Kitabı oku: «Die grünen Kinder», sayfa 3
Wie eine Mauer stand der Wald. Als wäre er das Heer des mächtigsten Königreichs auf Erden, dessen Herolde eben zum Abzug bliesen. Wohin? In den äußersten Weltenkreis inmitten der Grenzenlosigkeit, jenseits des flimmernden Laubs, jenseits der leuchtenden Tupfen, in die Gefilde der ewigen Schatten.
Drei Tage wollte ich noch warten. Dann schrieb ich eine Botschaft für Ryczywolski: »Solltest Du zurückkehren – wo immer ich dann weilen werde, komm!«
Am vierten Tag begriffen wir alle, dass wir die jungen Menschen nicht mehr sehen würden, in die Mondwelt waren sie entschwunden.
Als die königliche Kutsche sich auf den Weg machte, brach ich in Tränen aus, doch nicht meines Beines wegen, das mich noch immer plagte; was mich erschütterte, reichte tiefer. Und ich verließ den letzten Kreis der Welt, seine von Feuchtigkeit gedunsenen Randbezirke, seinen nirgends verzeichneten Schmerz, seine im Unsteten schwimmenden Horizonte, hinter denen sich das Große Nichts erstreckt. Und ich bewegte mich wieder auf das Zentrum zu, jene Sphäre, in der alles auf Zuruf seinen Sinn erhält, zu einem schlüssigen Ganzen sich fügt.
Hiermit halte ich also fest, was ich gesehen habe in jenem Grenzland der Ferne, notiere meine Erlebnisse, im lauteren Bestreben, nichts auszulassen, nichts hinzuzudichten, in der Hoffnung, dass der Leser mir zu begreifen helfe, was sich dort zugetragen hat und was ich selbst mit Mühe nur erfassen kann, prägen uns doch die Ränder der Welt für immer eine rätselhafte Ohnmacht auf.
Eingemachtes
Er richtete ihr ein würdiges Begräbnis aus. All ihre Freundinnen kamen, plumpe ältere Damen in Wollbaskenmützen und Wintermänteln, die den Geruch von Naphthalin verströmten, und aus den Nutria-Kragen ragten ihre Köpfe wie große, bleiche Geschwulste.
Taktvoll begannen sie zu schluchzen, als der Sarg an den regennassen Seilen in die Tiefe glitt, und dann bewegten sie sich, in eng gedrängten Grüppchen, unter den Kuppeln aufgespannter Knirpse mit kuriosen Mustern, auf verschiedene Bushaltestellen zu.
Am selben Abend noch öffnete er das Klappfach in der Schrankwand, in dem ihre Papiere lagen, und suchte … ja, er wusste selbst nicht was. Geld, Aktien, Obligationen – eine dieser Policen für den ruhigen Lebensabend, die im Fernsehen immer mit herbstlichen Szenen beworben wurden, in denen bunte Blätter rieselten.
Sparbücher aus den sechziger- und siebziger Jahren fand er, das Parteibuch seines Vaters, der 1981 glücklich verstorben war, in der festen Überzeug, der Kommunismus sei eine metaphysische Ordnung, die ewig Bestand haben werde.
Seine Zeichnungen aus dem Kindergarten, säuberlich zusammengelegt in einer Pappklappmappe mit Gummizug. Diese Mappe rührte ihn. Dass sie seine Kinderzeichnungen aufheben würde, hätte er nie gedacht. Und schließlich ihre Hefte mit den Rezepten für sauer Eingemachtes, Mariniertes und Konfitüren. Jedes Rezept begann auf einer eigenen Seite, die Überschriften waren mit dezenten Schnörkeln versehen – Ausdruck eines Bedürfnisses nach Küchenästhetik. »Pickles mit Senfkörnern«, »Marinierter Kürbis à la Kordelia«, »Avignon-Salat«, »Steinpilze kreolische Art«. Auch kleine Extravaganzen waren dabei: »Gelee aus Apfelschalen«, »Kalmus in Zucker«.
Die Hefte brachten ihn auf den Gedanken, in den Keller zu gehen. Seit Jahren war er nicht mehr dort unten gewesen. Seine Mutter hingegen hatte sich gerne im Keller aufgehalten, was ihn auch nie weiter verwundert hatte. Wenn sie sich wieder einmal beschwerte, dass er sich ein Fußballspiel in dröhnender Lautstärke ansah, und ihr immer kläglicheres Klagen keine Wirkung zeigte, hörte er den Schlüsselbund klirren, die Wohnungstür schlug zu, und seine Mutter blieb verschwunden für eine selig lange Zeit. Dann konnte er sich ungestört seiner Lieblingsbeschäftigung hingeben – eine Bierdose nach der anderen leeren und den zwei Gruppen von Männern zusehen, die in ihren bunten Trikots von einer Spielfeldhälfte in die andere einem Ball hinterherrannten.
Der Keller war säuberlich aufgeräumt. Ein kleiner, abgewetzter Läufer – ach je, Erinnerung aus Kindertagen –, ein Sessel, mit Plüschstoff bezogen, eine akkurat gefaltete Häkeldecke lag darauf. Eine Stehlampe mit Tischchen, ein paar restlos zerlesene Bücher. Einen geradezu verlockenden Eindruck aber machten die Regale: Dicht an dicht standen die schimmernden Gläser mit dem Eingemachten. Alle waren mit selbstklebenden Etiketten versehen, hier wiederholten sich, wie er erkannte, die Überschriften aus den Rezeptheften: »Cornichons in Pani Stasias Marinade, 1999«, »Paprikahäppchen, 2003«, »Pani Zosias Schmalz«. Einige der Bezeichnungen klangen geheimnisvoll: »Appertisierte Spargelbohnen« – er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was »appertisiert« bedeutete. Der Anblick der klein geschnittenen, blässlichen Pilze, der vielfarbigen Gemüsemischungen, der blutroten Minipaprikaschoten weckte seine Lebensgeister. Flüchtig tastete er die Reihen der Gläser ab – keine Wertpapiere, kein Geld. Es sah wahrhaftig so aus, als hätte sie ihm rein gar nichts hinterlassen.
Er nahm ihr Zimmer in Beschlag, verstreute dort seine getragenen Klamotten, stapelte die Papppaletten mit dem Dosenbier. Von Zeit zu Zeit holte er sich aus dem Keller einen Karton mit Eingemachtem, öffnete der Reihe nach die Deckel, fischte mit einer Gabel den Inhalt heraus. Sein Bier mit Erdnüssen oder Salzstangen schmeckte köstlich in Verbindung mit marinierter Paprika oder zarten Babygürkchen. Er saß vor dem Fernseher, gab sich der Betrachtung seiner neuen Lebenslage hin – der just erlangten Freiheit. Ihm war, als hätte er eben das Abitur bestanden und alle Möglichkeiten lägen offen. Als sollte nun ein neues, ein besseres Leben beginnen. Er war nicht mehr der Jüngste, letztes Jahr hatte er die fünfzig überschritten, jetzt aber fühlte er sich jung, ja – er fühlte sich wie ein Abiturient.
Auch wenn die letzte Rente seiner Mutter zur Neige ging, befand er, dass noch genügend Zeit war, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Zuerst würde er in aller Ruhe verzehren, was sie ihm vermacht hatte. Kaufen musste er höchstens Brot und Butter. Und natürlich Bier. Später könnte er sich vielleicht tatsächlich nach einer Arbeit umsehen. Damit hatte sie ihm ja den letzten Nerv geraubt, mehr als zwanzig Jahre lang. Er könnte zur Arbeitsvermittlung gehen – da würde sich schon etwas finden für einen fünfzigjährigen Abiturienten. Vielleicht zöge er sogar den hellen Anzug an, den sie so sorgfältig gebügelt in den Schrank gehängt hatte, dazu das hellblaue Hemd – und dann würde er sich aufmachen in die Stadt. Wenn nicht gerade ein Fußballspiel liefe.
Nun war er also frei. Doch fehlte ihm auch ein wenig das Schlurfen der mütterlichen Pantoffeln, das monotone Geräusch, an das er sich so gewöhnt hatte, und das zumeist begleitet worden war von ihrer halblauten Stimme: »Jetzt wär’s aber wirklich Zeit, dass du endlich mal wegkommst von deinem Fernseher, dass du unter die Leute gehst und ein Mädchen kennenlernst. Willst du dein ganzes Leben so zubringen? Such dir endlich eine eigene Wohnung, hier ist es zu eng für zwei. Andere Leute heiraten, haben Kinder, fahren mit dem Zelt in Urlaub, treffen sich zum Grillen. Und du? Dass du dich nicht schämst, dich von deiner alten, kranken Mutter aushalten zu lassen! Zuerst dein Vater und jetzt du. Alles muss man euch waschen und bügeln, die Einkäufe nach Hause schleppen. Dieser Fernseher macht mich verrückt, ich kann nicht schlafen, die ganze Nacht hockst du davor. Was schaust du dir da eigentlich an? Dass dir das nicht langweilig wird …«
Stundenlang dieses Lamento. Schließlich kaufte er sich Kopfhörer. Das war eine Lösung – sie hörte den Fernseher nicht, er hörte sie nicht jammern.
Doch jetzt war es irgendwie zu leise in der Wohnung.
Ihr picobello hergerichtetes Zimmer mit den Häkeldeckchen, den Kommödchen und Vitrinenschränkchen füllte sich mit Verpackungen und leer gefutterten Einmachgläsern, mit seinen schmutzigen Kleidern und schließlich mit befremdlichen Gerüchen – die Bettwäsche begann zu modern, Schimmelzungen leckten an den Wänden empor. Hinter der stets geschlossenen Tür begann der Raum, den keine Frischluft mehr durchwehte, zu fermentieren.
Einmal, als er saubere Handtücher suchte, fand er im untersten Schrankfach eine weitere Batterie Weckgläser, unter einem Stapel Bettwäsche verborgen, in einige Wollknäuel geschmiegt, Partisanen gleichsam, die fünfte Kolonne an Eingemachtem. Er untersuchte die Gläser – von der Sammlung im Keller unterschieden sie sich durch ihr Alter. Die Etiketten waren schon ein wenig verblichen, die Jahre 1991 und 1992 wiederholten sich, doch gab es auch einzelne Exemplare, die noch älter waren, von 1983 etwa, von 1978. Das Glas von 78 vor allem schien die Quelle eines üblen Geruchs zu sein. Der Deckel war rostig geworden, Luft war ins Innere des Glases gedrungen, und zum Ausgleich hatte der Atem der Fäulnis den Weg ins Freie gefunden. Was immer hier eingemacht worden war, hatte sich in einen bräunlichen Batzen verwandelt. Angeekelt warf er das Glas in den Müll. Auf den anderen Etiketten fand er die bereits bekannten Aufschriften: »Kürbis in Johannisbeermus«, »Johannisbeeren in Kürbismus«. Auch ein Glas mit völlig ergrauten Cornichons war dabei. In vielen Gläsern ließ sich der Inhalt nicht mehr erkennen, allein die sorgsam beschrifteten Etiketten gaben Auskunft darüber. Fruchtgelees waren zu schwarzen Klumpen geronnen, marinierte Pilze zu einer undurchsichtig öligen Sülze verschmolzen, Pasteten zu kläglichen Häufchen verdorrt.
Die nächsten Gläser fand er im Schuhschränkchen und in dem kleinen Staufach unter der Badewanne. Auch in ihrem Nachtkästchen waren welche verborgen. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hatte seine Mutter Essen vor ihm verstecken wollen? Hatte sie diese Vorräte für sich selbst angelegt, in Erwartung des Tages, an dem er ausziehen würde? Oder war das Eingemachte eben für ihn gedacht gewesen? Nach den Gesetzen der Natur sterben Mütter schließlich meistens vor ihren Söhnen. Sollten die Weckgläser ihm die Zukunft sichern?
Mit einer Mischung aus Rührung und Ekel betrachtete er die jüngsten Funde. Und las auf einem Etikett – es stammte aus der Sammlung unter der Spüle: »Schnürnestel in Essig, 2004«.
Das hätte ihm zu denken geben müssen. Er starrte auf die braunen Bändel, die sich in der Marinade ringelten, die schwarzen Kügelchen Nelkenpfeffer. Ein Unbehagen ergriff ihn. Doch weiter nichts.
Er musste daran denken, wie sie ihn immer abgepasst hatte, wenn er die Kopfhörer abnahm und ins Bad ging. Mit rascher Bewegung trat sie aus der Küche, versperrte ihm den Weg: »Alle jungen Vögel verlassen irgendwann ihr Nest, das ist der Lauf der Dinge, die Eltern haben sich ihre Erholung verdient. Überall in der Natur ist das so. Warum quälst du mich? Du solltest schon längst deine Sachen gepackt haben, ausgezogen sein und dein eigenes Leben leben.« Das ewige Klagelied. Wenn er dann versuchte, ihr auszuweichen, fasste sie ihn am Ärmel, ihre Stimme schwang sich eine Lage höher, wurde schrill: »Ich habe mir einen ruhigen Lebensabend verdient, lass mich jetzt endlich in Frieden, ich will mich erholen!« Er aber war schon im Bad verschwunden, drehte den Schlüssel und dachte sich sein Teil.
Wenn er herauskam, wollte sie ihn noch einmal zur Rede stellen, doch weniger entschlossen schon, bald ging sie in ihr Zimmer, und er nahm sie nicht mehr wahr, bis sie am nächsten Morgen in der Küche vernehmlich klapperte, um ihm die Langschläferei zu vermiesen.
Doch weiß man auch, dass Mütter ihre Kinder lieben – dafür sind sie Mütter: um liebend zu verzeihen.
So machte er sich nicht allzu viel aus den Schnürsenkeln. Auch nicht aus dem Spülschwämmchen in Tomatensoße, das ihm im Keller in die Hände fiel. Gleichfalls gewissenhaft etikettiert: »Spülschwämmchen in Tomatensoße, 2001«. Er öffnete das Glas, um zu prüfen, ob der Inhalt der Bezeichnung entsprach – und warf das Ganze in den Müll.
Er betrachtete diese Capricen nicht als Bosheiten, die auf die Zukunft berechnet und an ihn gerichtet waren. Schließlich fand er doch wahre Delikatessen! Eines der letzten großen Einweckgläser vom obersten Regalbrett im Keller hatte die köstlichste Pökelhaxe enthalten. Und noch immer lief ihm das Wasser im Munde zusammen, wenn er an die pikant gewürzte Rote Bete dachte, die er hinter dem Vorhang in ihrem Zimmer entdeckt hatte. Innerhalb von zwei Tagen löffelte er gleich mehrere Gläser leer. Und zum Nachtisch gab es Quittengelee, das er genüsslich von den Fingern schlürfte.
Als Polen gegen England spielte, brachte er mit einem Karton die nächste Ladung aus dem Keller in die Wohnung. Stellte eine Batterie Bierdosen rings um die Gläser auf. Griff aufs Geratewohl in den Karton und futterte drauflos, ohne recht zu wissen, was er aß. Ein Glas erweckte seine Aufmerksamkeit, denn auf dem Etikett war seiner Mutter ein komischer Fehler unterlaufen: »Marinierte Piltze, 2005«. Mit der Gabel fischte er die zarten weißen Hüte heraus, und wie lebendig glitten sie durch die Speiseröhre in den Magen. Ein Tor fiel, dann ein zweites, er aß das Glas leer, ohne es recht zu bemerken.
In der Nacht wachte er auf, er musste ins Bad. Von Krämpfen geschüttelt, erbrach er sich in die Toilettenschüssel. Es war ihm, als stände sie hinter ihm und ließe wieder ihre Litanei ertönen, mit ihrer unerträglich schrillen Stimme. Dann wurde ihm bewusst, dass sie gestorben war.
Bis zum Morgen musste er sich immer wieder übergeben, eine Linderung trat nicht ein. Mit letzter Kraft telefonierte er nach einem Rettungswagen. Im Krankenhaus wollte man eine Lebertransplantation vornehmen, doch fand sich kein Spender. Wenige Tage später verstarb er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Nun allerdings ergab sich eine Schwierigkeit, denn es war niemand da, der den Toten aus der Leichenhalle abgeholt und sich um ein Begräbnis gekümmert hätte. Nach einem Aufruf der Polizei meldeten sich schließlich einige Freundinnen der Mutter, diese plumpen älteren Damen mit den phantasievollen Wollbaskenmützen. Und während sie mit ihren über dem Grab aufgespannten Knirpsen ein wunderliches Muster schufen, vollzogen sie ihr barmherziges Trauerritual.
Nähte
Es begann an einem Morgen, als Herr B., der sich eben aus dem Plumeau geschält hatte, wie üblich in sein Badezimmer tapste. In letzter Zeit schlief er schlecht, die Nacht zerfiel ihm in kleine Stücke, ganz wie die Halskette seiner verstorbenen Frau zerfallen war. In einer Schublade hatte er das Schmuckstück gefunden, er nahm es in die Hand, die brüchige Schnur zerriss, und die verblichenen Kügelchen fielen auf den Fußboden. Die meisten konnte er nicht mehr finden, und seitdem fragte er sich in den schlaflosen Nächten immer wieder, wo sie ihr rundes, gedankenloses Dasein führen mochten, in welchen Wollmäusen sie sich eingenistet hatten, welche Dielenritzen zu ihrer Lebensnische geworden waren.
Als er an jenem Morgen auf der Toilette saß, fiel ihm auf, dass seine Socken, und zwar beide, genau in der Mitte eine Naht hatten, von einer Maschine fein säuberlich gesetzt, und diese Naht verlief von den Zehen bis hinauf zum Saum.
Eine Kleinigkeit, doch irritierte es ihn. Offenbar hatte er die Socken immer achtlos angezogen und das Kuriosum nicht bemerkt. Als er seine morgendlichen Waschungen beendet hatte, tapste er zum Kleiderschrank, wo seine Socken in einer der Schubladen ihre Heimstatt hatten. Sie lagen dort als schwarzgraues Knäuel, er nahm die erstbeste heraus, zog sie auf Augenhöhe auseinander. Weil er eine schwarze erwischt hatte und weil es schummrig war im Zimmer, konnte er nicht viel erkennen. Er musste noch einmal ins Schlafzimmer gehen, um seine Brille zu holen – jetzt sah er es: Auch diese schwarze hatte eine Naht. Nun holte er alle Socken aus der Schublade, versuchte bei der Gelegenheit, sie paarweise zusammenzulegen – jede hatte eine Naht, die von den Zehen bis zum Saum verlief. Sie schien wie selbstverständlich zu ihnen zu gehören, als von der Idee der Socke nicht zu trennendes Element.
Als Erstes empfand er Wut, er wusste nicht, ob auf sich selbst oder auf die Socken. Solche hatte er noch nie gesehen! Gewöhnlich hatten sie an den Zehen eine quer verlaufende Naht, ansonsten waren sie glatt. Glatt! Er zog die schwarze Socke an – seltsam sah das aus, er warf sie angewidert von sich, zog der Reihe nach einige andere an. Bis die Kräfte ihn verließen und er außer Atem kam. Dass er es nie zuvor bemerkt hatte. Wie war das möglich gewesen?
Nein, er musste diese Sockengeschichte vergessen. So hielt er es mit vielem in der letzten Zeit. Wenn ihm etwas über den Kopf wachsen wollte, verstaute er es in einem Dachkämmerchen seines Gedächtnisses. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und so begann er mit dem verzwickten Ritual der morgendlichen Zubereitung seines Tees, dem er einige Kräuter für seine Prostata zugab. Zwei Mal seihte er den Aufguss ab, und während die Flüssigkeit in die Tasse rann, schnitt Herr B. sein Brot, bestrich zwei kleine Scheiben mit Butter. Die Erdbeermarmelade – er hatte sie selbst gemacht – war leider verdorben, ein graues Schimmelauge starrte ihn provozierend boshaft an. Also aß er das Brot nur mit Butter.
Doch ganz so leicht ließ sich die Sockenfrage nicht vergessen. Er betrachtete sie als etwas Unabänderliches – gleich einem tropfenden Wasserhahn, einem losen Knauf an einer Schranktür, einem ins Leere laufenden Reißverschluss an seiner Jacke. Es mit solchen Kalamitäten aufzunehmen überstieg seine Kräfte.
Gleich nach dem Frühstück strich er sich in der Fernsehzeitschrift an, was er heute sehen wollte. Stets war er darauf bedacht, den Tag zu füllen, nur wenige Stunden ließ er frei, in denen er Einkäufe erledigte und sein Mittagessen kochte. Im Übrigen hielt er sich selten an alle Details seiner Fernsehplanung. Oft nickte er im Sessel ein, und wenn er dann erwachte, ohne jedes Zeitgefühl, versuchte er, über die eben laufende Sendung zu erfassen, in welchem Teil des Tages er sich befand.
In dem Geschäft an der Ecke, in dem er gewöhnlich seine Einkäufe machte, arbeitete die sogenannte »Chefin«. Eine statiöse Frau mit einem sehr hellen Teint und markanten Augenbrauen, die dünn waren wie Zwirn. Als er das Brot und die Büchse Wurstaufstrich schon in seinem Beutel verstaut hatte, bat er aus einer Anwandlung heraus, wie beiläufig, noch um Socken.
»Nehmen Sie solche, die nicht spannen, ohne Gummizug«, sagte die Chefin und reichte ihm ein Paar braune, säuberlich in Zellophan verpackt.
Unbeholfen drehte Herr B. das Päckchen hin und her, in dem Bemühen, etwas zu erkennen. Die Chefin nahm ihm die Socken aus der Hand, öffnete geschickt das Zellophan. Und schon hatte sie eine der beiden Socken aufgefaltet und bot sie auf ihrer gepflegten Hand mit den hübschen künstlichen Nägeln Herrn B. zur Ansicht.
»Schauen Sie … ganz ohne Gummizug. Sie drücken nicht an der Wade, das Blut wird nicht gestaut. In Ihrem Alter …«, wollte sie fortfahren, hielt dann aber inne. Offenbar befand sie, dass es sich nicht schickte, vom Alter zu sprechen.
Herr B. beugte sich über ihre Hand, als wollte er sie küssen.
Über die Länge der Socke lief eine Naht.
»Gibt es vielleicht auch welche ohne Naht?«, fragte er, als er seine Einkäufe bezahlte.
»Wie denn … ohne Naht?«, fragte die Verkäuferin verwundert.
»Also … welche, die glatt sind … so meinte ich.«
»Sie haben Ideen! Solche Socken kann man doch gar nicht herstellen. Wie sollen die denn halten?«
Nun wollte er die Sache wirklich auf sich beruhen lassen. Älteren Menschen entgeht ja tatsächlich so manches. Die Welt ist dem Fortschritt ergeben, ständig denkt sich jemand etwas Neues aus, eine Erfindung jagt die andere. Und so hatte er ganz einfach nicht bemerkt, dass von einem bestimmten Moment an die Socken eben nicht mehr so waren wie zuvor. Vielleicht seit Langem schon? Wer weiß. Man kann sich nicht mit allem auskennen, tröstete er sich, als er nach Hause ging. Fröhlich ratterte sein Einkaufsroller hinter ihm her, die Sonne lachte, die Nachbarin von unten putzte ihre Fenster, und ihm fiel wieder ein, dass er sie hatte fragen wollen, ob sie nicht jemanden empfehlen könne, der sich seiner Fenster annähme. Er sah die Scheiben von außen, sie waren so grau wie die Gardinen. Man könnte meinen, der Eigentümer der Wohnung wäre längst verstorben. Törichte Gedanken – er verscheuchte sie, begann mit der Nachbarin zu plaudern.
Der Anblick des Frühlings und der damit verbundenen Putztätigkeit setzte sich in ihm fest mit dem diffusen Gefühl, gleichfalls etwas unternehmen zu müssen. Er stellte seine Einkäufe in der Küche ab und ging sogleich ins Zimmer seiner Frau, in dem er jetzt schlief. In seinem Zimmer hortete er alte Fernsehzeitschriften, allerlei Kartons und Schachteln, leere Joghurtbecher und was man sonst an Gegenständen sammeln konnte, die sicher später mal zu gebrauchen waren.
Er ließ seinen Blick über die immer noch weiblich anmutende Ausstattung des Zimmers gleiten. Alles war, wie es sein sollte. Die Vorhänge waren zugezogen, es herrschte Dämmerlicht, das Bett war gemacht, nur die eine Ecke des Plumeaus stand hoch. In der auf Hochglanz polierten Kredenz standen Tassen mit goldenen und dunkelblauen Mustern, kleine Kristallgläschen und ein Barometer, das sie seinerzeit von der Ostsee mitgebracht hatten. Die Aufschrift unterstrich die Herkunft: Krynica Morska. Auf dem Nachttisch lag sein Blutdruckmessgerät. Der große Kleiderschrank, der dem Bett gegenüberstand, zog ihn seit Monaten an, doch seit dem Tod seiner Frau schaute er nur selten und ungern hinein. Immer noch hing dort ihre Kleidung, so oft schon hatte er sich vorgenommen, sie wegzugeben, und es dann doch nicht übers Herz gebracht. Nun kam ihm ein kühner Gedanke – wenn er die Sachen der Nachbarin von unten schenkte? Bei der Gelegenheit könnte er sie wegen der Fenster fragen.
Mittags machte er sich eine Spargelsuppe aus der Tüte, sie schmeckte richtig gut. Als Hauptgericht aß er die jungen Kartoffeln, die vom Vortag übrig geblieben waren, trank Kefir dazu. Nach dem Nickerchen, das stets auf das Mittagessen folgte, ging Herr B. in sein Zimmer und räumte in zwei eifrigen Stunden die Fernsehzeitschriften auf, die er hier Woche um Woche angehäuft hatte – fünfzig Stück im Jahr, an die vierhundert Nummern waren es, in mehreren, verschieden großen, eingestaubten Stapeln. Sie wegzuwerfen hatte symbolische Bedeutung. Herr B. hatte die Hoffnung, es ließe sich auf diese Weise der Beginn des Jahres – denn das Jahr begann im Frühling und nicht zu einem festgesetzten Kalenderdatum – mit einem reinigenden Akt begehen, vergleichbar einem rituellen Bad. Er schaffte es, alle Zeitschriften nach unten zu tragen und in den gelben Müllcontainer mit der Aufschrift »Papier« zu werfen. Dann packte ihn auf einmal Panik – er warf einen Teil seines Lebens fort, amputierte sich ein Stück seiner Zeit, seiner Vergangenheit. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, schaute verzweifelt in den Container, versuchte, seine Zeitschriften auszumachen. Sie waren schon entglitten in den dunklen Schlund. Im Treppenhaus schluchzte er einmal schamvoll auf; ihm wurde schwindlig, ein Zeichen, dass sein Blutdruck stieg.
Als er sich am nächsten Morgen nach dem Frühstück hinsetzte, um wie üblich die Sendungen anzustreichen, die er für lohnend hielt, irritierte ihn der Kugelschreiber. Die Linie, die er auf dem Papier hinterließ, war hässlich braun. Zuerst dachte er, es läge am Papier, nahm sich eine andere Zeitschrift, zeichnete aufgebracht Kringel am Rand der Seite – sie waren ebenfalls braun. Mit der Tinte im Kugelschreiber musste etwas vor sich gegangen sein. Weil sie alt war oder aus welchen Gründen auch immer. Verärgert darüber, dass er sein Lieblingsritual unterbrechen musste, um ein anderes Schreibgerät zu suchen, tapste er an die auf Hochglanz polierte Kredenz, in der er und seine Frau ihr gemeinsames Leben lang Kugelschreiber gesammelt hatten. Unzählige Stifte lagen dort, einige waren freilich nicht mehr zu gebrauchen; mal war die Tinte eingetrocknet, mal die Mine verstopft. Eine Weile wühlte er in der Fülle herum, nahm dann zwei Hände voll heraus und kehrte zu seiner Zeitschrift zurück, in der Hoffnung, einen Kugelschreiber zu finden, der so schriebe, wie er sollte: blau oder schwarz, zur Not rot oder grün. Doch alle hinterließen diese widerliche bräunliche Spur, die an modrige Blätter denken ließ, an Bohnerwachs, an feuchten Rost – ein Farbton, von dem einem übel wurde.
Der alte Herr B. saß eine Weile bewegungslos da, nur seine Hände zitterten leicht, dann erhob er sich so heftig, dass die Stuhlbeine gegen den Boden schlugen, und öffnete das Klappfach in der altgedienten Schrankwand. Hier bewahrte er seine Dokumente auf. Er nahm sich den erstbesten Brief. Und legte ihn gleich wieder zurück. Sowohl dieser Brief als auch die folgenden Papiere – Rechnungen, Mahnungen, Kontoauszüge – waren Computerausdrucke. Erst von ganz unten konnte er ein handschriftlich adressiertes Kuvert hervorziehen. Um resigniert die Farbe der Tinte zu erkennen: braun.
Er setzte sich in seinen geliebten Fernsehsessel, streckte die Beine aus, saß reglos da. Atmete ein, atmete aus. Starrte auf das gleichgültige Weiß der Zimmerdecke. Nach einer Weile erst gingen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf, die er hierhin drehte, dorthin drehte, um sie wieder zu verwerfen:
Dass in der Kugelschreibertinte eine Substanz enthalten wäre, die mit der Zeit ihre Eigenschaften verändern und diesen Wandel der Farbe ins Bräunliche bewirken würde.
Dass ein neu aufgetretener Giftstoff in der Luft diesen Wandel der Farbe ausgelöst hätte.
Dass die Ursache in einer Veränderung seines Gelben Flecks zu suchen wäre oder dass er am Grauen Star litte und deshalb die Farben anders wahrnähme als bisher.
Die Zimmerdecke aber war nach wie vor weiß. Der alte Herr B. erhob sich und fuhr mit der Markierung der Fernsehsendungen fort – in welcher Farbe auch immer. Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs. Und ein Film über Bienen auf Planete+. Der ihn daran erinnerte, dass er einst einen Bienenstock hatte haben wollen.
Als Nächstes dann die Briefmarken. Eines Tages zog er seine Post aus dem Kasten und erstarrte – die Marken waren alle rund. Mit gezackten Rändern, vielfarbig, in der Größe einer Ein-Złoty-Münze. Ein Hitzeschauer überlief ihn. Ohne Rücksicht auf sein schmerzendes Knie hastete er die Stufen hinauf, öffnete die Wohnungstür, eilte, ohne die Schuhe auszuziehen, ins Wohnzimmer. Öffnete das Klappfach in der Schrankwand. Alles begann sich zu drehen – sämtliche Briefmarken auf den Umschlägen waren rund. Auch die älteren.
Er sank in den Sessel, wühlte in seinem Gedächtnis, versuchte, sich die eine, gültige Form einer Briefmarke in Erinnerung zu rufen. Er war doch nicht verrückt geworden! Diese runden Briefmarken erschienen ihm doch nicht ohne Grund absurd? Oder hatte er sie bisher nicht genügend beachtet? Der süßliche Geschmack des Klebefalzes an der Zunge, die dreieckige Lasche, die man fest aufdrückte, damit sie haften blieb … Früher waren die Briefe noch dick gewesen, richtig bauchige Kuverts. Und die Umschläge waren blau, man fuhr mit der Zunge über den Streifen mit dem Klebstoff, drückte mit den Fingern die Lasche zu, und … ja, die Marken waren rechteckig gewesen! Kein Zweifel. Rechteckig. Und jetzt waren sie rund! Wie konnte das sein? Er verbarg sein Gesicht in den Händen, saß eine ganze Weile so da. In der besänftigenden Leere unter den geschlossenen Lidern. Die immer dort zu finden war. Dann ging er in die Küche, um seine Einkäufe auszupacken.
Die Nachbarin nahm das Geschenk eher reserviert entgegen. Betrachtete mit einer Spur von Misstrauen die sorgfältig zusammengelegten Seidenblusen und Pullover in dem Karton. Doch konnte sie auch den Funken Begehrlichkeit in ihrem Blick nicht verbergen, als sie den Pelz entdeckte. Herr B. hängte ihn an die Tür.
Als sie dann am Tisch saßen und beide ein Stück Kuchen gegessen hatten, wozu sie Tee tranken, fasste sich Herr B. ein Herz:
»Pani Stasia«, begann er mit dramatisch gedämpfter Stimme.
Die Nachbarin hob den Blick, betrachtete ihn neugierig. Ihre lebhaften braunen Augen versanken im Geflecht der Falten.
»Pani Stasia, etwas ist da seltsam. Sagen Sie mir – haben Socken eine Naht? Eine, die über die ganze Länge läuft?«
Die Frage kam überraschend. Die Nachbarin rutschte ein Stück auf ihrem Stuhl zurück.
»Aber wie meinen Sie das, mein Lieber? Ob sie eine Naht haben? Natürlich haben sie eine Naht.«
»Und die war schon immer da?«
»Wie meinen Sie das … ob die schon immer da war? … Aber sicher.«
Mit fahriger Bewegung wischte sie Krümel in die Hand, strich das Tischtuch glatt.
»Und … Pani Stasia … in welcher Farbe schreiben Kugelschreiber?«
Ehe sie hätte antworten können, fügte er schon ungeduldig hinzu:
»Blau, nicht wahr? Seit es Kugelschreiber gibt, schreiben sie blau …«
Das Lächeln in den faltigen Gesichtszügen der Nachbarin erlosch.
»Sie müssen sich nicht aufregen … Es gibt auch rote oder grüne.«
»Ja, ja … aber gewöhnlich schreiben sie doch blau, oder?«
»Vielleicht ein kleines Schlückchen? Etwas zur Stärkung? Ich habe einen guten Aufgesetzten.«
Er wollte schon ablehnen, er durfte keinen Alkohol trinken, doch befand er, dass die Situation außergewöhnlich genug war. Und er nickte.
Die Nachbarin wandte sich der Schrankwand zu, öffnete das Klappfach, nahm eine Flasche heraus. Behutsam goss sie zwei Gläschen voll. Ihre Hände zitterten leicht. Alles in diesem Zimmer war weiß und himmelblau. Die Tapete hatte hellblaue Streifen, auf dem Sofa lag ein weißer Überwurf, darauf hellblaue Kissen. Auf dem Tisch stand ein Strauß mit künstlichen Blumen – weiß und himmelblau. Der starke Likör entfaltete im Mund seine Süße, zog die heiklen Worte in die Tiefe des Körpers hinab.
»Sagen Sie mir«, begann er behutsam, »haben Sie nicht das Gefühl, dass die Welt eine andere geworden ist? Dass sie sich …«, er suchte die passenden Worte, »… dass sie sich nicht mehr fassen lässt?«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.