Kitabı oku: «Die grünen Kinder»

Yazı tipi:

Olga Tokarczuk

Die grünen Kinder

Bizarre Erzählungen

Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein

Kampa

Der Passagier

Während eines langen Nachtflugs über den Ozean erzählte der Mann neben mir von den Ängsten, die er als Kind gehabt hatte. Stets kehrte derselbe Albtraum wieder, in Panik schrie er auf, rief nach seinen Eltern.

An den langen Abenden war es – die stille, kaum von Lichtern erhellte Zeit, die das Flimmern der Fernsehbildschirme noch nicht kannte (einzig das Murmeln des Radios war ab und an zu hören oder das Rascheln der väterlichen Zeitung), ließ manch wunderlichen Gedanken entstehen. Und der Mann erinnerte sich, dass er immer schon von der Vesper an gespürt hatte, wie die Furcht aufzog, woran die beruhigenden Worte seiner Eltern nichts zu ändern vermochten.

Drei, vielleicht vier Jahre alt war er gewesen; sie wohnten in einem dunklen Haus am Rande einer Kleinstadt. Sein Vater war Schuldirektor, ein Mann mit Prinzipien, ja von geradezu unerbittlichem Charakter. Die Mutter arbeitete in einer Apotheke, ständig umwehte sie eine Wolke von Arzneidunst. Er hatte noch eine ältere Schwester, doch im Gegensatz zu den Eltern unternahm sie keine Versuche, ihm zu helfen. Im Gegenteil – mit einer Freude, die ihm unbegreiflich war, sprach sie schon am Nachmittag davon, dass nun bald-bald die Nacht komme. Und wenn keine Erwachsenen in der Nähe waren, tischte sie ihm Geschichten von Vampiren auf, von Leichen, die aus ihren Grüften krochen, allen möglichen Schreckensgestalten der Finsternis. Doch – seltsam genug – diese Phantasien versetzten ihn nicht in Angst. All die Wesen, die gemeinhin als gruselig galten, schreckten ihn nicht. Als wäre der Platz der Angst in ihm bereits besetzt und damit alle Möglichkeit erschöpft, sie zu empfinden. Er hörte den dramatischen Flüsterton seiner Schwester, wenn sie versuchte, ihm Gänsehaut einzujagen. Und er hörte es ohne Regung, denn er wusste, dass ihre Geschichten belanglos waren angesichts der Gestalt, die er Nacht für Nacht erblickte, wenn er unter der Bettdecke lag. Jahre später durfte er seiner Schwester dankbar sein, sie hatte ihn so weit immun gemacht gegen die herkömmlichen Ängste der Welt, dass er als Erwachsener sozusagen furchtlos war.

Die Ursache seiner Angst in Kindertagen ließ sich nicht benennen, er fand keine Worte dafür. Wenn seine Eltern ins Zimmer stürzten und fragten, was geschehen sei, was ihn im Traum so erschreckt habe, sagte er nur: »er« oder »einer« oder »der«. Der Vater knipste das Licht an, deutete, im Vertrauen auf die Überzeugungskraft des empirischen Beweises, in die Ecke hinter dem Schrank, in den Winkel neben der Tür, und sagte ein ums andere Mal: »Siehst du, da ist nichts. Da ist nichts.« Die Mutter hingegen nahm ihn in die Arme, umfing ihn mit ihrem antiseptischen Apothekenarom und flüsterte: »Ich bin doch bei dir, es kann dir nichts Böses geschehen.«

Er aber war zu jung, im Grunde wusste er noch nichts von Gut und Böse. Und er war zu jung, um Angst zu haben um sein Leben. Zudem gibt es Schlimmeres als den Tod, Schlimmeres als Vampire, die einem das Blut aussaugen, Werwölfe, die einen zerfleischen. Kinder wissen es am besten: Der Tod ist irgendwie auszuhalten. Das Schlimmste ist, was sich wiederholt, mit unveränderlicher Regelmäßigkeit, unausweichlich, vorhersehbar – und nicht das Geringste können wir tun dagegen, wie eine Zange packt es uns und schleift uns mit.

Und er sah in seinem Zimmer, zwischen Schrank und Fenster, die dunkle Gestalt eines Mannes. In dem Fleck, der das Gesicht sein musste, glomm ein kleiner roter Punkt – das glühende Ende einer Zigarette. Glomm er stärker auf, war das Gesicht etwas deutlicher zu sehen. Fahle, müde Augen musterten das Kind. Ein dichter, angegrauter Bartwuchs, ein von Falten zerfurchtes Gesicht, schmale Lippen, wie geschaffen, um an einer Zigarette zu ziehen. So stand er reglos da, während das schreckensbleiche Kind in aller Hast sein Abwehrritual vollzog – es steckte den Kopf unter die Decke, klammerte sich an den Metallrahmen des Bettes und richtete ein tonloses Stoßgebet an den Schutzengel. Seine Großmutter hatte es ihm beigebracht. Doch half es nichts, das Gebet wurde zum Schrei, und die Eltern eilten ins Zimmer.

So ging es eine ganze Weile, lange genug, dass in dem Kind ein tiefes Misstrauen gegenüber der Nacht erwuchs. Doch folgte auf jede Nacht ein Tag, der über alle Geschöpfe der Dunkelheit triumphierte. So wuchs das Kind heran und begann zu vergessen. Immer mächtiger wurde der Bann des Tages, immer mehr an Neuem, Überraschendem brachte er mit sich, die Eltern atmeten erleichtert auf, und bald hatten auch sie die Ängste ihres Sohnes vergessen. Sie wurden in Frieden alt, und jedes Frühjahr lüfteten sie sämtliche Zimmer. Der Junge wuchs indes zu einem Mann heran, der allmählich zu der Überzeugung gelangte, dass alles Kindliche weiterer Beachtung nicht wert sei. Zumal die Morgen- und Mittagsstunden alle Dämmerungen und Nächte aus seinem Gedächtnis getilgt hatten.

Kürzlich erst – so erzählte er mir –, als er so sanft, dass er es selbst kaum bemerkte, die sechzig überschritten hatte und eines Abends müde nach Hause kam, entdeckte er die ganze Wahrheit. Vor dem Schlafengehen wollte er noch eine Zigarette rauchen, er stellte sich ans Fenster, das vor der Dunkelheit draußen zu einem kurzsichtigen Spiegel wurde. Das aufgleißende Streichholz brannte für einen Moment ein Loch in die Nacht, dann erhellte die Glut der Zigarette ein Gesicht. Und aus der Finsternis trat wieder dieselbe Gestalt hervor – die bleiche, hohe Stirn, die dunklen Flecken der Augen, der Strich des Mundes, der angegraute Bart. Er erkannte ihn sofort wieder, nicht im Mindesten hatte die Gestalt sich verändert. Und die Gewohnheit – schon wollte er Luft holen, um zu schreien, doch war da niemand, den er hätte rufen können. Seine Eltern waren lange tot, er war allein, die Rituale aus Kindertagen hatten ihre Wirkung verloren, auch an einen Schutzengel glaubte er längst nicht mehr. Und als er in ebendiesem Augenblick verstand, vor wem er sich damals so gefürchtet hatte, empfand er Erleichterung. Die Eltern hatten also recht gehabt – die Welt war nicht gefährlich.

»Der Mensch, den du siehst, existiert nicht, weil du ihn siehst, sondern weil er es ist, der dich anschaut«, sagte der Mann am Ende seiner Geschichte. Und dann sanken wir in Schlaf, gewiegt von den Bassklängen der Triebwerke.

Die grünen Kinder

oder

Eine Beschreibung seltsamer Begebenheiten in Wolhynien,

verfertigt von William Davisson, dem Medicus Seiner Königlichen Majestät

Johann Kasimir

Diese Ereignisse trugen sich im Frühjahr und im Sommer 1656 zu, als ich ein weiteres Jahr in Polen weilte. Einige Lenze zuvor war ich ins Land gekommen, eingeladen von Maria Luisa Gonzaga, der Gemahlin des polnischen Königs Johann Kasimir. Als königlicher Medicus und als Verwalter der königlichen Gärten sollte ich tätig werden. Die Einladung einer solch ehrwürdigen Persönlichkeit konnte ich nicht ablehnen, auch gaben gewisse private Umstände ihr Teil dazu, von welchen zu sprechen an dieser Stelle jedoch nicht nötig ist.

Auf meiner Reise nach Polen empfand ich durchaus ein Unbehagen. Ich kannte dieses Land nicht, das so weit entfernt lag von der mir bekannten Welt. Ich sah mich als einen Ex-Zentriker an, einen Menschen, der sein Zentrum verlässt, in dessen Bannkreis er weiß, was er zu gewärtigen hat. Es war mir bange vor den fremden Sitten, dem hochwilden Temperament der Völker des Ostens und des Nordens, vor allem aber machte ich mir Sorgen ob der unvorhersehbaren Witterung, der Kälte, der Feuchtigkeit. Nur zu gut war mir das Schicksal meines Freundes René Descartes im Gedächtnis, der einige Jahre zuvor auf Einladung der Königin von Schweden zu deren kalten Palästen im fernen Stockholm aufgebrochen war, wo er sich eine Erkältung zuzog und in der Blüte seiner Jahre und seiner Geisteskräfte verstarb. Welch ein Verlust für die gesamte Gelehrtheit! In der Befürchtung, ein ähnliches Los zu erleiden, brachte ich aus Frankreich einige der besten Pelze mit, doch im ersten Winter schon sollte sich zeigen, dass sie zu dünn und zu fein waren für das Wetter. Der König, mit dem mich rasch eine aufrichtige Freundschaft verband, schenkte mir einen Wolfspelz, der bis zu den Fußknöcheln reichte. In diesen Pelz hüllte ich mich von Oktober bis April. Auch während der Reiseunternehmung, die ich hier beschreiben möchte – im März fand sie statt –, habe ich ihn getragen. Denn wisse, werter Leser, dass die Winter in Polen, wie überall im Norden, sehr streng sein können – imaginiere Dir, dass dann der Weg nach Schweden über das wie Stein gefrorene Mare Balticum führt, und auf vielen vereisten Teichen und Flüsschen hält man zum Karneval Jahrmärkte ab. Da die Winterzeit, in der die Pflanzen unter einer Schneedecke verborgen liegen, lange währt in diesen Breiten, bleiben dem Botaniker nur wenige Monate für seine Forschungen. So widmete ich mich, nolens volens, den Menschen.

Ich heiße William Davisson, Schotte bin ich, zu Aberdeen geboren, doch viele Jahre brachte ich in Frankreich zu, wo die Stellung des königlichen Botanikers meinen Werdegang krönte und wo ich meine Schriften publizierte. Auch wenn in Polen kaum jemand diese Studien kannte, begegnete man mir mit Achtung, herrscht in Polen doch die Stille, blindlings jeden zu achten, der aus Frankreich kommt.

Was hatte mich bewogen, in den Fußstapfen von Descartes an die Ränder Europas mich zu begeben? Schwerlich wäre diese Frage kurz und in der Sache treffend zu beantworten, doch da die Geschichte nicht von mir handelt, der ich darin nur Zeuge bin, lasse ich sie unbeantwortet, in der Hoffnung, der Leser möge sich mehr von der Geschichte selbst fesseln lassen als von der belanglosen Person dessen, der sie erzählt.

Mein Dienst für den polnischen König fiel in eine Zeit der schlimmsten Wirren. Alle bösen Mächte schienen sich gegen das Königreich verschworen zu haben. Das Land wurde vom Krieg erschüttert, von schwedischen Truppen verwüstet, im Osten wiederum griffen die Heere Moskaus an. In der Rus hatten sich zuvor schon die unzufriedenen Bauern erhoben. Und als wären verborgene Entsprechungen am Werk, wurde der König dieses unglücklichen Landes ebenso von zahlreichen Krankheiten geplagt, wie die unablässigen Attacken sein Königreich quälten. Die Anfälle von Schwermut kurierte er häufig mit Wein und dem schönen Geschlecht. Seine in sich zerrissene Natur trieb ihn immerfort auf neue Reisen, obwohl er ständig wiederholte, dass er keine Ortswechsel leide und sich nach Warschau sehne, wo seine geliebte Gemahlin, Maria Luisa, ihn erwarte.

Unser Tross zog von Norden her, wo Seine Königliche Hoheit den Zustand des Landes in Augenschein genommen und sich bemüht hatte, Allianzen zu knüpfen mit den Magnaten. Böse Kräfte waren dort bereits am Werk, die Moskowiter schickten sich an, ihre Gelüste an der Rzeczpospolita zu stillen, und da im Westen zugleich die Schweden ihr Unwesen trieben, wollte es scheinen, als hätten alle finsteren Mächte sich verschworen, die polnischen Gefilde in ein grausiges theatrum belli zu verwandeln. Es war meine erste Erkundung in diesem fernen Land, und ich wollte das Unterfangen schon bereuen, kaum dass wir die Warschauer Vororte verlassen hatten. Doch trieb mich zuletzt die Neugier des Philosophen und Botanikers (nicht zu vergessen – ich gebe es zu – die stattliche Apanage), sonst hätte ich es vorgezogen, mich meinen Forschungen in häuslicher Ruhe zu widmen.

Auch unter den widrigen Umständen wandte ich mich meinen Studien zu. Ein Phänomenon vor allem interessierte mich seit meiner Ankunft in Polen. Auf der ganzen Welt ist es bekannt, hierzulande aber besonders verbreitet. Man muss nur durch die ärmeren Straßen Warschaus gehen, um es an den Köpfen des einfachen Volkes zu entdecken – die plica polonica, auch Weichselzopf genannt. Ein seltsames Gebilde aus gekräuselten, verfilzten Haaren in mancherlei Form, hier in dicken Zotteln, dort in einem Knäuel, hier als Zopf, der einem Biberschwanz gleicht. Die Leute glauben, dass der Weichselzopf der Sitz guter und böser Mächte sei, und wer ihn trägt, wollte wohl lieber sterben als sich der filzigen Pracht entledigen. Da ich es gewohnt war, Skizzen anzufertigen, besaß ich auch von dieser Erscheinung bereits eine Fülle an Zeichnungen, nach meiner Rückkehr nach Frankreich wollte ich ein kleines Werk dazu publizieren. Unter verschiedenen Bezeichnungen ist der Weichselzopf in ganz Europa bekannt. Am seltensten begegnet man ihm wohl in Frankreich. Dort legen die Menschen großen Wert auf ihr Äußeres, frisieren sorgsam ihr Haar. In Deutschland heißt der Weichselzopf auch Mahrenlocke, Alpzopf oder Drutenzopf. In Dänemark, so weiß ich, heißt er marenlok, in Wales und England elvish knot. Als ich einmal durch Niedersachsen reiste, hörte ich, dass man ihn dort selkensteert nenne. In Schottland glaubt man, dass es eine Sitte aus vordenklichen Zeiten sei, verbreitet bei den damals in Europa lebenden Heiden, zumal bei Druidenstämmen. Auch las ich, die plica polonica habe ihren Anfang mit den Einfällen der Tataren in Polen genommen, zu Zeiten Leszeks des Schwarzen. Eine andere Vermutung besagte, diese Haartracht sei aus Indien zu uns gekommen. Ja, ich fand auch die Behauptung, die Hebräer hätten als Erste die Haare zu filzigen Strähnen gedreht. Nasiräer – so hießen bei ihnen die heiligen Männer, die gelobt hatten, sich ihr Haar zu Ehren Gottes niemals schneiden zu lassen.

Die Fülle an widersprüchlichen Theorien und das endlose Weiß der schneebedeckten Landschaft versetzten mich anfangs in einen Zustand geistiger Abstumpfung, dem endlich eine schöpferische Erregung folgte, und schließlich untersuchte ich die plica polonica in jedem Dorf, durch das wir kamen.

Bei meiner Arbeit ging mir der junge Ryczywolski zur Hand, ein Bursche mit großen Talenten, der sich nicht nur als Butler und Dolmetsch bewährte, sondern mir auch bei meinen Studien hilfreiche Dienste leistete, wie er mir zudem – das möchte ich nicht verschweigen – seelischen Beistand bot in dieser fremden Welt.

Wir reisten zu Pferde. Das Märzwetter gab sich einmal winterlich, dann wieder vorfrühlingshaft, der Schlamm auf den Wegen gefror und taute auf, was einen kotigen Morast entstehen ließ, in dem unsere Gepäckwagen bis über die Achsen versanken. Und die beißende Kälte verwandelte uns in Wesen, die an geschnürte Pelzballen denken ließen.

In diesem wilden Land der Sümpfe und Wälder liegen die menschlichen Siedlungen spärlich verstreut und so weit voneinander entfernt, dass wir oft genug gezwungen waren, auf ärmlichen Landgütern zu nächtigen, einmal mussten wir gar mit einer Schenke vorliebnehmen, da es zu schneien begann und an ein zügiges Fortkommen nicht mehr zu denken war. Seine Königliche Hoheit trat incognito auf, für einen gewöhnlichen Schlachtschitzen gab er sich aus. Wo wir Rast hielten, applizierte ich Seiner Majestät Arzneien, von denen ich einen ganzen Apothekenkasten mitführte. Zuweilen ließ ich Seine Majestät auf einer notdürftig hergerichteten Liegestatt zur Ader, und wo sich die Gelegenheit bot, verschaffte ich dem königlichen Leib ein gutes Salzbad.

Von allen Krankheiten, die Seine Königliche Hoheit plagten, schien mir die höfische die ärgste zu sein; er hatte sie wohl aus Italien oder Frankreich mitgebracht. Auch wenn sie bislang nicht äußerlich zutage trat und somit leicht zu verbergen war, musste ihr weiterer Verlauf als ebenso tückisch wie gefährlich gelten, wusste man doch, dass sie den Kopf affizieren und den Verstand verwirren konnte. So hatte ich denn auch, kaum dass ich meine Stellung bei Hofe angetreten hatte, darauf bestanden, dass eine Mercurius-Kur vorgenommen werde, auf drei Wochen angesetzt, doch konnte Seine Majestät nie die Zeit finden, das Quecksilber in der nötigen Ruhe und Regelmäßigkeit wirken zu lassen, auf Reisen wiederum war eine solche Behandlung wenig ergiebig. Von den anderen königlichen Beschwerden bereitete mir das Podagra Kummer. Diesem Leiden hätte man freilich leicht vorbeugen können, seine Ursachen liegen bekanntlich im Übermaß des Essens und Trinkens. Das Podagra hält man mit Fasten im Zaum – wie aber auf Reisen fasten? So konnte ich am Ende nur wenig für Seine Königliche Hoheit tun.

Auf Lemberg ging es zu, und Seine Majestät traf sich des Wegs mit manchen Magnaten. Er hielt sie um Unterstützung an, rief ihnen in Erinnerung, dass sie seine Untertanen seien, denn die Treue der Schlachta in diesen Gegenden war zweifelhaft, auf ihren eigenen Vorteil sahen sie, nicht auf das Wohl der Rzeczpospolita. Würdig wurden wir empfangen, ohne Frage, prächtig und mit allem Prunk bewirtet, doch spürte man immer wieder, dass einige dieser Schlachtschitzen den König als Bittsteller sahen. Was für ein Königreich, in dem über die Besetzung des Thrones abgestimmt wird! Wo hat man je so etwas gesehen?

Eine grässliche Erscheinung ist der Krieg, von höllischer Art. Auch wo er die menschlichen Siedlungen nicht unmittelbar verheert, kriecht er doch in jeden Winkel, sucht noch die letzte Kate heim, mit Hunger und Krankheit und Angst. Die Herzen verhärten sich, werden empfindungslos. Alles menschliche Denken verändert sich, jeder achtet nur noch auf sich selbst, schaut zu, wie er überleben kann. Nicht wenige werden darüber grausam, gleichgültig gegen fremdes Leid. Wie viel an Bösem, von Menschen angerichtet, sah ich auf diesem Weg, da wir von Norden her gen Lemberg zogen. Wie viel an Schändung und Mordbrennerei, unfassliche Gräuel. Ganze Dörfer in Schutt und Asche, die Felder verwüstet, nichts als Brachen, wo zuvor die Ernte gedieh. Galgen allenthalben – als diente die Zimmermannskunst allein der Mordbegier. Unbestattete Leichen, von Wölfen und Füchsen zerfleischt. Nur Feuer und Schwert hatten hier ihr Geschäft. Am liebsten wollte ich all das vergessen – doch auch jetzt, da ich bereits zurückgekehrt bin in mein Land und diese Zeilen schreibe, stehen mir erneut die Bilder vor Augen, und ich kann sie nicht vertreiben.

Immer wüstere Kunde erreichte uns, und die Februarniederlage des Feldhetmans Czarniecki gegen die Schweden, bei dem Dorfe Gołąb, hatte solch arge Wirkung auf die Gesundheit des Königs, dass wir zwei Tage rasten mussten, damit Seine Majestät in Ruhe Egersches Heilwasser trinken und ein Dekokt zu sich nehmen konnte, auf dass es seine Nerven besänftige und er wieder zu Kräften komme. Und als wirkte eine verborgene Beziehung, bildete sich am königlichen Leibe das ganze Leiden der Rzeczpospolita ab. Denn noch ehe die Briefe mit der Nachricht von jener Niederlage eintrafen, packte den König ein derartiger Anfall von Podagra, mit fiebrigen Schüben und rasenden Schmerzen, dass wir ihrer kaum Herr zu werden vermochten.

Zwei Tagesreisen vor Łuck waren wir an Lubieszów vorübergekommen, das die Tataren vor etlichen Jahren schon gebrandschatzt hatten. Als wir durch die dunstigen, schier undurchdringlichen Wälder weiterzogen, dachte ich bei mir, dass es auf dieser Erde keinen schlimmeren Landstrich gebe, und ein bitteres Bedauern ergriff mich, dass ich mich auf die Unternehmung eingelassen hatte. In aller Deutlichkeit stand mir vor Augen, dass ich nicht nach Hause zurückkehren würde und dass wir alle vor diesen endlosen Sümpfen, diesen in Nebelschwaden schwimmenden Wäldern, vor diesen Lachen auf den Wegen, die mit ihren dünnen Eiskrusten an verschorfende Wunden eines auf der Erde liegenden Riesen denken ließen – dass wir angesichts all dessen, seien wir nun elend oder nobel gekleidet, seien wir Könige, Adlige, Soldaten oder Bauern – völlig nichtig waren. Wir sahen die vom Brand geschwärzten Trümmermauern einer Kirche. Hier hatten die tatarischen Horden die Bewohner eines Dorfes eingesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Wir sahen einen Wald von Galgen, sahen den Brandschutt der Häuser, der die verkohlten Leiber von Mensch und Tier bergen mochte. Da erst verstand ich das Vorhaben des Königs, nach Lemberg sich zu begeben in dieser grässlichen Zeit, da äußere Mächte sich anschickten, die Rzeczpospolita zu zerreißen, und dort um Beistand zu flehen bei der in Polen so innig verehrten Maria, der Christusmutter, auf dass sie das Land in ihre Obhut nehme und Fürbitten einlege bei Gott dem Allmächtigen. Anfangs hatte sie mir noch wunderlich erscheinen wollen, diese Verehrung der Gottesmutter. Ja, oft war mir gar gewesen, als gälte dieser Kult einer heidnischen Göttin und als trügen – möge es mir nicht als Ketzerei ausgelegt werden! – Gott selbst und Sein Sohn im feierlichen Gefolge ihre Schleppe. Jedes Marterl hier ist der heiligen Maria geweiht, und so vertraut war mir ihr Anblick geworden, dass ich selbst begann, allabendlich Gebete an sie zu richten, wenn wir uns hungrig und mit frierenden Gliedern zur Ruhe begaben, im Herzen den heimlichen Gedanken hegend, sie sei die Gebieterin dieses Landes, während bei uns zu Hause Jesus Christus auf dem Throne saß. Nichts anderes blieb mehr übrig, als sich den höheren Mächten zu überlassen.

An jenem Tag, da der König den garstigen Anfall von Podagra erlitt, hatten wir auf dem Gut des Pan Hajdamowicz Rast gemacht, des Kämmerers von Łuck. Das Gutshaus, aus Holz errichtet, stand auf einer Landzunge inmitten der Sümpfe. Ringsum duckten sich Chaluppen, in denen Holzknechte hausten, einige Bauern und die Bediensteten. Der König verzichtete auf das Nachtmahl, begab sich sogleich zur Ruhe, doch konnte er nicht schlafen, so musste ich Morpheus mit meinen Mixturen locken.

Der Morgen war leidlich heiter, und einige Gardisten schlugen sich ins Dickicht, die Zeit bis zum Aufbruch mit einem Jagdvergnügen sich zu vertreiben. Wir dachten, sie kämen vielleicht mit einem zarten Rehbraten zurück oder einigen Fasanen – doch welch wunderliche Beute brachten sie aus dem Wald! Sprachlos standen wir da, und der verschlafen blinzelnde König war mit einem Schlage hellwach.

Zwei Kinder, schmächtig und mager, kaum war als Lumpen zu bezeichnen, was sie am Leibe trugen, jämmerliche Fetzen eines grob gewirkten Stoffes, zerschlissen und von Schlamm besudelt. Ihre Haare ließen mich sogleich aufmerken – zu dicken Strähnen hatten sie sich verfilzt. Prachtexemplare einer plica polonica! Wie erlegte Rehe waren die beiden gebunden und an die Sättel geschnürt. Ich fürchtete, es könnte ihnen ein Leid geschehen, die feinen Knöchelchen wollten womöglich brechen. Sie hätten die Kinder binden müssen, erklärten die Gardisten, wie Wilde hätten die Kleinen gebissen und getreten.

Als Seine Königliche Hoheit sein Morgenbrot beendet hatte und einen Kräuteraufguss zu sich nehmen sollte, von dem ich eine Besserung seiner Stimmung erhoffte, begab ich mich zu den Kindern, und während ich verfügte, dass ihnen als Erstes die Gesichter gewaschen würden, betrachtete ich sie aus der Nähe, wobei ich freilich darauf bedacht war, dass sie mich nicht bissen. Ihrem Wuchs nach zu urteilen, hätte man annehmen wollen, dass sie vier oder sechs Jahre alt wären, an ihren Zähnen aber ließ sich erkennen, dass sie älter sein mussten. Das Mädchen war größer und kräftiger, der Junge wirkte elend und ausgemergelt, wenngleich lebhaft und munter.

Meine größte Aufmerksamkeit erregte ihre Haut. Sie hatte eine wunderliche Färbung, der ich nie zuvor begegnet war – man mochte an junge Zuckererbsen denken oder an italienische Oliven. Die Haare, die ihnen weichselzopfig verfilzt ins Gesicht hingen, waren flachshell, doch überzog sie ein grüner Belag, wie Moos einen Stein überzieht. Der junge Ryczywolski sagte, diese grünen Kinder – wie wir sie alsogleich nannten – seien sicher Waisen des Krieges, und die Natur habe sie im Wald genährt, derlei Geschichten seien ja bekannt, dächten wir nur an Romulus und Remus. Unermesslich ist das Feld, auf dem die Natur ihre Kräfte wirken lässt, wie winzig dagegen das Gärtchen, in dem die Menschen tätig sind!

Als wir durch die weite Ebene von Mohilew her geritten waren, wo am Horizont noch in Brand gesetzte Dörfer rauchten, deren Überreste bald vom Wald verschlungen sein würden, hatte mich der König gefragt, was dies nun eigentlich sei: Natur. Meiner Überzeugung gemäß erwiderte ich, die Natur sei alles, was uns umgebe, ausgenommen wir selbst und die vom Menschen gefertigten Dinge. Da blinzelte der König, als müsste er meine Worte einer Prüfung des eigenen Augenscheins unterziehen. Was er dort sah – ich weiß es nicht, jedenfalls entgegnete er:

»Das ist ein großes Nichts.«

So stellt sich wohl die Welt dem Blick der Menschen dar, die an Höfen aufgewachsen sind. Einem Blick, der gewöhnt ist an die Schnörkel venezianischer Webarbeiten, das gewundene Geflecht türkischer Kelims, gewöhnt an Bilder, die sich aus Wandfliesen fügen, an raffinierte Mosaiken. Fällt dieser Blick in die Verschlingungen der Natur, vermag er dort nur ein Chaos zu sehen, jenes große Nichts.

Nach jeder Brandverheerung nimmt sich die Natur zurück, was der Mensch von ihr genommen hat, und sie berührt auch die Menschen selbst, versucht, sie in einen natürlichen Zustand zurückzuversetzen. Schaute man indes auf diese Kinder, mochte man zweifeln, ob noch ein Paradies in der Natur bestehe oder ob in ihr nicht eher die Hölle sei, derart elendig waren sie und herabgekommen. Seine Hoheit interessierte sich lebhaft für die beiden – auf einem Gepäckwagen sollten sie mit uns nach Lemberg fahren, wo der König sie eingehend untersuchen lassen wollte, doch kam dann alles gänzlich anders. Die peinvolle Zehe des Königs schwoll derart an, dass auf diesen Fuß kein Stiefel mehr zu ziehen war. Die Schmerzen, die ihn plagten, waren fürchterlich – ich sah, wie ihm der Schweiß aus allen Poren trat. Und kalte Schauer überliefen mich, als ich hörte, wie der Herrscher dieses mächtigen Reiches zu wimmern und zu heulen begann. An einen Aufbruch war nicht zu denken. Ich bereitete ein Lager am Kachelofen, brachte Wickel, hieß alle die Stube verlassen, die nicht Zeugen werden mussten dieses Leidens Seiner Majestät. Als die armen Waldkinder hinausgebracht werden sollten, gebunden wie Lämmer, riss sich das Mädchen, mit welch wunderlicher Fertigkeit auch immer, aus den Fesseln los, warf sich dem König vor die gepeinigten Füße und begann, die gequälte Zehe mit seinem filzigen Haar zu streicheln. Mit einer Handbewegung gab der Herrscher zu verstehen, man möge sie gewähren lassen. Nach einer Weile sagte er bass erstaunt, die Schmerzen seien gelindert. Und er ordnete an, den Kindern tüchtig zu essen zu geben und sie endlich zu kleiden wie Menschen, was denn auch geschah.

Als wir unser Gepäck verstauten und ich in unschuldiger Absicht die Hand nach dem Jungen ausstreckte, um ihm über den Kopf zu streichen, wie man es bei Kindern in jedem Lande tut, biss er mich so heftig ins Handgelenk, dass das Blut aus den Spuren der Zähne trat. Da ich fürchtete, der Junge könnte aus dem Wald die Wolfswut mitgebracht haben, ging ich zu einem nahen Bach, um die Bisswunde zu waschen. Auf dem tückisch sumpfigen Untergrund des Ufers glitt ich aus und stürzte mit solcher Wucht gegen einen gezimmerten Steg, dass ein Stapel zersägter Stämme, die dort geschichtet lagen, in einem herniederbrach. Ein grausamer Schmerz in meinem Bein ließ mich aufheulen wie ein Tier. Eben noch begriff ich, dass es schlecht um mich stand. Dann verlor ich die Besinnung.

Als ich zu mir kam – der junge Ryczywolski klopfte mir auf die Wangen –, sah ich über mir die Decke der Stube im Gutshaus, im Halbkreis besorgte Gesichter, darunter das königliche Antlitz, und alle wirkten sie seltsam länglich und zitterten verschwommen. Kein Zweifel, ich fieberte. Wohl eine ganze Weile hatte ich so gelegen.

»Um Gottes willen, Davisson, was habt Ihr Euch angetan?«, sagte Seine Majestät und beugte sich über mich. Die sorgsam frisierten Locken seiner Reiseperücke streiften meine Brust, und mir war, als bereitete noch diese kaum merkliche Berührung meinem Körper Pein. Doch entging mir selbst in diesem Zustand nicht, dass sein Gesicht sich aufgeheitert hatte, es war nicht mehr schweißnass, und Seine Majestät stand in Stiefeln da.

»Wir müssen aufbrechen, Davisson«, sagte er bekümmert.

»Ohne mich?«, stöhnte ich entsetzt, und es schüttelte mich vor Schmerz und Angst. Sie wollten mich zurücklassen!

»Bald wird der beste Lemberger Medicus eintreffen …«

Ich schluchzte auf, mehr aus Verzweiflung denn des körperlichen Leidens wegen.

Mit Tränen in den Augen nahm ich Abschied von Seiner Majestät, und der Tross machte sich auf den Weg. Ohne mich! Der junge Ryczywolski blieb mir zur Gesellschaft, was mein Elend ein wenig linderte. So wurden wir der Obhut des Kämmerers Hajdamowicz überlassen, und wohl gleichfalls uns zum Troste ließen sie auch die grünen Kinder im Gutshaus zurück – vielleicht mit dem Gedanken, dass ich ein wenig Ablenkung hätte, bis Hilfe käme.

Nicht genug, dass mein Bein, wie nun zu sehen, zweifach gebrochen war, auch hatte der zerschlagene Knochen an einer Stelle die Haut durchbohrt, und es bedurfte der größten Fertigkeit, ihn zu richten. Selbst konnte ich nichts bewirken, beim geringsten Versuch schon verlor ich erneut die Besinnung. Da half es auch nichts, dass mir Geschichten in den Sinn kamen von Menschen, die an sich selbst eine Amputation vorgenommen hatten.

Vor dem Aufbruch noch hatte der König einen Mann vorausgeschickt mit der Ordre, den besten Medicus von Lemberg auf den Weg zu bringen, doch wollte ich ihn kaum eher als in zwei Wochen erhoffen. Mein Bein aber musste so rasch als möglich gerichtet werden. Wenn bei diesem feuchten Klima die Wunde brandig würde, sähe ich den französischen Königshof nie mehr wieder. Wie oft hatte ich nicht geklagt über das Leben dort, nun schien er mir die wahre Mitte der Welt zu sein, ein verlorenes Paradies, das herrlichste Gefilde meiner Träume. Auch die Hügel Schottlands sähe ich wohl nie mehr wieder …

Einige Tage behalf ich mir mit den Schmerzensmitteln, die ich dem König gegen das Podagra verabreicht hatte. Dann endlich kam aus Lemberg ein Bote – allein. Eine Schar Tataren, die zahlreich ihr Unwesen trieben in dieser Gegend, hatte den Medicus erschlagen. Ein weiterer, so versicherte uns der Bote, habe sich schon auf den Weg gemacht. Außerdem brachte er uns Kunde vom Gelübde, das der König, glücklich in Lemberg angelangt, in der dortigen Kathedrale abgelegt habe, um die Rzeczpospolita der Obhut der Gottesmutter anzuempfehlen, auf dass sie das Land vor den Schweden und Moskowitern, vor Chmielnicki und allen anderen bösen Mächten bewahre, die sich darauf stürzen wollten wie Wölfe auf ein lahmes Reh. Da ich wohl sah, dass der König der Kümmernisse übergenug hatte, freute es mich umso mehr, dass er dem Boten einen trefflichen Okowita mitgegeben hatte, einige Flaschen Rheinwein, Pelze und französische Seife – Letztere vor allem empfing ich mit größter Freude.

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