakterien beherbergten als ein Kreiskrankenhaus.

"Sollte mich nicht wundern, wenn hier schon während der Kreuzzüge reingeschissen wurde", blabberte ich mit Blick auf die leckere Kruste, welche einem Hornissennest mit gleich vielen gedeckelten und leeren Zellen nicht ganz unähnlich war.

Ja, und dann hätte ich mich um Haaresbreite beinahe doch noch übergeben. Allein der Gedanke, mein jugendlich zartes Engelsgesicht über diesen Pott halten zu müssen, bewahrte mich vor unkontrolliertem Aktionismus und sehr wahrscheinlich auch vor beschleunigter Alterung, Haarausfall, Erblindung, Mundgeruch, Fußpilz und Impotenz.

Was mochten die beiden verstaubten Röhrchen wohl führen, die sich unterm Fenster schüchtern durch mein spartanisches Appartement schlängelten. Ich hatte da so einen heißen Verdacht, berührte sie mit den Fingerspitzen und zuckte sogleich zurück. Dann umschloss ich mit der Hand das obere Röhrchen. Lauwarm. Mein Ofen schlummerte, auch im Winter - und sogar tagsüber.

Ich setzte mich auf den kalten Betonboden, streckte die Beine lang aus, lehnte mich an meinen Ofen und begutachtete das letzte Möbel: Ein flach an der rechten Wand angebrachtes Holzbrett. Holzbrett ist vielleicht ein ganz klein wenig übertrieben für die paar grob zusammengenagelten Latten. Bis auf ein paar Zentimeter auf der Zaunseite und der Fensterwand, füllte es die gesamte Breite der Wand. Ein sehr schlichter, doch um so praktischerer Wandschmuck. Ich stand auf und versuchte das Brett zu befreien. Fehlanzeige. Wie gemein: Es hielt sich an einem Vorhängeschloss fest. Einem sehr billigen. Aber ohne Werkzeug spielte auch das nur eine eher untergeordnete Rolle.

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